Edition Unik: Jenseits des «Weisch no»

«Sie haben noch nicht das Alter», raunt mir meine etwa 75jährige Nebensitzerin zu. «Man weiss ja nie», entgegne ich, «aber meinen Sie, es geht hier vor allem um das Alter?» «Nein, das Interessante ist ja das Konzept. Ich schreibe ja auch schon lange, aber ich brauche ein Konzept.» Und ein Konzept bekommt man hier. Die Edition Unik, 2014 von Martin Heller ins Leben gerufen, gastiert heute im Erkerzimmer des Zentrums Karl der Grosse. Es handelt sich bei der Edition um kein beliebiges Schreibprojekt, keinen Book on demand-Betrieb, keinen Kurs im literarischen Schreiben. Viel eher könnte man von einer Herausforderung sprechen: Wer am Projekt teilnimmt, der stellt sich der Aufgabe, in knapp siebzehn Wochen sein Leben literarisch zu ordnen, vielleicht: es auch literarisch zu verstehen. Mithilfe einer App treten Menschen mit ganz unterschiedlichem Lebenshintergrund in einen Schreibprozess ein – und am Ende steht dann ein Buch, von dem ein Exemplar als Zeitdokument bei der Edition verbleibt, zwei andere in den Besitz der Urheberin oder des Urhebers übergehen. So floriert in der Edition Unik in grossem Stil und erstaunlicher Breite eine Textsorte, die man mit Jean Paul eine «Selbsterlebensbeschreibung» nennen könnte. Und nicht nur von Einzeltext zu Einzeltext, sondern gerade in der Zusammenschau der Autobiographien könnte sich hieraus ein beeindruckendes Archiv des Psychologisch-Privaten für zukünftige Generationen ergeben.

Am heutigen Sonntag sind allerdings erst einmal die Jetzigen zahlreich versammelt, mehrheitlich Angehörige der Generation Ü60, unterwandert von einigen jüngeren Semestern. Auf dem Podium sitzen drei AutorInnen der Edition, namentlich Pia Tschupp, Sonja Casutt und Jürg Vogel, begleitet von Kindern und Enkeln, Jürg Vogel von seinem Vater. Es wird Persönliches, bisweilen Persönlichstes gelesen und deutlich wird, dass «sein Leben schreiben» für jeden etwas ganz anderes heissen kann. Für Pia Tschupp ist es das «Weben eines Teppichs von einem Anfang, an den man sich nicht erinnert, zu einem Ende, von dem man nichts weiss». Ihre Geschichte – die sie mit Tochter und Enkelin vorträgt – führt aus einer katholisch geprägten Jugend in der Innerschweiz über eine lange Tätigkeit als Lehrerin in Ghana zurück ins Fricktal. «Löcher» gibt es, beim Weben darf es die Geben (beim Lismen eben nicht), Briefe werden zitiert und in den Text integriert – da schafft jemand Ordnung.
Ganz anders nutzt Sonja Casutt das Konzept der Edition – nämlich als Protokoll einer strapaziösen Krankengeschichte. Seit dem siebzehnten Lebensjahr leidet Casutt an dissoziativen Krampfanfällen; das Leben mit der Krankheit und ihren Folgeerscheinungen zu schreiben, stellte eine enorm anstrengende, therapeutisch zugleich wichtige Aufgabe dar, verbindet sich mit diesem Krankheitsbild doch auch ein «Ausser-Sich-Sein», mithin ein Zustand, der sich erzählerisch gerade nicht mehr ohne weiteres fassen lässt. Nicht von ungefähr haben an Casutts Text auch ihre Kinder mitgewirkt, die ihrer Geschichte zugleich die Aussensicht stiften.

In humoristischen Anekdoten wiederum versucht Jürg Vogel seine Adoleszenz festzuhalten. Zwischen Skiliftanlage, Zahnarztbesuchen, Erinnerungen an das Kollegium Engelberg wird auch hier eine Vergangenheit erkennbar, die sich zu retten lohnt – und an deren Erzählung nicht nur Vogel, sondern auch sein Vater immer noch erkennbar Freude haben.

Zeuge wird man an diesem Nachmittag von der strukturierenden, ja vielleicht auch rettenden Kraft des Schreibens. Der literarische Anspruch muss und darf hier gerne zurücktreten, er wird an dieser Stelle gerade einmal nicht gebraucht. Die Bedürfnisse, die hier durch die Literatur gedeckt werden, sind vielmehr elementarer Natur. Und das kommt vor allem anderen.

