«Ich suche immer den Abgrund»

Es ist ein minimalistischer grauer Saal, in dem sich das Publikum am Samstagabend im Landesmuseum versammelt, um mehr über Chris Kraus‘ zweiten Roman «Das kalte Blut» zu erfahren. Unter der Moderation von Philipp Theisohn gibt Kraus Einblicke in das umfangreiche Werk. Auf mehr als 1000 Seiten wird die Geschichte der Rigaer Brüder Hubert und Konstantin geschildert, die zunächst im nationalsozialistischen Deutschland und später beim deutschen Bundesnachrichtendienst Karriere machen. «Mein eigentlicher Anspruch war, die Geschichte des Bundesnachrichtendienstes zu erzählen», erklärt Kraus.

Für den Roman habe er sich dabei stark an der eigenen Familiengeschichte orientiert. Kraus, dessen Grossvater beim Geheimdienst arbeitete, will hinter die Fassade blicken: «Was sind das für Menschen?» Daher konstruiert er seine Romancharaktere als ambivalente Figuren, die mal Opfer, mal Täter sind. «Ich suche hinter den Figuren immer die Abgründe.»

Vordergründig gibt sich das Buch als Agentenroman aus. Tatsächlich dreht es sich aber um alle möglichen Versionen der Täuschung und geht der Frage nach, wie Vertrauen zerstört wird. Natürlich folgt die Verdichtung der Lebensläufe den Regeln der Fiktion, aber «alle Situationen, die im Buch beschrieben werden, sind mehr oder weniger so passiert», versichert Kraus.

Manchmal fällt es gleichwohl schwer, dem Autor in sein Romanuniversum zu folgen. Kraus kennt sich mit seiner Materie aus, aber das Publikum verliert hin und wieder den Faden, wenn er ambitioniert historische und familiäre Zusammenhänge zu erklären versucht. Den Kopf schwer von Gedanken verlässt man im Anschluss an die Lesung den Saal.

Mut zu Wahrheit und Tat – ein Portrait und Aufruf

Franziska Greising, die am Samstagabend in der Buchhandlung Beer zu Gast war, schreibt am liebsten über grosse Frauengestalten. So handelt ihr letztes Buch vom Leben Rösli (Rose) Näfs, oder, genauer gesagt: von vier Jahren dieses Lebens.

Rose kam ursprünglich aus dem Glarnerland. Da ihre Eltern wenig Geld hatten, verdingte sie sich als Aupair in Lugano, London und Genf und lernte so nebenbei Fremdsprachen. Als sie einen Bericht der SAG über die Judenverfolgung in Deutschland und Frankreich las, meldete sie sich sogleich zum Freiwilligendienst und wurde Leiterin eines Heimes mit 100 jüdischen Flüchtlingskindern im Süden Frankreichs. Als beinahe die Hälfte der Kinder, alle über 16 Jahre, verhaftet und ins Internierungslager nach Le Vernet gebracht wurden, war sie die einzige Fürsprecherin der Kinder. Das Rote Kreuz, als Organisation der das Kinderheim angehörte, und die Schweiz versagten ihr jegliche Un

Franziska Greising im Gespräch

terstützung. Da sie das Vertrauen in ihre Arbeitgeber verloren hatte, widersetzte sie sich deren Anweisungen und suchte Hilfe bei der Résistance. Der Polizeiminister von Vichy half ihr, die Kinder in letzter Minute aus dem Lager zu befreien. In Nacht- und Nebelaktionen und grüppchenweise schickte sie die Kinder in Richtung Genf. Die meisten von ihnen konnten die Grenze überqueren und fanden Zuflucht bei den von der SAG vermittelten Patenschaften. Viele von ihnen reisten weiter nach (damals) Palästina oder Amerika. Unter denjenigen, welche die traumatischen Erlebnisse verarbeiten konnten, nahmen sich nicht wenige jedoch später das Leben.

Greisings Buch widmet sich ganz dem eindrücklichen Mut und der aufopfernden Handlungsweise Rose Näfs. Wenn ihr Schreibstil sich auch sehr detailreich und dadurch auch etwas langatmig ausnimmt, so sorgte die Grundthematik jedoch für eine fesselnde Lesung, was durch die sich anschliessende lebhafte Frage- und Austauschrunde dokumentiert wurde. Viele Besucher konnten an Erzählungen ihrer Grosseltern anknüpfen; insbesondere die Rolle des Roten Kreuzes und der offiziellen Schweiz gab Anlass zu Diskussionen, aber auch der Aktivdienst an der Grenze für alle wehrtauglichen Männer.

Vieles von dem, was heute anklang, ist noch nicht aufgearbeitet und richtiggestellt, wird tabuisiert und totgeschwiegen, obgleich die Spuren der Schuld und die Traumata heute immer noch sichtbar sind. Dank Autorinnen wie Franziska Greising bleiben diese Missstände als solche jedoch in der Debatte. Bleibt zu hoffen, dass die Schweiz ebenfalls Mut zeigt und Verantwortung für ihre vergangenen, oder eben unterlassenen Taten übernimmt.

