Unsichtbar – aber spektakulär

Den Menschen am Rande der Gesellschaft eine Stimme zu geben – dies ist das Ziel des Projektes «Invisible Philosophy» des Künstlerduos Stefan Baltensperger und David Siepert. Seit mehreren Jahren beschäftigen sie sich mit dem Thema Migration; passenderweise stellten sie ihre Arbeit im Rahmen von Zürich Liest im Travel Book Shop vor. Für ihre letztes Werk gingen sie in den Grossraum Peking und stellten für einen Tag lang Wanderarbeiter an – sogenannte «invisible people» -, um sich Gedanken über das Leben zu machen und diese auf Papier zu bringen. Die Bedingung: Sie mussten ernsthaft den ganzen Tag daran arbeiten. Zu ihrem Schutz versprachen ihnen die Künstler strikte Anonymität.

Baltensperger und Siepert haben darauf geachtet, Männer und Frauen aus verschiedenen Altersgruppen für ihr Projekt zu gewinnen. Die Arbeiter schrieben meist über Dinge, die sie persönlich bewegen: Familie, Gesundheit, Ausbildung, Geld und Gesellschaft. Ihre Geschichten sind oft berührend: Eine Frau berichtet davon, wie sie zuhause misshandelt wird und fotografiert am Ende des Tages ihren Text, um ihn ihrer Familie zu zeigen. Aber auch abstraktere Gedankengänge gibt es. «Society is too real» schreibt ein Mann, und ein anderer beklagt den Druck des Geldes, das alles bestimmt – selbst Gott sei nicht allmächtig ohne Geld. Einige kommentieren auch, dass dies das erste Mal seit Langem sei, dass sie sich Gedanken über das Leben machen könnten oder danach gefragt würden. Das Projekt entfaltete somit doppelte Wirkung – für viele der Arbeiter genauso wie für uns Betrachter, die wir mit neuen Perspektiven konfrontiert werden.

Die Künstler sprachen auch über die vielfältigen Schwierigkeiten, mit denen sie umgehen mussten. Viele Arbeiter trauten sich die Arbeit nicht zu. Anderen war das stundenlange Schreiben zu anstrengend. Und dann war da noch das Problem der Übersetzung: Viele Tagesphilosophen schrieben in Dialekt oder in simplifiziertem Chinesisch, dass nur schwer in Mandarin, geschweige denn ins Englische, übersetzt werden kann. Drei Übersetzer brauchten mehrere Durchgänge, um ein zufriedenstellendes Resultat zu erreichen.

Diese Herausforderungen formten die Buch-Form, in der sie das Projekt publizierten. Maschinengeschriebene Übersetzungen in Mandarin und Englisch machen den Kern des Buches aus. Buchstäblich zwischen den Zeilen scheinen die originalen Abdrucke der Handschrift der Arbeiter durch: In japanischer Bindung wurden je zwei Seiten zusammengeklebt und die entstandenen Innenräume mit den Originaltexten bedruckt. Auch formell spiegelt das Buch somit den Facettenreichtum und die Komplexität des Projektes wieder. Die Arbeiter sind abwesend – unsichtbar – und gleichzeitig immer präsent.

Man kann sich dem Projekt «Invisible Philosophy» somit von vielen Seiten nähern. Man kann es als Denkanstoss nehmen, um über das Leben nachzudenken. Man kann darüber nachsinnen, wie sehr die Sorgen von chinesischen Wanderarbeitern den hiesigen ähneln. Und natürlich darüber, wie interessant es ist, den «unsichtbaren Menschen» zuzuhören. Dies ist der Verdienst dieser Arbeit von Baltensperger und Siepert: Sie macht das Unsichtbare sichtbar.

Geschichte und Geschichten

 

Im Gespräch mit Claudia Mäser, die für Bücher am Sonntag der NZZ zuständig ist, erzählt Eveline Hasler an diesem verregneten Sonntag, der einlud, es sich im NZZ-Foyer bequem zu machen, wie sie jeweils von der historischen Recherche zur literarischen Fiktion gelangt.

Bevor 1982 ihr erster Roman «Anna Göldin – Letzte Hexe» erschien, hat Eveline Hasler seit den 60er Jahren Kinder- und Jugendbücher geschrieben. Auf «Anna Göldin» folgten weitere historische Romane, wobei Hasler die Bezeichnung Roman nicht zusagt. Ihre literarischen Werke seien genre-mässig schwierig einzuordnen, basieren sie doch auf Fakten, die sie lediglich erzählerisch vermittle. Biografische Annäherung klinge jedoch auch seltsam, meint sie.

Die Vergangenheit fasziniert Hasler, die Geschichte studiert hat. Sich mit der Vergangenheit und Geschichte zu befassen und dies literarisch zu transponieren, stellt für Hasler eine Möglichkeit dar, Geschichten von früher – besonders von ungerecht behandelten und vernachlässigten Menschen wie Anna Göldin – zu transportieren. Ein Akt der Gerechtigkeit: Die Vergangenheit sei schliesslich nicht trennbar von der Gegenwart.