 

Geschichten im Schwarzen Raum – Michael Fehr erzählt in der Blinden Kuh

Ein nebliger Sonntagmorgen, die Sinne schlaftrunken – zusammen mit Michelle und Seraphin betrete ich die «Blinde Kuh». Mäntel und Taschen werden eingeschlossen, Notizbuch und Handy abgenommen: festhalten, schreiben und fotografieren, das geht hier nicht – wir werden zu «richtigen» Zuhörerinnen. Obgleich die Dunkelheit der Nacht noch nicht weit zurückliegt, brauchen die Augen Zeit, um sich an das Schwarz zu gewöhnen. Um die süsse Erinnerung an den Schlaf zu bannen, bestelle ich mir einen Kaffee. Irgendwann erlangen die Hände eine Ahnung für den Raum.

Michael Fehr streckt nach eigenen Angaben am Schluss der Geschichte „Welch Einfall“ die Hände weit aus

Das Restaurant füllt sich, lebhafte Gespräche und das Klirren und Klappern der Teller und Gläser erinnern an eine normale Beiz. Die Dunkelheit ist nun nicht mehr beengende Abwesenheit, sondern schärft die Sinne für anderes, auch für Michael Fehrs Stimme, die alsbald den Raum einnehmen wird. Die Süppchen sind leer und die Häppchen weg, als der Lyriker uns mitteilt, dass seine erste Geschichte von Essen handle. Er erzählt von der Königin im Wald, von einer Schlange, die einen alten Mann verspeisen möchte, um ihre stattliche Postur zu bewahren. Sie prahlt ausufernd mit ihrer Schönheit, Grösse und Stärke, die so weit reiche, dass ein Stein von ihrem Biss zu bluten beginne. Der alte Mann verliert ob dieser Selbstinszenierung die Furcht und wagt es, sich von der Schlange zu entfernen. Das Publikum bleibt ratlos zurück, und Michael Fehr verkündet: «So ist die Geschichte fertig».

Er wolle bewusst offen lassen, ob die Schlange lüge oder die Geschichte ein Märchen sei, in der Steine zerbissen werden können. Darin liege gerade das Potential einer Erzählung: die Zuhörer in einem Schwebezustand zu belassen, der Vieldeutigkeit, nicht aber Beliebigkeit bedeute. Denn beliebig ist keine der Geschichten, die uns Michael Fehr an diesem Morgen erzählt. Ihre Sinnkonstruktionen entstehen zwar nicht durch das Abrufen bekannter Muster, aber durch Farben, Bilder, Klänge und Rhythmen.

Um das Publikum zu schonen, habe er mit einer «leichten» Geschichte begonnen, denn andere Texte erzählten expliziter von Gewalt. Ironisierende Distanz zu schaffen, wie er es sich sonst gewöhnt sei – durch Mimik und Gestik seiner zierlichen Statur – gelinge heute nicht. Im Dunkeln sind wir den Worten viel direkter, beinahe schonungslos ausgeliefert.

Doch die «Blindheit» öffnet vielleicht auch einen neuen Zugang zum Raum der Fantasie, für den der Lyriker an diesem Morgen plädiert. Das «westliche Schreiben» sei geprägt vom Psychologisieren und knüpfe an seine Tradition an. Aber vielleicht liege gerade im Mut, sich Neues auszudenken und zu schaffen und dabei das Anknüpfende, Erklärende in den Hintergrund zu rücken, eine wirkliche Kraft. «Ich war schon alt, als ich zu schreiben begann. Ich hatte keinen klaren Platz», sagt Michael Fehr. Durch das Erzählen, vielleicht auch sich selbst erzählen, kann man sich einen Platz schaffen, in Momenten wo man ihn nicht noch zu kennen meint. So brauche es oftmals nur einen kleinen Schritt, um sich zu lösen. Doch liege es in der Natur des Menschen, dass man diesen oft nicht gehen könne – wie der Protagonist in der Erzählung Im Schwarm, der in einer Sommernacht von Mücken zerstochen wird und es nicht schafft, sich aus dem Licht zu begeben.

Als ich die «Blinde Kuh» verlasse, fordert die grelle Sonne eine zweite Gewöhnung, doch die aus Dunkelheit geschaffenen Bilder vertreibt sie nicht. Und mir wird bewusst, dass es weder Stift noch Kamera braucht, um einen Zugang zu gewinnen. In erinnere mich an einen Satz von Kafka: «Die Vorbedingung des Bildes ist das Sehen», sagte Janouch, und Kafka erwiderte: «Man photographiert Dinge, um sie aus dem Sinn zu verscheuchen. Meine Geschichten sind eine Art von Augenschliessen.»