Thriller goes Tram. Mit den «Sisters in Crime» durch Zürich

Als ich zehn Minuten vor Lesungsbeginn das Cobratram am Bellevue betrete, ist der erste Eindruck schlimmer als bei einem blutrünstigen Krimi: Feierabendverkehr! Und das am Sonntagmittag kurz vor 12 Uhr. Und selbst im Krimitram, in dem die Zürcher «Sisters in Crime», Petra Ivanov und Mitra Devi, ihren gemeinsam verfassten Thriller «Schockfrost» präsentieren, werden die wenigen leeren Sitze von ziemlich grossen Handtaschen beansprucht. Ich ergattere einen der letzten Plätze, sogar einen mit ordentlich Beinfreiheit, dafür aber mit dem Rücken zu den Lesenden.

Mich die ganze Zeit umzudrehen war dann doch zu mühsam, und so konnte ich die vorbeiziehende Innenstadt geniessen, während Devi nach der kurzen Anmoderation direkt zu lesen begann. Meine Sitzposition eröffnete mir immerhin, was den meisten anderen Zuhörern verborgen blieb: Unser Tram wurde, zumindest auf den ersten paar Metern, von einer Streife der Stadtpolizei Zürich eskortiert. Der Krimi-Mittag konnte beginnen.

Devi und Ivanov lasen abwechselnd Passagen aus ihrem Buch. Am Anfang war das etwas verwirrend und zusammenhangslos, doch Schritt für Schritt wurden die präsentierten Figuren in einen Kontext gestellt. Zwischen den Passagen erörterten die beiden Autorinnen immer wieder den Rahmen ihres Thrillers und zogen die nötigen Verbindungen zwischen den vorgestellten Figuren. So hatten wir etwa zur Hälfte der Lesung, beim Bahnhof Altstetten, langsam aber sicher ein Bild davon, was uns bei «Schockfrost» erwartet.

Während Devi beim Vorlesen eine unheimliche Stimmung heraufbeschwört, ist Ivanov das Gegenteil. Sie liest ruhig und langsam und schafft so einen Gegenpol zu Devi. Am besten kommt diese Kombination zur Geltung, als die beiden gegen Ende zusammen lesen: Ivanov übernimmt die direkte Rede der Psychiaterin Sarah, während Devi die Erzählinstanz und Sarahs Patienten Georg liest. Als dem unter Verfolgungswahn leidenden Georg während seiner Sitzung bei Sarah ein Küchenmesser aus der Jacke fällt, hält Ivanov inne. Sie klärt die Fahrgäste auf, dass die Kapitel eines Thrillers eigentlich immer mit einem Cliffhanger enden, so wie dieses hier. Ausnahmsweise würden sie heute und nur für uns noch eine Szene mehr lesen.

Doch die Freude über diese Grosszügigkeit ist nur von kurzer Dauer: Auch die nächste Szene endet mit einem mindestens so grossen Cliffhanger. Ivanov grinst verschmitzt und meint lediglich, dass sie ewig so weitermachen könnte. Überraschend war dann auch, dass die beiden Autorinnen, die bekannt für ihre Zürcher Krimis sind, den mobilen Lesungsort entgegen meinen Erwartungen nicht ausgenutzt haben. Die erzählten Passagen spielten irgendwo im Nirgendwo, während draussen die bekannteren Ecken Zürichs in voller Pracht erstrahlten. Trotzdem hat die Lesung Lust auf das Buch gemacht, doch das eigentliche Highlight folgte erst noch: Die beiden Autorinnen erörterten abschliessend noch, wie es ist, gemeinsam ein Buch zu schreiben.

Ivanov und Devi arbeiten schon lange zusammen. Bis anhin haben sie aber nur ihre Texte gegenseitig Korrektur gelesen. Der gemeinsame Thriller war ein Experiment, bei dem man sich alles andere als sicher war, ob das funktionieren kann. Während Devi Storyboards zu ihren Geschichten verfasst und alles genauestens plant, schreibt Ivanov lieber einfach mal drauf los und schaut dann, wie sich ihre Figuren entwickeln. Zu Beginn hat sich Ivanov durchgesetzt und sie haben einfach einmal drauf los geschrieben. Das hat einige Kapitel gut geklappt, doch dann musste für Devi ein Minimum an Planung her.

Das Wichtigste war den beiden, dass man am Ende nicht erkennen konnte, wer was geschrieben hat. Devi erklärte, sie hätte beim Überarbeiten die Teile Ivanovs «devisiert», während diese ihre Teile wiederum «ivanovisiert» hat. Das scheint funktioniert zu haben. Ihre Testleser, welche die Texte beider Autorinnen gut kennen, hätten nicht mehr herauslesen können, wer was geschrieben hatte.

Mühe hat den beiden Krimiexpertinnen dann noch der Schluss bereitet, denn sie hätten sich erst nicht darauf einigen können, wer sterben soll. Laut Ivanov sei dieses Sterben aber schliesslich doch sehr organisch passiert. Diese Aussage bringt das Publikum bereits zum Schmunzeln, doch Devi setzt noch einen drauf. Sie werden vielleicht wieder einmal zusammen ein Buch schreiben, meint sie, doch es werde ziemlich sicher keine Fortsetzung sein. Das wäre schwierig, denn dafür hätten zu viele Figuren den «Schockfrost» nicht überlebt.

