Edition Unik: Jenseits des «Weisch no»

«Sie haben noch nicht das Alter», raunt mir meine etwa 75jährige Nebensitzerin zu. «Man weiss ja nie», entgegne ich, «aber meinen Sie, es geht hier vor allem um das Alter?» «Nein, das Interessante ist ja das Konzept. Ich schreibe ja auch schon lange, aber ich brauche ein Konzept.» Und ein Konzept bekommt man hier. Die Edition Unik, 2014 von Martin Heller ins Leben gerufen, gastiert heute im Erkerzimmer des Zentrums Karl der Grosse. Es handelt sich bei der Edition um kein beliebiges Schreibprojekt, keinen Book on demand-Betrieb, keinen Kurs im literarischen Schreiben. Viel eher könnte man von einer Herausforderung sprechen: Wer am Projekt teilnimmt, der stellt sich der Aufgabe, in knapp siebzehn Wochen sein Leben literarisch zu ordnen, vielleicht: es auch literarisch zu verstehen. Mithilfe einer App treten Menschen mit ganz unterschiedlichem Lebenshintergrund in einen Schreibprozess ein – und am Ende steht dann ein Buch, von dem ein Exemplar als Zeitdokument bei der Edition verbleibt, zwei andere in den Besitz der Urheberin oder des Urhebers übergehen. So floriert in der Edition Unik in grossem Stil und erstaunlicher Breite eine Textsorte, die man mit Jean Paul eine «Selbsterlebensbeschreibung» nennen könnte. Und nicht nur von Einzeltext zu Einzeltext, sondern gerade in der Zusammenschau der Autobiographien könnte sich hieraus ein beeindruckendes Archiv des Psychologisch-Privaten für zukünftige Generationen ergeben.

Am heutigen Sonntag sind allerdings erst einmal die Jetzigen zahlreich versammelt, mehrheitlich Angehörige der Generation Ü60, unterwandert von einigen jüngeren Semestern. Auf dem Podium sitzen drei AutorInnen der Edition, namentlich Pia Tschupp, Sonja Casutt und Jürg Vogel, begleitet von Kindern und Enkeln, Jürg Vogel von seinem Vater. Es wird Persönliches, bisweilen Persönlichstes gelesen und deutlich wird, dass «sein Leben schreiben» für jeden etwas ganz anderes heissen kann. Für Pia Tschupp ist es das «Weben eines Teppichs von einem Anfang, an den man sich nicht erinnert, zu einem Ende, von dem man nichts weiss». Ihre Geschichte – die sie mit Tochter und Enkelin vorträgt – führt aus einer katholisch geprägten Jugend in der Innerschweiz über eine lange Tätigkeit als Lehrerin in Ghana zurück ins Fricktal. «Löcher» gibt es, beim Weben darf es die Geben (beim Lismen eben nicht), Briefe werden zitiert und in den Text integriert – da schafft jemand Ordnung.
Ganz anders nutzt Sonja Casutt das Konzept der Edition – nämlich als Protokoll einer strapaziösen Krankengeschichte. Seit dem siebzehnten Lebensjahr leidet Casutt an dissoziativen Krampfanfällen; das Leben mit der Krankheit und ihren Folgeerscheinungen zu schreiben, stellte eine enorm anstrengende, therapeutisch zugleich wichtige Aufgabe dar, verbindet sich mit diesem Krankheitsbild doch auch ein «Ausser-Sich-Sein», mithin ein Zustand, der sich erzählerisch gerade nicht mehr ohne weiteres fassen lässt. Nicht von ungefähr haben an Casutts Text auch ihre Kinder mitgewirkt, die ihrer Geschichte zugleich die Aussensicht stiften.

In humoristischen Anekdoten wiederum versucht Jürg Vogel seine Adoleszenz festzuhalten. Zwischen Skiliftanlage, Zahnarztbesuchen, Erinnerungen an das Kollegium Engelberg wird auch hier eine Vergangenheit erkennbar, die sich zu retten lohnt – und an deren Erzählung nicht nur Vogel, sondern auch sein Vater immer noch erkennbar Freude haben.