Die Schweiz haftet an Lewinsky

Charles Lewinsky wird bei seiner Lesung im Pfauen als Meister der Gattungen gepriesen. Vom Drehbuch übers Gedicht bis zum Roman liess er wenig unversucht. Und nun hat er sich erstmals an einen Krimi gewagt. Doch sein neues Buch «Der Wille des Volkes» ist vielmehr auch ein politisches Buch. Deshalb habe man die Lesung wohl auch von einem alternden Politiker moderieren lassen, meint der Alt-Regierungsrat Markus Notter augenzwinkernd.

Lewinsky zeichnet in seinem Buch das dystopische Bild einer Schweiz, die von Rechtspopulisten regiert wird. Es gibt darin nur noch sechs Bundesräte, da die eidgenössischen Demokraten eine solche Mehrheit im Parlament haben, dass sie den siebten Platz nur noch symbolisch für die Sozialdemokraten freihalten – um wenigstens den Schein einer Demokratie zu wahren. Unter diesen Umständen ist der pensionierte Journalist Kurt Weilemann dazu verdammt, nur noch Nachrufe schreiben zu dürfen, weil er die Verstorbenen ja «noch» gekannt hätte. Dabei werden ihm 1200 Zeichen für eine normale Leiche gewährt. Dass es sich beim Tod eines Kollegen nicht um eine solche, sondern um einen vertuschten Mord handeln muss, ist sich Weilemann sicher und beginnt – zum Widerwillen des Staates – zu recherchieren.

Um nichts von der Krimihandlung zu verraten, liest Lewinsky eher witzige, politisch brisante Stellen vor, die auch eindeutig die Stärke des Buches sind. Im Bezug auf die neuen Techniken sei das Buch auch in keiner Weise als Science-Fiction-Roman zu sehen, betont Lewinsky. Er beschreibt nichts, was es heute im Grunde nicht bereits gibt. Mit Ausnahme einer Rasiercreme, die man für ein glattes Kinnbloss aufzutragen brauche – das sei aber eher eine persönliche Wunschfantasie, wie der Autor verrät.

Auch die Lage des Journalismus beschreibe im Grunde die heutige Situation. Eine ziemlich pessimistische Aussicht laut dem Buch, in dem der alte Journalist von jungen Volontären verdrängt wird, die nicht mehr richtig schreiben könnten. Im Gespräch mildert Lewinsky sein Urteil etwas mit dem Begriff Umbruchszeit ab, in der die Zeitungen neue Funktionen finden müssen. Weil man heute die Infos bereits hat, wenn man die Zeitung aufschlägt, brauche es mehr Hintergründe oder neue Formate wie etwa das neue Projekt «Die Republik».

Die einzige Schweizer Zeitung, die in seinem Buch namentlich vorkommt und dabei nicht sehr gut wegkommt, ist «Die Weltwoche» – für die Lewinsky selbst einmal geschrieben hat. Er habe sich von Roger Köppel überreden lassen, ein Jahr lang wöchentlich einen Fortsetzungsroman zu schreiben. Dieser kam später unter dem Titel «Doppelpass» in Buchform heraus – nicht ohne Hiebe gegen die rechte Ausländerpolitik. Als seinen grössten Flop bezeichnet Lewinsky, dass er darauf kein einziges böses Mail bekommen hätte.

Nach ein paar Seitenhieben gegen die SRG («Entweder wird jodelnd gekocht oder kochend gejodelt») und einigen Sprichwörtern über Pessimisten, schliesst der Moderator Notter den Kreis mit einem passenden Geschenk, in Anlehnung an das neue Buchcover: Ein Ansteckwappen der Schweiz.

Davon, dass nicht immer alles verkehrt ist (aber das meiste schon)

In Yael Inokais neustem Werk Mahlstrom warten vergeblich: Adam, ein Tisch und ein Haus. Dass Adam dieser Beschäftigung zusammen mit zwei Gegenständen nachgeht, ist nicht weiter verwunderlich, wenn man einmal weiss, dass auch er ein Raum sein kann. Und zwar für seine Schwester: «Und ihr Raum war auch ich», begründet er fast triumphierend die Tatsache, dass Barbara vor ihrem Suizid nur ihm einen Abschiedsbrief hinterlassen hat. Sobald also Menschen zu bewohnbaren Räumen und Tische zu unter Schneedecken lastenden und von Pflanzen bekletterten Wartenden werden, hat die gleichzeitig wortwörtliche und metaphorische Verkehrung ins Dorfleben schon längst Einzug gehalten.