Wie geht man nun jedoch vor, wenn man aus einer riesigen Faktensammlung einen literarischen Text schreiben möchte? Es sei sehr aufwändig, antwortet Hasler. Anderthalb Jahre betreibe sie Recherche, um sich dann nochmals anderthalb Jahre dem literarischen Schreiben zu widmen. Der Beginn des Schreibens sei schliesslich das Schwierigste, denn wie entscheidet man, welche Szenen essentiell sind für die jeweilige Begebenheit? Ihre Verlegerin habe mal zu ihr gesagt: «Du musst alles wieder vergessen, was du gelesen hast.»

Erst mit einem distanzierten Blick sei es ihr deswegen möglich, die Geschichte zu visualisieren und sie dann niederzuschreiben. In ihrem nächsten Leben würde sie gerne Filmemacherin werden, meint Hasler lachend: „Das würde mir glaubs gefallen.“

Dass Hasler gerne Geschichten erzählt, merkte man an ihren oft ausschweifenden Antworten. So musste Mäser sie dann auch am Ende knallhart unterbrechen: gerade, als sie vom Abschnitt, den sie aus «Anna Göldin» vorlas – unter anderem ging es dabei um das Suchinserat für Anna Göldin, das 1782 in der NZZ gedruckt wurde – plötzlich noch einen umgekehrten Vergleich zur Königin von England ziehen wollte und von da weiter zu…wie dem auch sei. Geschichte schreibt schliesslich Geschichten.

Sci-Fi trifft auf Phantastik im Sachbuchverlag

Autorenkollektive scheinen im Trend zu sein. Mit »AJAR« und »Gravity Assist« sind gleich zwei bei »Zürich liest’17« vertreten. Doch was kommt dabei heraus, wenn ein Unternehmensberater gemeinsam mit einem Account-Manager, einer Psychologin, einem Augenarzt und einer Kommunikationsspezialistin ein Buch schreibt, das diese »selber gerne lesen würden«? Eine Antwort darauf bietet der Debütroman des Autorenkollektivs »Gravity Assist«.

Zu hören waren sie an der Alderstrasse 21, dem Verlagssitz von rüffer & rub. »Seit 17 Jahren machen wir hier tolle Bücher.« Damit eröffnet ihre Verlegerin Anne Rüffer den Anlass. Zunächst thematisiert sie mit den Beteiligten den Entstehungsprozess der »Schwarzen Harfe« – so der Titel des Romans. Mit Nachdruck würdigt sie den 18-monatigen Entstehungsprozess und ruft zum Applaus auf. Der Hauptautor Stefan Bommeli offenbart im Gespräch, er habe schon immer den Wunsch gehegt einen phantastischen Roman zu schreiben. Im Schreibprozess hat er allerdings gemerkt, dass er für sein ehrgeiziges Projekt Unterstützung benötigen würde. Kontinuierlich hat sich Bommeli so Menschen und Kompetenzen an Bord seiner Raumfähre geholt. Zuerst den Freund aus Studientagen, dann die Ehefrau, den Schwager und eine weitere Vertraute. Es sei eh immer um den Roman gegangen, meint Berenice Bommeli. Da habe sie immerhin mitbestimmen wollen.

Die Autoren betonen das Gewicht einer einheitlichen Logik, stimmiger Psychologie und der Anschlussfähigkeit an unsere Welt und sind zuversichtlich, diesen Ansprüchen in ihrem Buch gerecht geworden zu sein. Rüffer gar lässt diesbezüglich keine Zweifel gelten. In der Auseinandersetzung mit dem rot-weiss gestreiften Untier namens »Kupran« offenbart das Kollektiv jedenfalls Phantasiereichtum. Im Gespräch berichten die Debütierenden von ihrer jeweiligen Lieblingsfigur, mit der sie sich stark identifizieren. Sie bezeichnen diese teilweise sogar als ihr »alter Ego«. Das Genre in dem sie schreiben, scheint also Tendenzen in Richtung Auto-Science-Fiction aufzuweisen. Zudem wirken auch tatsächlich romantische Motive hinein. Vielleicht hilft dabei ja der Umstand, dass einer der Koautoren ein Hoffmann im Doppelnamen führt. Als solches phantastisch-romantisches Element erscheinen im Roman metaphysische Träume und die brüchige Grenze zwischen Sinn und Wahn wird neu verhandelt. Die Verbandlung der oft gegeneinander ausgespielten Genren Sci-Fi und Phantastik scheint mithin das grösste Potential für wirklich Neues zu bieten – so die Hybridisierung denn gelingt!

Vergegenwärtigt man sich nochmals, dass Rüffer & Rub eigentlich Sachbücher macht, lassen sich die eingebauten Auszüge aus dem fiktiven »Illban-Allmanach« fast schon als wissenschaftssatirischen Impetus lesen. Vieles im Roman erinnert an bekannte Geschichten der Reverenzgenren. So gibt es etwa auch in der »Schwarzen Harfe« eine Spezies mit zurückgefahrenen Emotionen oder gar eine (Ring-)Handelsföderartion. Im Gespräch zeigt sich Stefan Bommeli bescheiden. Er ist sich bewusst, dass Frank Herberts »Dune«-Reihe, die er bewundert, einen sehr hohen Referenzpunkt abgibt und es anmassend wäre, den eigenen Roman in eine Linie damit zu stellen. Die Verlegerin hingegen verspricht sehr viel und legt dem Publikum das Buch demonstrativ nahe. Ob der Roman über die Standards eines epigonenhaften Machwerks hinausreicht, wird sich mit Beginn der Lektüre zeigen.