Der Autor ist unsichtbar

«Polonaise» nennt sich die Tanzpraxis, der man sich bedient, um uns in einen völlig verdunkelten Raum zu führen. Das Personal der Blinden Kuh geleitet zu unsichtbaren Tischen, serviert einen kleinen Apéro und steht mit Rat und Tat zur Seite, um sich in diesem verfremdeten epistemischen Zustand zurecht zu finden. Der Raum klingt nicht sehr gross, das Publikum riecht gespannt und das Porzellan in den Händen fühlt sich glatt und weiss an. Man wartet auf Michael Fehr, der hier in der Finsternis bald einige seiner Geschichten aus dem kürzlich erschienenen Band Glanz und Schatten lesen wird – so behauptet man zumindest. Ob der Autor wirklich da ist, bleibt im Dunkeln.

Wie kaum ein anderer erkämpft sich der Berner Autor mit seiner eindringlichen Stimme Präsenz in seinen Texten. Man kennt ihn als den Künstler, der in persona für sein Wort einsteht, umso irritierender ist es, wenn dieser Performer bei seinem Auftritt unsichtbar bleibt. Allerdings macht er das auch nicht zum ersten Mal.

Michael Fehr beim Auftritt (für höhere Auflösung, Augen schliessen)

Eigentlich arbeite er oft mit Gesten und Mimik, wird er uns später in einem kurzen Gespräch erklären, Ausdrucksmöglichkeiten, die im Dunkeln entfallen, alles bliebe an der Stimme zu sagen. Seine letzte Geschichte beendet er sogar mit dem Hinweis, dass er die Arme zu einer beglückwünschenden Geste ausgebreitet habe – natürlich nicht ohne ein unübersehbares ironisches Augenzwinkern.

Wieder einmal beweist ein «Spoken-word»-Künstler, wie unscheinbar und ausdruckslos Wortwiederholungen sind, wenn sie tot auf dem Papier liegen bleiben. Es pulsiert, es lebt. Es ist eine Interaktion mit dem Hörer. Wer Michael Fehrs Texte kennt, dem fällt auf, dass sich der Autor nicht immer ganz an sein Gedrucktes hält. Er ertastet, was in welchem Publikum funktioniert. Da wird eine Phrase wiederholt, die der Text alleine stehen lässt und auch die Mücken in «Im Schwarm» haben heute öfters zugestochen als auch schon.

«Keyboard Cat» ist tot. Es lebe die Schadenfreude

Youtube hätte so viel zu bieten: Politische Videos, Raum zum Experimentieren für neue journalistische Formate, Vlogs, How-Tos, wirklich abgefahren merkwürdige Beiträge, Kurzfilme, Serien – die Liste könnte noch ewig weitergehen. Aber.

Der Veranstaltungstitel «NZZ Folio durchforstet Youtube» war jedenfalls denkbar schlecht gewählt. Die Redaktion hat sich entschieden, zwei Themenbereiche abzudecken und dazu je eine Reportage vorzulesen; meine Hoffnung auf eine Vielfalt von Videos aus verschiedensten Sparten wurde sofort enttäuscht. Insbesondere, als klar wurde, womit es losgeht. Eine halbe Stunde lang Katzenvideos, gleich zu Beginn! Wenn man schon beim erstbesten Baum des Waldes Halt macht, kann von durchforsten ja nicht wirklich die Rede sein. Bis man «Grumpy Cat» oder «Keyboard Cat» findet, muss man nun wirklich nicht weit graben. Zugegeben, die Videos dienten eigentlich nur der visuellen Untermalung einer Reportage, die sich in einiger Tiefe mit diesem Urphänomen auf YouTube auseinandersetzt, und die ein paar Informationen zutage führte, die dem im Durchschnitt deutlich über 50-jährigen Publikum noch unbekannt gewesen sein mögen. Beispielsweise wurde berichtet, dass kurioserweise die meisten Onlinekatzen, die sich grosser Popularität erfreuen, unter Krankheiten leiden, die ihr Aussehen besonders drollig erscheinen lassen, oder die dazu führen, dass die armen Tierchen nicht einfach weglaufen, wenn man sie zwecks einer besonders niedlichen Filmaufnahme an irgendeinen lächerlichen Ort setzt. Oder dass die berühmtesten Katzen locker auf eine Milliarde Klicks kommen, eine riesige Fangemeinschaft haben und darum auf einen Manager und auf bis zu vier – menschliche – Bodyguards und ein – tierisches – Stand-in bei Drehs angewiesen sind.