Inokai liest im Rahmen einer Sofalesung, deren Ziel es ist, gute Literatur «dringend sehr berühmt zu machen», wie es Marianne Bühler nennt, die den Abend einleitet. Nora Zukker führt das Gespräch mit Inokai, das sich zuerst um die Wahl der polyphonen Erzählperspektive dreht und um die Frage, ob man damit den einzelnen Figuren gerecht werden könne. Tatsächlich verhindert der Wechsel der Erzählfiguren gerade die endgültige Festschreibung eines Wissens hinsichtlich des Geschehens: So mag man – mit Nora Zukker – vermuten, dass der Selbstmord, der am Anfang des Werkes stehe, seine Begründung im Gefühl der Schuld von Barbara findet (die zusammen mit vier anderen Kindern einen Dorffremdling, Yann, beinahe totgeschlagen hat). Allerdings: Der Text gibt solch ein vorgefertigtes Wissen eben in keiner Weise preis.
Inokai liest eindringlich und bestimmt zuerst den Anfang, der beschreibt, wie ein ganzes Dorf nach der Selbsttötung eines Mädchens die eigene Sprache sucht und vorerst im Flüstern wiederfindet. Die Sprache wird durchgehend das grösste Problem bleiben: Man kann an ihr das Fremde erkennen (Yann spricht «Yannisch», wird als Mädchen beschimpft und versinkt am liebsten in Adams Armen) und damit ausgrenzen; man kann mit ihr aber auch ganze Geschichten zugunsten der eigenen auslöschen. Die Geschichte Barbaras muss dementsprechend genauso unerzählt bleiben wie die von Annemarie und Astrid. Sie alle werden von Nora, Adam und Yann nacherzählt und damit überschrieben. Erzählt wird folglich, wie Geschichten für sich selbst umgedeutet und so anderen weggenommen werden können. Dass Barbara wie ein Tier ertrinkt, wie es zu Beginn heisst, kommt dabei nicht von ungefähr: Inokai wird später auf Nachfrage in einer Haraway verpflichteten Denkweise erläutern, dass es weniger darum gehe, die prominent vorkommenden Hunde als Vermittlerfiguren zwischen Menschen zu verstehen, denen die Möglichkeit zur Verständigung abhandengekommen ist. Vielmehr seien die Tiere  als alternative Ausformung von Sprache und Körperlichkeit zu denken, die in der menschlichen Sozialstruktur schlicht nicht sichtbar seien. Kinder und Tiere gleichen sich dabei in ihrer gleichzeitigen Überreglementierung und Gesetzeslosigkeit.

Mahlstrom ist damit jedenfalls vor allem: ein sehr kluges Nachdenken über Perspektiven (mit verblüffenden Wendungen). Yael Inokai erweist sich hingegen als eine Gesprächspartnerin, mit der man sich ohne Zögern am Sofa festzurren liesse.

Sci-Fi trifft auf Phantastik im Sachbuchverlag

Autorenkollektive scheinen im Trend zu sein. Mit »AJAR« und »Gravity Assist« sind gleich zwei bei »Zürich liest’17« vertreten. Doch was kommt dabei heraus, wenn ein Unternehmensberater gemeinsam mit einem Account-Manager, einer Psychologin, einem Augenarzt und einer Kommunikationsspezialistin ein Buch schreibt, das diese »selber gerne lesen würden«? Eine Antwort darauf bietet der Debütroman des Autorenkollektivs »Gravity Assist«.

Zu hören waren sie an der Alderstrasse 21, dem Verlagssitz von rüffer & rub. »Seit 17 Jahren machen wir hier tolle Bücher.« Damit eröffnet ihre Verlegerin Anne Rüffer den Anlass. Zunächst thematisiert sie mit den Beteiligten den Entstehungsprozess der »Schwarzen Harfe« – so der Titel des Romans. Mit Nachdruck würdigt sie den 18-monatigen Entstehungsprozess und ruft zum Applaus auf. Der Hauptautor Stefan Bommeli offenbart im Gespräch, er habe schon immer den Wunsch gehegt einen phantastischen Roman zu schreiben. Im Schreibprozess hat er allerdings gemerkt, dass er für sein ehrgeiziges Projekt Unterstützung benötigen würde. Kontinuierlich hat sich Bommeli so Menschen und Kompetenzen an Bord seiner Raumfähre geholt. Zuerst den Freund aus Studientagen, dann die Ehefrau, den Schwager und eine weitere Vertraute. Es sei eh immer um den Roman gegangen, meint Berenice Bommeli. Da habe sie immerhin mitbestimmen wollen.