Going home disappointed

Das Theater Neumarkt gleicht bei der Gesprächsrunde zwischen Laurie Penny und Andi Zeisler mit seiner Empore beinahe einer Arena. Und doch wird es Penny und Zeisler an diesem Abend in keiner Weise darum zu tun sein, verbale Kämpfe auszutragen. Es lässt sich fragen, ob der Eindruck vermieden werden möchte, dass die vielfältigen Stimmen innerhalb des feministischen Diskurses auch uneins sein können. Die Moderation von Franziska Schutzbach jedenfalls ist so aufgebaut, dass man gerade so gut zwei Einzelgespräche hätte führen können: Eine Frage an Penny, eine an Zeisler. Die beiden grossen Feministinnen werden so bedauerlicherweise nicht dazu aufgefordert, mehr in ein Gespräch miteinander zu treten und auch darüber zu diskutieren, was sie voneinander unterscheidet. Wenn sie sich von den Fragen etwas entfernen und so etwas wie ein persönliches Gespräch zwischen den beiden entsteht, verkommt der Dialog bisweilen zur Slapstick-Einlage darüber, ob feministische Unterhosen jetzt mit angriffslustigen Zähnen geschmückt sein sollten, und die Rednerinnen bleiben in der Komfortzone des Gebiets, innerhalb dessen sie sich einig sind.

Unverständlich ist schliesslich, weshalb die Moderatorin zwei Bilder zeigt – einmal von den Riot-, dann von den Spice Girrrls – und dazu rhetorisch-süffisant fragt: «What happened?» Viel ist passiert. Und man muss ja sowohl das Riot Girl als auch das Spice Girl in einem Kontext verstehen, der nicht das eine mehr oder weniger politisch als das andere machen würde – von einer Industrie vereinnahmt sind ja sowieso beide.

Genug der Stänkerei: Die Textpassagen, die von der Schauspielerin Oriana Schrage aus den Werken Pennys und Zeislers vorgelesen werden, sind eindringlich und in klarer, gut verständlicher Sprache gehalten. Es wird durch Schutzbachs Fragen etwa evident, weshalb der Begriff der «Rape Culture» vonnöten ist, da sich mit seiner Hilfe erklären lässt, welches Leben als wertvoll betrachtet, welche Personen als glaubwürdig eingestuft werden. Der Hashtag «Me Too» wird kritisch beleuchtet und auf sein Potential hin befragt, das Problem wird benannt, dass Frauen, die am Arbeitsplatz belästigt werden, still bleiben, weil am kapitalistischen Arbeitsplatz ihre Körper Teil davon sind, was «for sale» ist. Penny erklärt ihren Begriff des «Neuen Chauvinismus», der ohne toxische Männlichkeit, Xenophobie und Misogynie nicht zu denken ist und es sich zur Aufgabe macht, nur die «richtigen» Frauen (also weisse Cis-Frauen) zu beschützen – und als Eigentum zu verstehen. Sie räumt mit sexuellen Märchen auf (die verharmlosende Redewendung «boys will be boys» kursiert im Internet momentan unter dem Meme «boys will be held accountable for their actions»), die auch davon zehren, dass Frauen untereinander die Solidarität aberzogen wird: Eher werden sie dazu angehalten, um männliche Aufmerksamkeit zu buhlen. Ihre lebensweltlichen Berichte werden als Klatsch und Tratsch abgetan, und die gleiche Kultur, die den Frauen beibringt, dass sie die Schuld an einer Vergewaltigung zu tragen haben, lehrt dies auch den Männern. Zeisler behandelt das Problem des «Marktplatzfeminismus»: Feministische Sprache und feministisches Gedankengut werden zunehmend für die Produktvermarktung verwendet; man könnte dabei prekärerweise meinen, im Feminismus sei schon alles passiert, was passieren kann. Spannend ist die Frage, welche Forderungen des Feminismus schlicht unvereinbar mit dem kapitalistischen Gesellschaftskonzept seien. Leider bleibt Penny bei der Antwort dann doch eher vage: «social welfare» und das Problem der «unpaid labour».

Der Abend endet damit, dass Penny und Zeisler gebeten werden, uns ihre Vorstellung einer «optimalen Welt» nachzuzeichnen. Das stimuliert sogleich eine lebhafte Diskussion darüber, dass von Feministinnen häufig eine vorgefertigte Lösung verlangt wird, die die beiden aber unmöglich leisten können. Zeisler bemerkt dazu traurig-schwarzmalerisch: «Feminism has a lot to do with going home disappointed.» Zuerst müsse einmal alles festgestellt werden, was falsch läuft. Damit sei man aber noch lange nicht so weit, dass man einen (Denk-)Raum hätte, auf dessen Basis sich eine neue, bessere Welt entwerfen liesse. Negative Energie – das Nachdenken über und wütende Streben wider Fehler des Systems –, so Schutzbach, habe ein grosses Potenzial, kenne aber im kapitalistischen positive thinking kaum einen Platz mehr.