Der zweite, leider kürzere Abschnitt der nur knapp stündigen Veranstaltung widmet sich dann zum Glück einem interessanteren Themenbereich: der Wissenschaft. Speziell einem ganz neuen wissenschaftlichen Ansatz, der das ursprüngliche Konzept hinter Youtube (Unterhaltung) raffiniert unterläuft und die Videos als eine Art Crowdsource-Datenquelle nutzt. So wird zum Beispiel eine Serie von Videos von Menschen, die auf der Strasse hinfallen – «Old people falling» des Users multifanboy101 – neu von Gerontologen genutzt, um festzustellen, ob bei den Fallenden erkannt werden kann, dass ihre geistige Gesundheit beeinträchtigt ist, ob sie verwirrt wirken, oder ob sie von der Strasse abgelenkt waren. Oder – der Reporter verzieht beim Vorlesen keine Miene – die Studie über «The Hydrodynamics of Defecation», die ein universelles mathematisches Modell des Stuhlgangs entworfen hat, aufgrund dutzender Videos von kackenden Tieren auf Youtube.

Zwei typisch menschliche Verhaltensweisen, die Schadenfreude und das Gaffertum, die durch die Möglichkeit, via YouTube schnell Videomaterial zu verbreiten noch einmal massiv an Fahrt gewonnen haben, können durch diesen neuen Zugang nun auch produktiv genutzt werden. Darüber würde man gern noch mehr erfahren.

Die Veranstaltung hat nicht eingehalten, was sie im Programm versprach (auch der Leiter des NZZ Folio sprach noch bei der Anmoderation zunächst noch von einem «gemütlichen Videonachmittag»), aber ein bisschen wohlverpackter Fäkalhumor kann auch der grimmigsten Katze doch noch ein Lächeln aufs Gesicht zaubern.

Die erfundene Minderheit

Wo geht’s denn hier zum Literaturhaus? «Nie gehört. Aber ich finde es schön, dass es so etwas gibt.» Na das finde ich doch auch, und schliesslich auch in die Lesung von Sten Nadolny. Als «nicht nur Autor der Entdeckung der Langsamkeit», stellt Christine Lötscher den stattlichen älteren Herrn vor, der ins ebenfalls stattliche ältere Publikum zwinkert. Nadolny – das sei einer, der in seinem Werk konsequent die Spielarten des Unmöglichen erkunde, und auch in seinem aktuellen Briefroman Das Glück des Zauberers verkleide sich in verspielten Konstruktionen ein Plädoyer für Fantasie. Um missliebigen Interpretationen vorzugreifen, etwa als literarische Antwort auf Harry Potter, setzt der Autor hinzu: Seine Zauberer seien als erfundene Minderheit zu verstehen, deren Perspektive die distanzierte und analytische Erzählung mancher Kerngeschehnisse des 20. Jahrhunderts ermögliche. Bevor er anfängt zu lesen, wünscht er dem Publikum, es möge nicht unter seinem Husten leiden. «Ich leide überhaupt nicht, ich hab ja meinen Text», versichert er so verschnupft wie vergnügt.

Und von was erzählt dieser Text nun? Zauberer Paroc, 106 Jahre alt, schreibt Briefe an seine kleine Enkelin, die ihr magisches Erbe soeben angetreten hat, indem sie mit verlängertem Ärmchen dem Grosspapa die Brille von der Nase wischt. Was die Briefe enthalten, ist eine plauderlustige Melange aus eigenem Lebenslauf als Sohn einer Indianerin und eines Berliner Tanzschulbetreibers, Kommentaren zu politischen Umwälzungen und kulturellen Neuerungen aus Sicht der Zaubergemeinschaft sowie Unterweisung in den magischen Künsten, wozu in weiterem Sinne auch die Liebe gehört. Nützlich werden diese Fähigkeiten etwa beim schriftlichen Griechisch-Abitur, aber auch Gedankenlesen, Fliegen oder Gestaltwechseln kann Paroc, und mit über vierzig Jahren lernt er eine spezielle Art des Zauberns schätzen: «im Nu Geld zu machen».

Verblüffend sind vor allem die fliegenden Wechsel zwischen humoristischem Fabulieren und Passagen, die im Betroffenheitsmodus daherziehen, vorzugsweise wenn Paroc vor der Jahrhundertmitte in die Gesellschaft wutgeladener Männer gerät, die von der «Schmach der Väter», Gleichschaltung und Endsieg faseln. Nur an der Front ist Paroc letztlich sicher vor Spitzeln. «Das habe ich deswegen gemacht, damit alles, was es an Schrecklichem im 20. Jhd. gab, tatsächlich vorkommt.» Und tatsächlich erschöpfen sich die tiefgreifenden Kriegsereignisse auch in ihrer Eigenschaft als Vorkommnis; Nadolnys Schilderung entbehrt der erschütternden Tragikomik eines Hašek – sein Paroc ist kein braver Soldat Schwejk. Vorgetragen wird das alles mit der gemütlich-markanten Stimme eines Käpt’n Blaubärs, die, bedächtig und gleichmütig, auch während Sentenzen wie «Wer aus Liebe schummelt, liebt wirklich» oder «Bleibe frech und nach Möglichkeit amüsiert» auf Tiefsinn pocht.