Die Autoren betonen das Gewicht einer einheitlichen Logik, stimmiger Psychologie und der Anschlussfähigkeit an unsere Welt und sind zuversichtlich, diesen Ansprüchen in ihrem Buch gerecht geworden zu sein. Rüffer gar lässt diesbezüglich keine Zweifel gelten. In der Auseinandersetzung mit dem rot-weiss gestreiften Untier namens »Kupran« offenbart das Kollektiv jedenfalls Phantasiereichtum. Im Gespräch berichten die Debütierenden von ihrer jeweiligen Lieblingsfigur, mit der sie sich stark identifizieren. Sie bezeichnen diese teilweise sogar als ihr »alter Ego«. Das Genre in dem sie schreiben, scheint also Tendenzen in Richtung Auto-Science-Fiction aufzuweisen. Zudem wirken auch tatsächlich romantische Motive hinein. Vielleicht hilft dabei ja der Umstand, dass einer der Koautoren ein Hoffmann im Doppelnamen führt. Als solches phantastisch-romantisches Element erscheinen im Roman metaphysische Träume und die brüchige Grenze zwischen Sinn und Wahn wird neu verhandelt. Die Verbandlung der oft gegeneinander ausgespielten Genren Sci-Fi und Phantastik scheint mithin das grösste Potential für wirklich Neues zu bieten – so die Hybridisierung denn gelingt!

Vergegenwärtigt man sich nochmals, dass Rüffer & Rub eigentlich Sachbücher macht, lassen sich die eingebauten Auszüge aus dem fiktiven »Illban-Allmanach« fast schon als wissenschaftssatirischen Impetus lesen. Vieles im Roman erinnert an bekannte Geschichten der Reverenzgenren. So gibt es etwa auch in der »Schwarzen Harfe« eine Spezies mit zurückgefahrenen Emotionen oder gar eine (Ring-)Handelsföderartion. Im Gespräch zeigt sich Stefan Bommeli bescheiden. Er ist sich bewusst, dass Frank Herberts »Dune«-Reihe, die er bewundert, einen sehr hohen Referenzpunkt abgibt und es anmassend wäre, den eigenen Roman in eine Linie damit zu stellen. Die Verlegerin hingegen verspricht sehr viel und legt dem Publikum das Buch demonstrativ nahe. Ob der Roman über die Standards eines epigonenhaften Machwerks hinausreicht, wird sich mit Beginn der Lektüre zeigen.

«Ich suche immer den Abgrund»

Es ist ein minimalistischer grauer Saal, in dem sich das Publikum am Samstagabend im Landesmuseum versammelt, um mehr über Chris Kraus‘ zweiten Roman «Das kalte Blut» zu erfahren. Unter der Moderation von Philipp Theisohn gibt Kraus Einblicke in das umfangreiche Werk. Auf mehr als 1000 Seiten wird die Geschichte der Rigaer Brüder Hubert und Konstantin geschildert, die zunächst im nationalsozialistischen Deutschland und später beim deutschen Bundesnachrichtendienst Karriere machen. «Mein eigentlicher Anspruch war, die Geschichte des Bundesnachrichtendienstes zu erzählen», erklärt Kraus.

Für den Roman habe er sich dabei stark an der eigenen Familiengeschichte orientiert. Kraus, dessen Grossvater beim Geheimdienst arbeitete, will hinter die Fassade blicken: «Was sind das für Menschen?» Daher konstruiert er seine Romancharaktere als ambivalente Figuren, die mal Opfer, mal Täter sind. «Ich suche hinter den Figuren immer die Abgründe.»

Vordergründig gibt sich das Buch als Agentenroman aus. Tatsächlich dreht es sich aber um alle möglichen Versionen der Täuschung und geht der Frage nach, wie Vertrauen zerstört wird. Natürlich folgt die Verdichtung der Lebensläufe den Regeln der Fiktion, aber «alle Situationen, die im Buch beschrieben werden, sind mehr oder weniger so passiert», versichert Kraus.

Manchmal fällt es gleichwohl schwer, dem Autor in sein Romanuniversum zu folgen. Kraus kennt sich mit seiner Materie aus, aber das Publikum verliert hin und wieder den Faden, wenn er ambitioniert historische und familiäre Zusammenhänge zu erklären versucht. Den Kopf schwer von Gedanken verlässt man im Anschluss an die Lesung den Saal.

Mut zu Wahrheit und Tat – ein Portrait und Aufruf

Franziska Greising, die am Samstagabend in der Buchhandlung Beer zu Gast war, schreibt am liebsten über grosse Frauengestalten. So handelt ihr letztes Buch vom Leben Rösli (Rose) Näfs, oder, genauer gesagt: von vier Jahren dieses Lebens.

