«Ich suche immer den Abgrund»

Es ist ein minimalistischer grauer Saal, in dem sich das Publikum am Samstagabend im Landesmuseum versammelt, um mehr über Chris Kraus‘ zweiten Roman «Das kalte Blut» zu erfahren. Unter der Moderation von Philipp Theisohn gibt Kraus Einblicke in das umfangreiche Werk. Auf mehr als 1000 Seiten wird die Geschichte der Rigaer Brüder Hubert und Konstantin geschildert, die zunächst im nationalsozialistischen Deutschland und später beim deutschen Bundesnachrichtendienst Karriere machen. «Mein eigentlicher Anspruch war, die Geschichte des Bundesnachrichtendienstes zu erzählen», erklärt Kraus.

Für den Roman habe er sich dabei stark an der eigenen Familiengeschichte orientiert. Kraus, dessen Grossvater beim Geheimdienst arbeitete, will hinter die Fassade blicken: «Was sind das für Menschen?» Daher konstruiert er seine Romancharaktere als ambivalente Figuren, die mal Opfer, mal Täter sind. «Ich suche hinter den Figuren immer die Abgründe.»

Vordergründig gibt sich das Buch als Agentenroman aus. Tatsächlich dreht es sich aber um alle möglichen Versionen der Täuschung und geht der Frage nach, wie Vertrauen zerstört wird. Natürlich folgt die Verdichtung der Lebensläufe den Regeln der Fiktion, aber «alle Situationen, die im Buch beschrieben werden, sind mehr oder weniger so passiert», versichert Kraus.

Manchmal fällt es gleichwohl schwer, dem Autor in sein Romanuniversum zu folgen. Kraus kennt sich mit seiner Materie aus, aber das Publikum verliert hin und wieder den Faden, wenn er ambitioniert historische und familiäre Zusammenhänge zu erklären versucht. Den Kopf schwer von Gedanken verlässt man im Anschluss an die Lesung den Saal.

Für uns bei «Zürich liest»:
Theresa Pyritz

Theresa Pyritz ist seit Kurzem in der Schweiz zuhause und freut sich darauf, dass Zürich liest. Auf ihrer Agenda stehen unter anderem die Zusammenstellung der Top-100-Buchcharts und ein musikalisch inszenierter Mord. Ausserdem ist sie dabei, wenn Chris Kraus «Das kalte Blut» präsentiert und das Autorenkollektiv AJAR eine zweisprachige Performance abliefert.