Paroc als Figur verbandelt fidelen Humor und schmerzlichen Ernst zu einem seltsam kompakten Weltbild, dessen schlichte Parameter die Willkür als zivilisatorische Errungenschaft heiligen – da hat die Vorliebe für Bach spontan universale Bedeutsamkeit, frei nach Pep Guardiola: «Bach oder nix!» Paroc bleibt dabei stets und selbstverständlich auf der Seite des Guten: Im Zweiten Weltkrieg bedroht und verfolgt, kümmert er sich später um ungarische Refugees oder fungiert als Fluchthelfer in der DDR.

Heute abend wird man von jeglicher Anstrengung entbunden. Fragen, die man sich als artige Germanistin verkneift, etwa nach autobiographischen Zügen des Ich-Erzählers, werden einem von Loetscher flugs abgenommen. Paroc habe viele Dinge nicht verstanden, so Nadolny, und zufälligerweise seien es genau die von ihm selbst nie verstandenen. «Das macht das Buch sicher interessant», folgert er trocken. Zaubern als Parabel auf das Schreiben? Auch in diesem Punkt müssen wir nicht lange mutmassen. Nein, Zauberer als geistig bewegliche Menschen, und somit bekanntlich immer in der Minderheit, sollen Geheimnisse haben dürfen, unbehelligt von Überwachung und staatlicher Überregulierung. Das Gefühl, den grossen Zusammenhängen auf der Spur zu sein, so der Autor, treibe diese intelligenten, kreativen und einfallsreichen Individuen an. Das Schmunzeln der Zuschauer legt nahe, dass sie sich nur allzu gerne als solche verstehen.

«Merci, Herr Honegger, aber Zürich ist leider schon übermöbliert»

Freundschaft ist für Gottfried Honegger, wenn man sich geistig nackt gegenübersteht. Das verrät er Ruedi Christen in einem Interview. Als wirklichen Freund nannte er einzig Max Frisch. Ob Christen diesen Status bei Honegger ebenfalls erreichen konnte, war für ihn bis zum Ende nicht ganz klar. Seit 1993 führte Christen mit diesem zahlreiche Gespräche und Interviews und veröffentlichte im September dieses Jahres «Eine Biographie in Gesprächen» über den Künstler und Grafiker. Das Buch wäre pünktlich zu dessen 100. Geburtstag erschienen, wäre Honegger nicht im Januar 2016 verstorben.

Christen hat vieles zu erzählen über Gottfried Honegger, den international bekannten Vertreter der Konkreten Kunst mit Zürcher Wurzeln. Er holte die Gruppe der «Zürich liest»-Gäste beim Karl der Grosse ab und führte sie 200 Meter weiter zur Kirchgasse 50. Kurz nach dem Krieg ist Honegger mit seiner Frau Warja Lavater und ihren zwei Töchtern in das Haus des Deutschen Generalkonsulats eingezogen. Sie bewohnten eine wunderschöne grosse Wohnung und führten im selben Haus ein Grafik-Atelier mit zwei Angestellten. Honegger und Lavater kannten sich aus ihrer Zeit beim Basler Grafiker Hermann Eidenbenz. Sie waren zuerst Geschäftspartner und wurden dann ein Liebespaar. Christen erzählte, dass Lavater und Honegger sich aus eher praktischen Gründen für eine Heirat entschieden haben. Während des Krieges wurde der Briefverkehr auf Ehepartner beschränkt. Da die beiden auch während Honeggers Zeit im Militär in Kontakt bleiben wollten, heirateten sie kurzentschlossen. An einem ganz normalen Tag, am Morgen noch gearbeitet, ging es am Nachmittag schnell zum Standesamt.

Ruedi Christen

Honegger war mittlerweile ein erfolgreicher Grafiker und Ausstellungsmacher geworden. Er hatte sich abgefunden, dass er sein Geld als Werbegrafiker verdiente. Bis zu dem Tag im Juni 1958, der einige Veränderungen mit sich brachte. Er realisierte, dass er niemals Maler würde, wenn er nicht sofort sein Atelier und seine Anstellung kündigte und auch als Künstler lebte. Noch am gleichen Tag setzte er sein Kündigungsschreiben auf und stellte seine Angestellten frei. Ihren Lohn erhielten diese weiterhin regelmässig bis zum Ende des Jahres. Es war ein Schock für die Familie. Honegger verkaufte alle teuren Möbel, selbst das Spielzeug der Kinder. Sie zogen in eine bescheidenere 3-Zimmerwohnung an der Feldeggstrasse. Nicht nur seine Familie reagierte mit Unverständnis, auch seine ehemaligen Arbeitskollegen und Freunde. Viele Freundschaften gingen in dieser Zeit zu Bruch.