Unsere Utopie jedenfalls hätte folgendermassen ausgeschaut: Mehr Kontroverse zwischen den beiden Feministinnen. Reibungspunkte hätten sie garantiert gehabt. Eine engagiertere Moderation, die so etwas wie ein echtes Gespräch in Gang gebracht hätte. Und vernünftige Fragen aus dem Publikum. Den Typen, der ernsthaft versuchte, die Frauen wegen der falschen Erziehung ihrer Söhne («like little kings») als Ursache des Problems darzustellen, hätte es nämlich wirklich nicht gebraucht. Wir haben uns dafür ein paar Feierabendbier mehr gegönnt.

 

Nadia Brügger und Simon Leuthold

«Je suis Zurichoise!» Heute bin ich keine Fremde mehr

Ken Bugul verzog keine Miene, während der Moderator Yves Raeber sie dem Publikum vorstellte. «Die senegalesische Autorin ist 1947 geboren als Mariètou Mbaye. Sie wurde mit dem Preis der Grand Prix littéraire de l’Afrique noire ausgezeichnet, lebte in 30 afrikanischen und ebenso vielen anderen Ländern. Zurzeit ist sie als Writer in Residence in Zürich zu Gast.» Als er ihr übersetzen wollte, was er soeben über ihr Leben erzählt hat, meinte sie nur: «J’ai bien compris». Sie habe schon verstanden, schliesslich kenne sie ihr Leben am besten. Von ihrer Lebensgeschichte handeln auch die meisten ihrer Bücher. Angekündigt war eine Lesung aus Le Baobab Fou, ihrem 1982 erschienenenDebüt, das ihre Kindheit und ihren Aufenthalt in Brüssel thematisiert. «Sie wollen, dass ich lese?», versicherte sie sich beim Moderator. «Wo?» Er zeigte ihr die Stelle und sie begann zu lesen. So ging das Spiel durch den ganzen Abend weiter. Die von Raeber ausgedachte Dramaturgie, die einzelne Textpassagen in eine chronologische Ordnung zu bringen, wurde von Bugul kritisch beäugt, aber befolgt. Und immer, wenn sie eine Stelle zu Ende gelesen hatte, folgte ein: «C’est vrai». «Das war wirklich so». Es wurde deutlich, dass es ihr ums Erzählen ging. Sie wollte sprechen über ihr Leben und die unglaublichen Dinge, die sie erlebt hatte. Das Lesen schien sie darin nur zu bremsen.

«Stellen Sie sich das vor!», verdeutlicht die Autorin. Das sei sehr einsam gewesen, ohne Mutter bei einem halbblinden 85-Jährigen Marabut aufzuwachsen. Ihre grösste Verletzung sei noch immer, dass ihre Mutter sie als fünfjähriges Mädchen verlassen habe. Buguls eigenes Lieblingsbuch ist denn auch De l’autre côté du regard, das von ihrer Beziehung zu ihrer Mutter handelt. «Ma pauvre mère», sagt sie an einer Stelle. Mittlerweile scheint sie doch mit ihr Frieden geschlossen zu haben.

Durch Le Baobab Fou erfahren wir von dem kolonialen Schulsystem Senegals in den 1950er Jahren. Ken Bugul identifizierte sich als Kind mit dem sauber angezogenen weissen Mädchen aus ihrem Schulbuch und war auf der Suche nach ihren Vorfahren, den Galliern. Sie las enorm viel, war fleissig in der Schule und erhielt so ein Stipendium für die Universität in Dakar. Als Teenager trug sie westliche Kleidung, oder zumindest das, was sie sich darunter vorstellte. Sie erhielt ein Stipendium für die Universität in Belgien, und ihr Traum schien in Erfüllung zu gehen. Doch in Brüssel fand sie nicht die lang ersehnte Antwort auf die Frage nach ihrer Herkunft. Im Gegenteil. Der Blick der Europäer machte sie zu einer Fremden. Zu einer Exotin.

Heute sei sie Zürcherin und keine Fremde mehr: «Je suis Zurichoise». «Gefällt es Ihnen in Zürich?», fragte Raeber nach. Es sei super, alles sei sehr sympathisch hier. Sie verbringe aber auch nicht nur Zeit in Zürich. So ein Stipendium sperre sie ja nicht ein. Berlin, Paris, Salzburg, Hamburg sind nur einige der Städte, die sie während ihres Aufenthaltes hier schon besucht hat.

«Ich lebte auf der Strasse, als ich meine autobiografische Triologie Le Baobab Fou, Cendres et braises und Riwan ou le Chemin de Sable geschrieben habe». Ken Bugul entfloh der Beziehung zu einem gewalttätigen Mann und kehrte im Alter von 30 Jahren in den Senegal zurück. Im Gepäck hatte sie keine Geschenke, sondern nur ihr Trauma. Ihre Geschichten wollte niemand hören, schliesslich galt Europa schon damals als «terre promise», ein Ort der Träume. Ihre Familie verstiess sie und die Gesellschaft verschloss sich ihr. Ein Jahr lang lebte sie auf dem Place de l’Indépendance in Dakar. Wie man sich denn das Leben auf der Strasse vorstellen soll, kam die Frage aus dem Publikum. «Das Leben auf der Strasse war super! Ich habe Lust zurückzukehren.» Sie, die später als 28. Frau des Serigne den Status einer Heiligen erhielt, kann heute gelassen auf diese Zeit zurückblicken. Die Zeit der Lesung war längst überschritten, aber das Publikum hing noch immer wie gebannt an ihren Lippen. Buguls Geschichte fasziniert. Obdachlosigkeit ist mit Vorurteilen behaftet, verkörpert Gefahr und gesellschaftlichen Fall. Diese starke Frau hat sich ihren Ängsten gestellt und sich so von ihnen befreit. Sie galt als Verrückte und lebte verstossen von der Gesellschaft. Wir, die durch unser behütetes Schweizer Leben ängstlich geworden sind, können von ihrer Narrenfreiheit nur lernen.