Rose kam ursprünglich aus dem Glarnerland. Da ihre Eltern wenig Geld hatten, verdingte sie sich als Aupair in Lugano, London und Genf und lernte so nebenbei Fremdsprachen. Als sie einen Bericht der SAG über die Judenverfolgung in Deutschland und Frankreich las, meldete sie sich sogleich zum Freiwilligendienst und wurde Leiterin eines Heimes mit 100 jüdischen Flüchtlingskindern im Süden Frankreichs. Als beinahe die Hälfte der Kinder, alle über 16 Jahre, verhaftet und ins Internierungslager nach Le Vernet gebracht wurden, war sie die einzige Fürsprecherin der Kinder. Das Rote Kreuz, als Organisation der das Kinderheim angehörte, und die Schweiz versagten ihr jegliche Un

Franziska Greising im Gespräch

terstützung. Da sie das Vertrauen in ihre Arbeitgeber verloren hatte, widersetzte sie sich deren Anweisungen und suchte Hilfe bei der Résistance. Der Polizeiminister von Vichy half ihr, die Kinder in letzter Minute aus dem Lager zu befreien. In Nacht- und Nebelaktionen und grüppchenweise schickte sie die Kinder in Richtung Genf. Die meisten von ihnen konnten die Grenze überqueren und fanden Zuflucht bei den von der SAG vermittelten Patenschaften. Viele von ihnen reisten weiter nach (damals) Palästina oder Amerika. Unter denjenigen, welche die traumatischen Erlebnisse verarbeiten konnten, nahmen sich nicht wenige jedoch später das Leben.

Greisings Buch widmet sich ganz dem eindrücklichen Mut und der aufopfernden Handlungsweise Rose Näfs. Wenn ihr Schreibstil sich auch sehr detailreich und dadurch auch etwas langatmig ausnimmt, so sorgte die Grundthematik jedoch für eine fesselnde Lesung, was durch die sich anschliessende lebhafte Frage- und Austauschrunde dokumentiert wurde. Viele Besucher konnten an Erzählungen ihrer Grosseltern anknüpfen; insbesondere die Rolle des Roten Kreuzes und der offiziellen Schweiz gab Anlass zu Diskussionen, aber auch der Aktivdienst an der Grenze für alle wehrtauglichen Männer.

Vieles von dem, was heute anklang, ist noch nicht aufgearbeitet und richtiggestellt, wird tabuisiert und totgeschwiegen, obgleich die Spuren der Schuld und die Traumata heute immer noch sichtbar sind. Dank Autorinnen wie Franziska Greising bleiben diese Missstände als solche jedoch in der Debatte. Bleibt zu hoffen, dass die Schweiz ebenfalls Mut zeigt und Verantwortung für ihre vergangenen, oder eben unterlassenen Taten übernimmt.

Thriller goes Tram. Mit den «Sisters in Crime» durch Zürich

Als ich zehn Minuten vor Lesungsbeginn das Cobratram am Bellevue betrete, ist der erste Eindruck schlimmer als bei einem blutrünstigen Krimi: Feierabendverkehr! Und das am Sonntagmittag kurz vor 12 Uhr. Und selbst im Krimitram, in dem die Zürcher «Sisters in Crime», Petra Ivanov und Mitra Devi, ihren gemeinsam verfassten Thriller «Schockfrost» präsentieren, werden die wenigen leeren Sitze von ziemlich grossen Handtaschen beansprucht. Ich ergattere einen der letzten Plätze, sogar einen mit ordentlich Beinfreiheit, dafür aber mit dem Rücken zu den Lesenden.

Mich die ganze Zeit umzudrehen war dann doch zu mühsam, und so konnte ich die vorbeiziehende Innenstadt geniessen, während Devi nach der kurzen Anmoderation direkt zu lesen begann. Meine Sitzposition eröffnete mir immerhin, was den meisten anderen Zuhörern verborgen blieb: Unser Tram wurde, zumindest auf den ersten paar Metern, von einer Streife der Stadtpolizei Zürich eskortiert. Der Krimi-Mittag konnte beginnen.

Devi und Ivanov lasen abwechselnd Passagen aus ihrem Buch. Am Anfang war das etwas verwirrend und zusammenhangslos, doch Schritt für Schritt wurden die präsentierten Figuren in einen Kontext gestellt. Zwischen den Passagen erörterten die beiden Autorinnen immer wieder den Rahmen ihres Thrillers und zogen die nötigen Verbindungen zwischen den vorgestellten Figuren. So hatten wir etwa zur Hälfte der Lesung, beim Bahnhof Altstetten, langsam aber sicher ein Bild davon, was uns bei «Schockfrost» erwartet.