Das ehemalige Restaurant Schifflände

Christen führte seine spazierenden Zuhörer wieder zurück, am «Karl der Grosse» vorbei, zum Hechtplatz, dem zweiten wichtigen Schauplatz. Dort befindet sich am Eck das ehemalige Restaurant Schifflände, in welchem sich damals der von Honegger ins Leben gerufenen «Club zur Schifflände» eingenistet hatte. Der Club entstand aus dem Bedürfnis, einen Ort für die Intellektuellen der Stadt zu schaffen, die sich nach dem Krieg aus den Augen verloren hatten. Es gab sie bereits, die Treffpunkte der Intelligenzija: das Odeon, das Terrasse, die Kronenhalle. Der «Club zur Schifflände» wollte aber noch exklusiver sein. Jedes Mitglied musste einstimmig angenommen werden und bezahlte einen Mitgliederbeitrag von 1’000 Franken. Zu den ausgewählten Mitgliedern gehörten u.a. Max Frisch, Paul Lose, Arnold Kübler, Emil Oprecht und Friedrich Dürrenmatt. Besonders betonte Christen die Rolle des Professors Etienne Grandjean, der die Verbindung zur ETH herstellte. Honegger war es wichtig für einen reichhaltigen Austausch nicht nur Künstler, sondern auch Forscher unter den Mitgliedern zu haben.

Seine künstlerische Leistung wurde 1987 mit dem Zürcher Kunstpreis ausgezeichnet. Zum Dank wollte Honegger der Stadt eine Skulptur schenken. Diese lehnte das grosszügige Geschenk ab mit der Begründung, die Stadt sei bereits übermöbliert. Dass er nicht befragt wurde, wenn es um die bauliche Umgestaltung der Stadt ging, hat Honegger zeitlebens gekränkt. Er, der Ästhet, der sich auch kulturpolitisch für die Gesellschaft einsetzten wollte, sah darin eine Möglichkeit, die Gesellschaft menschlicher zu machen. «Ich glaube, dass in einer ästhetisch schönen Welt der Mensch besser lebt. Nicht sehr viel anders, aber ein bisschen besser.» Mit diesem Zitat Honeggers beendet Christen den Spaziergang und entlässt seine Gäste wieder ins Getümmel des «Zürich liest».

Going home disappointed

Das Theater Neumarkt gleicht bei der Gesprächsrunde zwischen Laurie Penny und Andi Zeisler mit seiner Empore beinahe einer Arena. Und doch wird es Penny und Zeisler an diesem Abend in keiner Weise darum zu tun sein, verbale Kämpfe auszutragen. Es lässt sich fragen, ob der Eindruck vermieden werden möchte, dass die vielfältigen Stimmen innerhalb des feministischen Diskurses auch uneins sein können. Die Moderation von Franziska Schutzbach jedenfalls ist so aufgebaut, dass man gerade so gut zwei Einzelgespräche hätte führen können: Eine Frage an Penny, eine an Zeisler. Die beiden grossen Feministinnen werden so bedauerlicherweise nicht dazu aufgefordert, mehr in ein Gespräch miteinander zu treten und auch darüber zu diskutieren, was sie voneinander unterscheidet. Wenn sie sich von den Fragen etwas entfernen und so etwas wie ein persönliches Gespräch zwischen den beiden entsteht, verkommt der Dialog bisweilen zur Slapstick-Einlage darüber, ob feministische Unterhosen jetzt mit angriffslustigen Zähnen geschmückt sein sollten, und die Rednerinnen bleiben in der Komfortzone des Gebiets, innerhalb dessen sie sich einig sind.

Unverständlich ist schliesslich, weshalb die Moderatorin zwei Bilder zeigt – einmal von den Riot-, dann von den Spice Girrrls – und dazu rhetorisch-süffisant fragt: «What happened?» Viel ist passiert. Und man muss ja sowohl das Riot Girl als auch das Spice Girl in einem Kontext verstehen, der nicht das eine mehr oder weniger politisch als das andere machen würde – von einer Industrie vereinnahmt sind ja sowieso beide.

Genug der Stänkerei: Die Textpassagen, die von der Schauspielerin Oriana Schrage aus den Werken Pennys und Zeislers vorgelesen werden, sind eindringlich und in klarer, gut verständlicher Sprache gehalten. Es wird durch Schutzbachs Fragen etwa evident, weshalb der Begriff der «Rape Culture» vonnöten ist, da sich mit seiner Hilfe erklären lässt, welches Leben als wertvoll betrachtet, welche Personen als glaubwürdig eingestuft werden. Der Hashtag «Me Too» wird kritisch beleuchtet und auf sein Potential hin befragt, das Problem wird benannt, dass Frauen, die am Arbeitsplatz belästigt werden, still bleiben, weil am kapitalistischen Arbeitsplatz ihre Körper Teil davon sind, was «for sale» ist. Penny erklärt ihren Begriff des «Neuen Chauvinismus», der ohne toxische Männlichkeit, Xenophobie und Misogynie nicht zu denken ist und es sich zur Aufgabe macht, nur die «richtigen» Frauen (also weisse Cis-Frauen) zu beschützen – und als Eigentum zu verstehen. Sie räumt mit sexuellen Märchen auf (die verharmlosende Redewendung «boys will be boys» kursiert im Internet momentan unter dem Meme «boys will be held accountable for their actions»), die auch davon zehren, dass Frauen untereinander die Solidarität aberzogen wird: Eher werden sie dazu angehalten, um männliche Aufmerksamkeit zu buhlen. Ihre lebensweltlichen Berichte werden als Klatsch und Tratsch abgetan, und die gleiche Kultur, die den Frauen beibringt, dass sie die Schuld an einer Vergewaltigung zu tragen haben, lehrt dies auch den Männern. Zeisler behandelt das Problem des «Marktplatzfeminismus»: Feministische Sprache und feministisches Gedankengut werden zunehmend für die Produktvermarktung verwendet; man könnte dabei prekärerweise meinen, im Feminismus sei schon alles passiert, was passieren kann. Spannend ist die Frage, welche Forderungen des Feminismus schlicht unvereinbar mit dem kapitalistischen Gesellschaftskonzept seien. Leider bleibt Penny bei der Antwort dann doch eher vage: «social welfare» und das Problem der «unpaid labour».