 

 

 

Spoken Word avant und après la lettre

Franz Hohler hat sich Lara Stoll zum «Dichterduett» im Theater Rigiblick eingeladen. Bereits das Genre, das Zürich liest ’17 diesem Zusammentreffen zugewiesen hat, verweist auf die vielfältige Ausrichtung der beiden Universalkunstschaffenden. Denn beide dichten nicht nur, sondern performen und machen eben auch Musik.
Schon nach weniger als einer Minute blitzt der Altersunterschied zwischen den beiden ein erstes Mal kurz auf: Franz Hohler spricht Stoll mit dem falschen Vornamen «Laura» an und entschuldigt sich sogleich für diesen Fehler. Er sei eben soeben Grossvater geworden. Eines Knaben namens Lauro. Das weckt die schöne Vorstellung, Hohler habe die junge Slammerin bereits kurzerhand geistig adoptiert. Das Gespräch beginnt von Hohlers Seite zunächst tatsächlich etwas grossväterlich. In der ersten Viertelstunde kommt er über einen einfachen Modus des Interviews («Was ist deine früheste Kindheitserinnerung?») nicht hinaus und versucht, fehlende Anschlüsse jeweils mit einem leicht verlegenen «guet, guet» zu überbrücken. Zum Glück reagiert Stoll prompt und stellt nach der Frage zu ihrem soeben abgebrochenen Philosophiestudium einen Vergleich her mit Hohler, der sein Germanistik- und Romanistikstudium vor Jahrzehnten ebenfalls (unter dem Vorwand, ein Jahr Pause machen zu wollen) für unbestimmte Zeit auf Eis gelegt hat. 
Jetzt kann auch Hohler frei reagieren, und das Gespräch nimmt schnell Fahrt auf. Es spielt sich, immer wieder durchzogen von Einzelvorträgen der beiden, auf zwei Ebenen ab. Auf der einen Seite diskutieren die beiden persönliche Erlebnisse und Hintergründe ihres Schaffens. Wir erfahren zum Beispiel, dass Hohler trotz seines deutlich höheren Alters wöchentlich immer noch bereit ist, zwei bis drei Auftritte zu geben, während Stoll lieber nur noch einen pro Woche plant. Sie sei faul geworden: «Ich dusche auch nicht. Ich bade, damit ich nicht stehen muss.» Stoll stellt fest, Hohler habe ja eigentlich «Muttertexte der Slampoetry» geschrieben, worauf er schmunzelnd konstatiert, er habe eigentlich  schon immer «Spoken Word» gemacht, auch schon, bevor der Begriff überhaupt stand. Andererseits sprechen sie dann auch deutlich tiefere Thematiken an: «Was ist eine Idee?», oder die Frage nach der Bedeutung von Dada. Hohler dazu: «Ich mag den anarchischen Umgang mit der Sprache. Die Dadaisten haben den Unsinn entdeckt, als Antwort auf den Unsinn in der Welt dazumals.»
Zu Höchstform laufen Stoll und Hohler dann auf, wenn sie ihr mitgebrachtes Material auf beiden Seiten Klassiker präsentieren. Hier ergänzen sie sich sehr harmonisch. Stoll ist schnell und teils ungestüm, Hohler ein bisschen ruhiger. Grundmodus: Sie performt etwas, er reagiert mit einem seiner Texte. Und die Harmonie geht bei den Themen weiter: 
Stoll: Deine Mutter, deine MUTter, DEINE mutter, deine mutter, DEINE MUTTER, deine Muht-ter […] hättest du anrufen sollen!
Hohler: Und wenn sie tot ist? 
Stoll: Dann hättest du früher anrufen sollen!
Hohler:

Es war einmal ein Kater, der hatte keinen Vater.
Er heulte hundertmal, jetzt ist es ihm egal.

Ihre gemeinsame Affinität zu Dada nutzen die beiden sprachanarchistisch Veranlagten auch gleich produktiv zu einem weiteren Sprachduett. Stoll betrauert den Verlust ihres Rechtschreib-Dudens. Plötzlich bemerkt sie im Supermarkt, dass sie gar keine «Dirnen» kaufen wollte, sondern «Vananen», und  beschimpft den Duden, der sie verlassen hat, als «verdampften Nacho». Kaum hat sich das Wörterbuch bei Stoll davongemacht, kommt es jedoch bei Hohler wieder zum Vorschein verstaubt und uralt: Hohlers neuer Roman «Das Päckchen» widmet sich intensiv dem Abrogans. Ein hübsches Zusammentreffen, das nochmals den kongenialen Geist der beiden Wortergriffenen veranschaulicht. Auch wenn zwischen den Menschen dann doch nicht ganz so viele Jahre liegen wie zwischen ihren sprachlichen Wegweisern. Am Abend selbst reagiert Hohler allerdings mit einem Text, den er für die Sprachzeitschrift Babylon verfasst hat und der die «Versandlerie unseres Fortschatzes» beklagt. Ein «Wurm zu Basel» sei im Begriff, zu entstehen.  Insgesamt ein wunderbar «dünntaktisch-semidiotischer» Abend!
Simon Leuthold und Fabian Hermann