Während Devi beim Vorlesen eine unheimliche Stimmung heraufbeschwört, ist Ivanov das Gegenteil. Sie liest ruhig und langsam und schafft so einen Gegenpol zu Devi. Am besten kommt diese Kombination zur Geltung, als die beiden gegen Ende zusammen lesen: Ivanov übernimmt die direkte Rede der Psychiaterin Sarah, während Devi die Erzählinstanz und Sarahs Patienten Georg liest. Als dem unter Verfolgungswahn leidenden Georg während seiner Sitzung bei Sarah ein Küchenmesser aus der Jacke fällt, hält Ivanov inne. Sie klärt die Fahrgäste auf, dass die Kapitel eines Thrillers eigentlich immer mit einem Cliffhanger enden, so wie dieses hier. Ausnahmsweise würden sie heute und nur für uns noch eine Szene mehr lesen.

Doch die Freude über diese Grosszügigkeit ist nur von kurzer Dauer: Auch die nächste Szene endet mit einem mindestens so grossen Cliffhanger. Ivanov grinst verschmitzt und meint lediglich, dass sie ewig so weitermachen könnte. Überraschend war dann auch, dass die beiden Autorinnen, die bekannt für ihre Zürcher Krimis sind, den mobilen Lesungsort entgegen meinen Erwartungen nicht ausgenutzt haben. Die erzählten Passagen spielten irgendwo im Nirgendwo, während draussen die bekannteren Ecken Zürichs in voller Pracht erstrahlten. Trotzdem hat die Lesung Lust auf das Buch gemacht, doch das eigentliche Highlight folgte erst noch: Die beiden Autorinnen erörterten abschliessend noch, wie es ist, gemeinsam ein Buch zu schreiben.

Ivanov und Devi arbeiten schon lange zusammen. Bis anhin haben sie aber nur ihre Texte gegenseitig Korrektur gelesen. Der gemeinsame Thriller war ein Experiment, bei dem man sich alles andere als sicher war, ob das funktionieren kann. Während Devi Storyboards zu ihren Geschichten verfasst und alles genauestens plant, schreibt Ivanov lieber einfach mal drauf los und schaut dann, wie sich ihre Figuren entwickeln. Zu Beginn hat sich Ivanov durchgesetzt und sie haben einfach einmal drauf los geschrieben. Das hat einige Kapitel gut geklappt, doch dann musste für Devi ein Minimum an Planung her.

Das Wichtigste war den beiden, dass man am Ende nicht erkennen konnte, wer was geschrieben hat. Devi erklärte, sie hätte beim Überarbeiten die Teile Ivanovs «devisiert», während diese ihre Teile wiederum «ivanovisiert» hat. Das scheint funktioniert zu haben. Ihre Testleser, welche die Texte beider Autorinnen gut kennen, hätten nicht mehr herauslesen können, wer was geschrieben hatte.

Mühe hat den beiden Krimiexpertinnen dann noch der Schluss bereitet, denn sie hätten sich erst nicht darauf einigen können, wer sterben soll. Laut Ivanov sei dieses Sterben aber schliesslich doch sehr organisch passiert. Diese Aussage bringt das Publikum bereits zum Schmunzeln, doch Devi setzt noch einen drauf. Sie werden vielleicht wieder einmal zusammen ein Buch schreiben, meint sie, doch es werde ziemlich sicher keine Fortsetzung sein. Das wäre schwierig, denn dafür hätten zu viele Figuren den «Schockfrost» nicht überlebt.

Der Autor ist unsichtbar

«Polonaise» nennt sich die Tanzpraxis, der man sich bedient, um uns in einen völlig verdunkelten Raum zu führen. Das Personal der Blinden Kuh geleitet zu unsichtbaren Tischen, serviert einen kleinen Apéro und steht mit Rat und Tat zur Seite, um sich in diesem verfremdeten epistemischen Zustand zurecht zu finden. Der Raum klingt nicht sehr gross, das Publikum riecht gespannt und das Porzellan in den Händen fühlt sich glatt und weiss an. Man wartet auf Michael Fehr, der hier in der Finsternis bald einige seiner Geschichten aus dem kürzlich erschienenen Band Glanz und Schatten lesen wird – so behauptet man zumindest. Ob der Autor wirklich da ist, bleibt im Dunkeln.

Wie kaum ein anderer erkämpft sich der Berner Autor mit seiner eindringlichen Stimme Präsenz in seinen Texten. Man kennt ihn als den Künstler, der in persona für sein Wort einsteht, umso irritierender ist es, wenn dieser Performer bei seinem Auftritt unsichtbar bleibt. Allerdings macht er das auch nicht zum ersten Mal.

Michael Fehr beim Auftritt (für höhere Auflösung, Augen schliessen)

Eigentlich arbeite er oft mit Gesten und Mimik, wird er uns später in einem kurzen Gespräch erklären, Ausdrucksmöglichkeiten, die im Dunkeln entfallen, alles bliebe an der Stimme zu sagen. Seine letzte Geschichte beendet er sogar mit dem Hinweis, dass er die Arme zu einer beglückwünschenden Geste ausgebreitet habe – natürlich nicht ohne ein unübersehbares ironisches Augenzwinkern.