Der Abend endet damit, dass Penny und Zeisler gebeten werden, uns ihre Vorstellung einer «optimalen Welt» nachzuzeichnen. Das stimuliert sogleich eine lebhafte Diskussion darüber, dass von Feministinnen häufig eine vorgefertigte Lösung verlangt wird, die die beiden aber unmöglich leisten können. Zeisler bemerkt dazu traurig-schwarzmalerisch: «Feminism has a lot to do with going home disappointed.» Zuerst müsse einmal alles festgestellt werden, was falsch läuft. Damit sei man aber noch lange nicht so weit, dass man einen (Denk-)Raum hätte, auf dessen Basis sich eine neue, bessere Welt entwerfen liesse. Negative Energie – das Nachdenken über und wütende Streben wider Fehler des Systems –, so Schutzbach, habe ein grosses Potenzial, kenne aber im kapitalistischen positive thinking kaum einen Platz mehr.

Unsere Utopie jedenfalls hätte folgendermassen ausgeschaut: Mehr Kontroverse zwischen den beiden Feministinnen. Reibungspunkte hätten sie garantiert gehabt. Eine engagiertere Moderation, die so etwas wie ein echtes Gespräch in Gang gebracht hätte. Und vernünftige Fragen aus dem Publikum. Den Typen, der ernsthaft versuchte, die Frauen wegen der falschen Erziehung ihrer Söhne («like little kings») als Ursache des Problems darzustellen, hätte es nämlich wirklich nicht gebraucht. Wir haben uns dafür ein paar Feierabendbier mehr gegönnt.

 

Nadia Brügger und Simon Leuthold

«Mord erlaubt»

Am 7. Oktober 2006 wurde die Journalistin Anna Politkowskaja im Treppenhaus vor ihrer Wohnung ermordet. Der Täter schoss fünfmal auf die Frau, die gerade ihre Einkaufstaschen trug – am Geburtstag des russischen Präsidenten Putin.

Was nach einem spannenden Theaterstoff klingt, beruht leider auf einer wahren Begebenheit. Die unerschrockene amerikanisch-russische Journalistin riskierte ihr Leben, indem sie kritische Reportagen über den Krieg in Tschetschenien, die Verbrechen der russischen Armee, Korruption und Folter schrieb. Ihr ist das Theaterstück «Anna Politkowskaja – Eine nicht umerziehbare Frau» gewidmet. In einem Monolog vermischt die Schauspielerin Kornelia Lüdorff Fakten aus dem Krieg mit Auszügen aus den Büchern und russischen Tagebüchern von Politkowskaja. Ihr letztes Buch trug den Arbeitstitel «Mord erlaubt». Sie wusste um die Gefahr, in der sie lebte, und wurde schon bald als «Feindin des russischen Volkes» Opfer eines Giftanschlags. Auch eine ihr ähnelnd sehende Nachbarin wurde erschossen. Doch Politkowskaja schrieb weiter. Bis zu ihrem Tod.

Es ist schwer zu fassen, dass diese erschreckende Geschichte, die in völlig reduzierter Form auf der Bühne erzählt wird, wirklich wahr ist. Trotz des nüchternen Zugangs über die Fakten, berühren und erschüttern die Auszüge aus Politkowskajas Büchern und die nacherzählten Dialoge – etwa mit einem abgebrühten 19-jährigen russischen Soldaten – bis aufs Tiefste. Wie eine einzige Schauspielerin diese tragische Geschichte auf der Bühne zum Leben erwecken kann, ist erstaunlich.

Ein Jahr nach der Ermordung schrieb der italienische Autor Stefano Massini diesen Monolog, der nun in einer Übersetzung in Zürich im Sogar Theater seine Erstaufführung feierte. Das Thema ist auch nach zehn Jahren noch hochaktuell. Kaum zwei Wochen ist es her, dass die regierungskritische Journalistin Daphne Caruana Galizia in Malta mit einer Autobombe ermordet wurde. Es sind Angriffe auf die Presse- und Meinungsfreiheit, die nicht zuletzt mit dem Rechtsrutsch in Europa eine unangenehme Dringlichkeit bekommen.