Eine wie keine

Wer hat ihre Bücher nicht gelesen? Gerade der Klassiker der Jugendbuch-Literatur Der rote Seidenschal? Jede Frau kennt das Buch und die Autorin dahinter. Federica de Cesco, die Schriftstellerin, die sich mit ihren sehnsuchtsvollen und abenteuerversprechenden Romanen in unsere Herzen geschrieben hat. Die Frauenfiguren ihrer Romane, die angetrieben sind von Freiheit, Eigensinn und Mut, haben Generationen von Jugendlichen geprägt. Alle jungen Mädchen wollten plötzlich reiten lernen und sich in einen Indianer verlieben und mit ihm Abenteuer erleben.

Ja, wir Frauen haben ihre Bücher verschlungen. Und tun es immer noch. Denn mit fast 80 Jahren schreibt Federica de Cesco noch immer. Das Literaturhaus Zürich lud in Kooperation mit Kaufleuten Kultur an eine Hommage an diese aussergewöhnliche Schriftstellerin ein. Die Moderatorinnen des Abends, Gesa Schneider und Corina Freudiger, bezeichnen sich selber als grosse de Cesco-Fans. Auf die erstaunte Feststellung Corinas, dass sich auch einige Männer unter dem Publikum befanden, meinte Federica de Cesco schlicht: «Ich schreibe Bücher für Menschen, und da gehören die Männer auch dazu.»

Federica de Cesco bezeichnet sich selber als Feministin. Tatsächlich sind die Figurengestaltung und Handlungsführung ihrer ersten Romane fast schon von einem revolutionären Charakter, bedenkt man, dass sie ihre ersten Romane in den 50er Jahren geschrieben hat, in denen die Rolle der Frau noch ganz anderen Normen unterworfen war. Gerade diese Unbefangenheit war es wohl, die ihr zum Erfolg verholfen hat. Sie war jung und hat nicht darüber nachgedacht, sondern einfach geschrieben: «Ich habe das geschrieben, was ich empfand.»

Ihren ersten Roman Der rote Seidenschal, den sie mit 15 geschrieben hat, erfand sie auf dem Schulweg. Sie hat die Geschichte schliesslich niedergeschrieben, um ihn ihren Mitschülern zum Lesen zu geben. Dass es schliesslich zu einer Publikation kam, ist einer Berufsberaterin zu verdanken. Auf deren Vorwurf, Federica habe nicht viel Fantasie, präsentierte diese ihr Roman-Manuskript, worauf das Ganze an einen Verlag geschickt wurde. Und der Rest ist Geschichte.

Was Federica de Cescos Romane nicht zuletzt auszeichnet, ist das fundiert recherchierte Hintergrundwissen. So hat sie sich bereits in jungen Jahren ein erstaunliches ethnologisches Wissen angeeignet. «Ich war entsetzlich belesen», sagt sie und fügt hinzu, dass sie in der Bibliothek alles verschlungen habe, bevorzugt Philosophie und Geschichte. Immer, wenn sie den Namen eines ihr unbekannten Ortes gelesen hat, fragte sie sich: «Wo liegt das, was macht man da? Und voilà.» Ihre Bücher spielen in der Camargue, in Tokio, in der Sahara oder bei den Indianern.

«Wenn ich über die Apachen schreibe, dann sind sie so», stellt Federica de Cesco klar. «Okay, vielleicht ein bisschen idealisiert», fügt sie noch lächelnd hinzu. «Die Grundstruktur stimmt aber», betont sie nochmals, «ich will den LeserInnen schliesslich nichts vormachen.»

Dass es trotzdem dazu kommen kann, beweist eine Anekdote. Als eines ihrer Jugendbücher 1973 unter dem deutschen Titel Sterne über heissem Sand erschien, fragte bei einem Schulbesuch ein Schüler bei ihr nach, wie denn die Temperaturen in der Sahara seien. Als sie antwortete, am Tag werde es sehr heiss bis über 50 Grad und in der Nacht sehr kalt bis unter 0, hakte der Schüler weiter nach, warum dann der Titel, bitteschön, Sterne über heissem Sand laute?

Dass sie dennoch lieber in Deutsch als in Französisch schreibt, hat damit zu tun, dass sie die deutsche Sprache bewundere: «Mit der deutschen Sprache ist man freier im Schreiben, im Gegensatz zum Französischen. Es ist einfacher, neue Welten heraufzubeschwören, neue Wörter können leichter erfunden werden.»

Seit den 90er Jahren schreibt Federica de Cesco auch Bücher für Erwachsene. Solche Bücher seien leichter zu schreiben, meint sie. Jugendliche haben (noch) nicht die klassische Formation und einen weniger ausgeprägten Wortschatz, deswegen müssten Jugendbücher entsprechend «reduziert» geschrieben werden.