Wieder einmal beweist ein «Spoken-word»-Künstler, wie unscheinbar und ausdruckslos Wortwiederholungen sind, wenn sie tot auf dem Papier liegen bleiben. Es pulsiert, es lebt. Es ist eine Interaktion mit dem Hörer. Wer Michael Fehrs Texte kennt, dem fällt auf, dass sich der Autor nicht immer ganz an sein Gedrucktes hält. Er ertastet, was in welchem Publikum funktioniert. Da wird eine Phrase wiederholt, die der Text alleine stehen lässt und auch die Mücken in «Im Schwarm» haben heute öfters zugestochen als auch schon.

«Keyboard Cat» ist tot. Es lebe die Schadenfreude

Youtube hätte so viel zu bieten: Politische Videos, Raum zum Experimentieren für neue journalistische Formate, Vlogs, How-Tos, wirklich abgefahren merkwürdige Beiträge, Kurzfilme, Serien – die Liste könnte noch ewig weitergehen. Aber.

Der Veranstaltungstitel «NZZ Folio durchforstet Youtube» war jedenfalls denkbar schlecht gewählt. Die Redaktion hat sich entschieden, zwei Themenbereiche abzudecken und dazu je eine Reportage vorzulesen; meine Hoffnung auf eine Vielfalt von Videos aus verschiedensten Sparten wurde sofort enttäuscht. Insbesondere, als klar wurde, womit es losgeht. Eine halbe Stunde lang Katzenvideos, gleich zu Beginn! Wenn man schon beim erstbesten Baum des Waldes Halt macht, kann von durchforsten ja nicht wirklich die Rede sein. Bis man «Grumpy Cat» oder «Keyboard Cat» findet, muss man nun wirklich nicht weit graben. Zugegeben, die Videos dienten eigentlich nur der visuellen Untermalung einer Reportage, die sich in einiger Tiefe mit diesem Urphänomen auf YouTube auseinandersetzt, und die ein paar Informationen zutage führte, die dem im Durchschnitt deutlich über 50-jährigen Publikum noch unbekannt gewesen sein mögen. Beispielsweise wurde berichtet, dass kurioserweise die meisten Onlinekatzen, die sich grosser Popularität erfreuen, unter Krankheiten leiden, die ihr Aussehen besonders drollig erscheinen lassen, oder die dazu führen, dass die armen Tierchen nicht einfach weglaufen, wenn man sie zwecks einer besonders niedlichen Filmaufnahme an irgendeinen lächerlichen Ort setzt. Oder dass die berühmtesten Katzen locker auf eine Milliarde Klicks kommen, eine riesige Fangemeinschaft haben und darum auf einen Manager und auf bis zu vier – menschliche – Bodyguards und ein – tierisches – Stand-in bei Drehs angewiesen sind.

Der zweite, leider kürzere Abschnitt der nur knapp stündigen Veranstaltung widmet sich dann zum Glück einem interessanteren Themenbereich: der Wissenschaft. Speziell einem ganz neuen wissenschaftlichen Ansatz, der das ursprüngliche Konzept hinter Youtube (Unterhaltung) raffiniert unterläuft und die Videos als eine Art Crowdsource-Datenquelle nutzt. So wird zum Beispiel eine Serie von Videos von Menschen, die auf der Strasse hinfallen – «Old people falling» des Users multifanboy101 – neu von Gerontologen genutzt, um festzustellen, ob bei den Fallenden erkannt werden kann, dass ihre geistige Gesundheit beeinträchtigt ist, ob sie verwirrt wirken, oder ob sie von der Strasse abgelenkt waren. Oder – der Reporter verzieht beim Vorlesen keine Miene – die Studie über «The Hydrodynamics of Defecation», die ein universelles mathematisches Modell des Stuhlgangs entworfen hat, aufgrund dutzender Videos von kackenden Tieren auf Youtube.

Zwei typisch menschliche Verhaltensweisen, die Schadenfreude und das Gaffertum, die durch die Möglichkeit, via YouTube schnell Videomaterial zu verbreiten noch einmal massiv an Fahrt gewonnen haben, können durch diesen neuen Zugang nun auch produktiv genutzt werden. Darüber würde man gern noch mehr erfahren.

Die Veranstaltung hat nicht eingehalten, was sie im Programm versprach (auch der Leiter des NZZ Folio sprach noch bei der Anmoderation zunächst noch von einem «gemütlichen Videonachmittag»), aber ein bisschen wohlverpackter Fäkalhumor kann auch der grimmigsten Katze doch noch ein Lächeln aufs Gesicht zaubern.