Im Interview nach der Aufführung erzählt die Schauspielerin Kornelia Lüdorff wie viel Respekt sie vor dieser Rolle hatte. Sie fragte sich, wie man einer solch mutigen Frau überhaupt gerecht werden könne. Es sei ihr schwer gefallen, nicht zu emotional an den Stoff heranzugehen, der bei den anfänglichen Proben immer wieder ins Dramatische zu kippen drohte. «Weg mit den Emotionen!», rief dann die Regisseurin Jennifer Whigham. Nicht die Schauspielerin dürfe sich die Erschütterung anmerken lassen, es sei vielmehr ihre Aufgabe, diese durch nüchterne Fakten beim Zuschauer hervorzulocken. Das Theater gibt solch politisch dringlichem Stoff einen Raum, indem sich der Zuschauer der Geschichte öffnet und ein nachhaltiger Eindruck zurück bleibt.

Genau dies ist im intimen Rahmen des kleinen Sogar Theaters an diesem Abend besonders zu spüren. Die anfängliche Erschütterung der Zuschauer von diesem schweren Thema weicht angeregten Diskussionen an der Bar. Anna Politowskaja lebt somit nicht nur im Theaterstück, sondern nun auch in der Erinnerung daran weiter.

«Wer liest hier überhaupt?!»

Passender hätte der Ort nicht gewählt sein können: Das Cabaret Voltaire –  vor 100 Jahren die Keimzelle des Dadaismus – wird 2017 erneut zum Schauplatz literarischer Innovation. Das Literaten-Kollektiv AJAR (Association de jeunes auteurs romandes et romands) aus der Romandie präsentiert am Samstagabend seinen Roman «Unter diesen Linden», der in diesem Jahr in der deutschen Übersetzung erschienen ist. Das französischsprachige Original von 2016 hatte Aufsehen erregt, weil es nicht von einem, sondern von 18 Autorinnen und Autoren geschrieben wurde.

Im Cabaret Voltaire sind AJAR zu viert: Julie Mayoraz, Bruno Pellegrino, Lydia Schenk und Guy Chevalley stellen ihren Roman vor. Und sie sprechen nicht nur über ihn – sie führen auch vor, wie das Buch entstanden ist. Die vier Autoren setzen performativ Versatzstücke in zwei Sprachen zusammen. Eine beginnt auf Französisch, die nächste steigt auf Deutsch ein, später kommen die beiden anderen hinzu – bis alle zusammen puzzleartig einen Text vortragen, der erst in der Vielstimmigkeit Sinn ergibt.

In diesem Moment der mehrsprachigen, simultanen Darbietung scheint der Geist Tristan Tzaras durch die Gewölbe des Cabaret Voltaires zu wandeln: Das Echo des einst hier zusammen mit Richard Huelsenbeck und Marcel Janko vorgetragenen Simultangedichts «L’Admiral cherche une maison à louer » hallt im Wortgemisch AJARs eigentümlich nach. Die Idee der kollektiven Autorschaft – sie ist also bestimmt nicht neu. Aber sie scheint, zumindest im literarischen Kontext, immer wieder in Vergessenheit zu geraten. Im digitalen Zeitalter hat sich aber zumindest ihre Umsetzung erleichtert.

Mittels einer multimedialen Performance gibt AJAR Aufschluss über den eigenen Schreibprozess. Sie machen Musik auf einem kleinen Saiteninstrument, sprechen zeitgleich auf Französisch und Deutsch in Mikrofone und bilden auf der Leinwand ab, wie AJAR live an einem Word-Dokument arbeiten. Texte werden markiert, verändert, verschoben, erweitert, gekürzt, gelöscht. Dazu sind Aufnahmen zu hören, in denen die Autoren über ihre Arbeit sprechen.

«Es geht uns nicht nur um das Projekt Buch, sondern wir experimentieren mit verschiedenen Formen der Literatur.» Das wichtigste Ziel von AJAR sei die Auflösung der Autorschaft. Niemand wisse jetzt mehr, wer welche Teile zum fertigen Buch beigesteuert habe. Ab dem Zeitpunkt, zu dem man einen Textbaustein an alle sendet, sei das Kollektiv dessen Autor.

«Es geht uns nicht nur um das Projekt Buch, sondern wir experimentieren mit verschiedenen Formen der Literatur.»

Die von einem etwas irritierten Publikum gestellten Fragen werden von ihnen konsequent ignoriert. Sie antworten stattdessen mit starren Statements zu ihrer Arbeit. Ganz getreu ihres Credos: «La fiction n’est absolument pas le contraire du réel.» – «Die Fiktion ist absolut nicht das Gegenteil des Wirklichen.» In dem daraus entstandenen Roman «Unter diesen Linden» spielt die Autorschaft keinerlei Rolle mehr. Selbst die fordernde Frage eines Zuhörers, ob es sich bei der Erzählerin und Autorin Esther Montandon denn nun um eine fiktive Person handle oder nicht, muss offen bleiben. Am Samstagabend ist im Cabaret Voltaire 2017 der Autor ein weiteres Mal gestorben – um der Stimme des Kollektivs Platz zu machen.

Mirja Keller, Theresa Pyritz, Julien Reimer