Ihr neues Buch für Erwachsene – Der englische Liebhaber – erscheint nächstes Jahr. Aus dem Manuskript liest de Cesco einige Seiten vor. Es sei das erste Mal, dass sie aus einem Manus – wie sie sagt – vorliest. Mit klarer und präzis eingesetzter Stimme beginnt sie vorzulesen, man merkt, wieviel Lesungserfahrung sie hat. Die Erzählung, die im ersten Eindruck doch deutlich misanthropische Züge trägt, handelt von einer deutschen Frau in der Nachkriegszeit, die als Dolmetscherin bei der englischen Besatzungsmacht arbeitet und sich in einen Hauptmann verliebt. Es ist die Geschichte einer grossen, einer ehrlichen Liebe – die Federica de Cesco auch in ihrem Privatleben gefunden hat. (Seit 47 Jahren ist sie mit ihrem Mann, dem japanischen Fotografen Kazuyuki Kitamura, verheiratet.)

Auf die Frage, ob Federica de Cesco noch etwas ihren jüngeren LeserInnen auf den Weg mitgeben möchte, sagt sie, was sie immer wieder erstaune, sei, dass so viele Angst haben vor dem Verlust der Schönheit. Das Leben sei nun mal ein biologischer Abbau, alles sei in dieser Welt vergänglich. Auch im Verwelken und in der verwelken Blume liegt – Poesie.

Populismus mal ganz entspannt

«Mutig, aber nur manchmal».

Diese Kritik blieb Res Strehle am meisten von seiner Zeit als Chefredakteur des «Tages-Anzeigers» in Erinnerung. So lässt sich auch die Podiumsdisukussion von Strehle und Kuckhart über Populismus und Medien charakterisieren. Im Karl der Grosse diskutierten beide unter der Leitung von Manfred Papst, Feuilletonredakteur der «NZZ am Sonntag». Oder, besser gesagt, sie einigten sich; denn in den meisten Fällen war ihr Gespräch keine Diskussion, sondern ein Austausch gleichgesinnter Meinungen.
Die Merkmale des Populismus, dies sie anfangs diskutieren – Fremdenfeindlichkeit, Unterkomplexität, emotionale Manipulation – sollten jedem bekannt sein, der die Thematik in irgend einer Weise verfolgt hat. Anschliessend wird noch die Unterscheidung zwischen linkem und rechtem Populismus gezogen und die Frage gestellt, ob Populismus manchmal notwendig oder gar etwas Positives an sich haben könnte. Ganz selbstkritisch gab sich Strehle, indem er auch den Hang der Medien zum Populismus thematisierte. Er zog zudem in Erwägung, dass in der Zeit von Clickbaits und ausufernder Likes-Abhängigkeit sich auch die Medien auf einer Gratwanderung befinden. In der zweiten Hälfte der Diskussion faserte der Fokus jedoch aus und wandte sich für ein breites Publikum eher weniger interessanten Themen wie Medienstrategien und Leserbindung zu. Abschliessend nahmen sich Strehle, Kuckhart und Papst noch viel Zeit, um einige Fragen des interessierten Publikums zu aufzunehmen. Am Ende war es an Papst, die Quintessenz des Abends zu ziehen: «Wir wissen auch vieles nicht».
Enrico Ehmann, Theresa Pyritz und Sascha Wisniewski

Wie man die Blindmaus vertreibt

«Ich bin neidisch, weil Sie Wasser haben.» Meir Shalev ist angetan von der Zürcher Stadtgärtnerei. Bei ihm zuhause im Norden Israels sei es von Juni bis September völlig trocken. Nur zwei oder drei Blumen wachsen in dieser Zeit in Shalevs Garten. Von dem erzählt der Autor im Gewächshaus einem fachkundigen Publikum – auf Nachfrage gibt mehr als die Hälfte der Besucher an, selbst einen Garten zu beackern.

Sein Garten sei wohl das Gegenteil eines schweizerischen Gartens: unprofessionell und wild. «Er ist ein Durcheinander.» Das Gärtnern hat sich Shalev selbst beigebracht. Vor achtzehn Jahren bezog er sein Haus und sah Blumen im Garten des Nachbarn. Da kam er auf den Geschmack und begann selbst, die Fläche um sein Haus zu bepflanzen. Wildblumen pflanzte er, weil diese stark genug seien, sowohl das harte Klima als auch seine schlechten Gartenkenntnisse überleben können. In seinem Buch «Mein Wildgarten» versammelt er Anekdoten aus seinem Gärtneralltag.

Meir Shalev mit Moderatorin Jennifer Khakshouri

Shalev berichtet von den Verwüstungen einer Blindmaus, die besonders gerne die Zwiebeln seiner liebsten Blumen angriff. Selbst für einen friedlichen Gärtner wird solch ein Gast zum Erzfeind, gegen den ein «totaler Krieg» begonnen werden muss. Nach etlichen gescheiterten Versuchen, das Tier zu ertränken, erschrecken, erschiessen oder zu erschlagen, hält Shalev jedoch inne. Er hat seine Zeit vergeudet, sich und der Umwelt geschadet. Warum und mit welcher Wirkung? Wer ist hier der Schädling? Heute pflanzt er seine wertvollsten Blumen in Töpfen und «verwaltet» den Konflikt mit der Blindmaus.

Es ist köstlich, diese und andere Anekdoten zu hören. Der Schauspieler Jaap Achterberg liest die Passagen zur hörbaren Freude des Publikums sehr anregend und dynamisch. Neben den gelesenen Passagen aus seinem Buch kommentiert Shalev seine Arbeit. Er spricht über seine Wildblumen und über die Tiere, die nachts aus dem angrenzenden Wildreservat seinen Garten besuchen. Das Gärtnern sei sein erstes richtiges Hobby geworden, erinnert sich Shalev.  Was hat das Schreiben mit dem Gärtnersein gemeinsam? Man brauche viel Geduld. Manche Samen, egal ob aus ihnen Blüten oder Geschichten kommen, müssen lange Zeit ruhen, um wachsen zu können.

Sein Buch «Mein Wildgarten» ist in Israel zum Bestseller geworden. Shalev vermutet dahinter auch religiöse Gründe. Denn sein Buch beschreibe den Garten als «einzigen normalen Ort in Israel». In einem Land, dessen Boden seit Jahrhunderten von drei Weltreligionen verehrt und umkämpft wird, biete der unspektakuläre und bescheidene Wildgarten einen beruhigenden Perspektivwechsel. Davon ist Shalev überzeugt. Gerade weil er nicht heilig ist, gerade weil niemand Besitzansprüche an sie stellt, werde die Erde seines Gartens zum Ort für neue Reflexion. «Jesus hat nie meinen Garten betreten.»

Shalev schlägt auch politische Töne an. Sowohl das Land, als auch der Autor werden im nächsten siebzig Jahre alt. «Wir sind beide siebzig, aber ich sehe besser aus.» Zum Geburtstag wünscht er dem Land vor allem eine bessere Regierung.

Enrico Ehmann, Julien Reimer


 

Revolution ist: eine Frau, die Fahrrad fährt

«Dieses Buch wirft einen Blick in eine Brennpunkt-Situation; nach Ägypten», sagt Bernhard Echte, der Gründer des Nimbus Verlags über SAYEDA, den neu erschienenen Fotoband von Amélie Losier. «Von der politischen Revolution im Nahen Osten haben wir viel gelesen, jedoch nicht über die gesellschaftliche Revolution, die sich dort zwischen den Geschlechtern abspielt.»

Am Donnerstagabend fand in der Modissa an der Bahnhofstrasse die Buchvernissage von «SAYEDA Frauen in Ägypten» statt, gefolgt von einem Gespräch und einer Ausstellung ausgewählter Fotografien. Mit so viel Andrang hatte Jean-Pierre Kuhn, der Geschäftsführer des Modehauses, nicht gerechnet. Seit drei Jahren veranstaltet er in der Filiale im Kreis 1 Lesungen und Gespräche zum Thema «Mut für die Macherin». Mit Losier verliess das Gefäss zum ersten Mal die Schweizer Grenzen und thematisierte mutige Frauen aus Ägypten. Ein Publikum aus Frauen allen Altersklassen füllten die Sitzplätze restlos aus. Darunter waren auch ein paar wenige Männer, die ihre Frauen begleiteten.

Susanne Schanda, Jean-Pierre Kuhn, Amélie Losier

Das Gespräch mit der französischen Fotografin Amélie Losier führte die Nahost-Expertin Susanne Schanda. Selbst Schanda, die seit 20 Jahren regelmässig nach Ägypten reist, muss gestehen, dass sie ihr bisher unbekannte Szenen in den Fotografien entdeckt hat. Da war die Frau auf dem Fahrrad, die Taxichauffeurin, die Töpferin oder die geheimnisvolle Shisha-Raucherin. 2014 reiste Losier zum ersten Mal nach Ägypten. Kritische Zeitungsberichte wie jene der Journalistin Mona Eltahawy  weckten ihr Interesse für Ägypten und öffneten ihr Blick für die patriarchalen politischen Strukturen, mit denen die Ägypterinnen täglich zu kämpfen haben. Während ihrer Reise wollte sie herausfinden, «wo» sich die Frau im öffentlichen Raum befindet und «was» sie dort tut. Den Zugang zu einem fremden Land und einer neuen Kultur schafft sich Losier über die Fotografie von Menschen auf der Strasse. Denn fotografieren heisst für Losier lernen. Auch führte sie lange Gespräche mit den Frauen, die sie porträtieren wollte. Durch die Gespräche mit den Frauen habe sich ihr Blick sensibilisiert für die kulturellen Feinheiten. Beispielsweise die Frau auf dem Fahrrad wäre ihr am Anfang der Reise nicht aufgefallen. Durch die Interviews wusste sie aber, dass dieser Anblick in Kairo nicht der Normalität entsprach. Losier hielt die Frau auf dem Fahrrad an, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Es war eine junge Studentin auf dem Weg zur Universität. Sie erzählte, dass der Sicherheitsmann der Universität sie anfänglich nicht auf den Campus lassen wollte mit ihrem Fahrrad. Mittlerweile toleriert er sie, doch von Akzeptanz kann noch nicht die Rede sein.

«SAYEDA Frauen in Ägypten» Nimbus. Kunst und Bücher

Die Interviews und weitere Kontext-Informationen, verfasst von der Kunsthistorikerin Hoda Salah und der Politikwissenschaftlerin Franziska Schmidt, sind ebenfalls Teil des Buches und ergänzen die Fotografien. Mit 30 sehr persönlichen Porträts gibt Losier einen authentischen Einblick in die ägyptische Gesellschaft und zeigt Frauen die keinen Klischees entsprechen.