Zeuge wird man an diesem Nachmittag von der strukturierenden, ja vielleicht auch rettenden Kraft des Schreibens. Der literarische Anspruch muss und darf hier gerne zurücktreten, er wird an dieser Stelle gerade einmal nicht gebraucht. Die Bedürfnisse, die hier durch die Literatur gedeckt werden, sind vielmehr elementarer Natur. Und das kommt vor allem anderen.

 

Die Schweiz haftet an Lewinsky

Charles Lewinsky wird bei seiner Lesung im Pfauen als Meister der Gattungen gepriesen. Vom Drehbuch übers Gedicht bis zum Roman liess er wenig unversucht. Und nun hat er sich erstmals an einen Krimi gewagt. Doch sein neues Buch «Der Wille des Volkes» ist vielmehr auch ein politisches Buch. Deshalb habe man die Lesung wohl auch von einem alternden Politiker moderieren lassen, meint der Alt-Regierungsrat Markus Notter augenzwinkernd.

Lewinsky zeichnet in seinem Buch das dystopische Bild einer Schweiz, die von Rechtspopulisten regiert wird. Es gibt darin nur noch sechs Bundesräte, da die eidgenössischen Demokraten eine solche Mehrheit im Parlament haben, dass sie den siebten Platz nur noch symbolisch für die Sozialdemokraten freihalten – um wenigstens den Schein einer Demokratie zu wahren. Unter diesen Umständen ist der pensionierte Journalist Kurt Weilemann dazu verdammt, nur noch Nachrufe schreiben zu dürfen, weil er die Verstorbenen ja «noch» gekannt hätte. Dabei werden ihm 1200 Zeichen für eine normale Leiche gewährt. Dass es sich beim Tod eines Kollegen nicht um eine solche, sondern um einen vertuschten Mord handeln muss, ist sich Weilemann sicher und beginnt – zum Widerwillen des Staates – zu recherchieren.

Um nichts von der Krimihandlung zu verraten, liest Lewinsky eher witzige, politisch brisante Stellen vor, die auch eindeutig die Stärke des Buches sind. Im Bezug auf die neuen Techniken sei das Buch auch in keiner Weise als Science-Fiction-Roman zu sehen, betont Lewinsky. Er beschreibt nichts, was es heute im Grunde nicht bereits gibt. Mit Ausnahme einer Rasiercreme, die man für ein glattes Kinnbloss aufzutragen brauche – das sei aber eher eine persönliche Wunschfantasie, wie der Autor verrät.

Auch die Lage des Journalismus beschreibe im Grunde die heutige Situation. Eine ziemlich pessimistische Aussicht laut dem Buch, in dem der alte Journalist von jungen Volontären verdrängt wird, die nicht mehr richtig schreiben könnten. Im Gespräch mildert Lewinsky sein Urteil etwas mit dem Begriff Umbruchszeit ab, in der die Zeitungen neue Funktionen finden müssen. Weil man heute die Infos bereits hat, wenn man die Zeitung aufschlägt, brauche es mehr Hintergründe oder neue Formate wie etwa das neue Projekt «Die Republik».

Die einzige Schweizer Zeitung, die in seinem Buch namentlich vorkommt und dabei nicht sehr gut wegkommt, ist «Die Weltwoche» – für die Lewinsky selbst einmal geschrieben hat. Er habe sich von Roger Köppel überreden lassen, ein Jahr lang wöchentlich einen Fortsetzungsroman zu schreiben. Dieser kam später unter dem Titel «Doppelpass» in Buchform heraus – nicht ohne Hiebe gegen die rechte Ausländerpolitik. Als seinen grössten Flop bezeichnet Lewinsky, dass er darauf kein einziges böses Mail bekommen hätte.

Nach ein paar Seitenhieben gegen die SRG («Entweder wird jodelnd gekocht oder kochend gejodelt») und einigen Sprichwörtern über Pessimisten, schliesst der Moderator Notter den Kreis mit einem passenden Geschenk, in Anlehnung an das neue Buchcover: Ein Ansteckwappen der Schweiz.

Davon, dass nicht immer alles verkehrt ist (aber das meiste schon)

In Yael Inokais neustem Werk Mahlstrom warten vergeblich: Adam, ein Tisch und ein Haus. Dass Adam dieser Beschäftigung zusammen mit zwei Gegenständen nachgeht, ist nicht weiter verwunderlich, wenn man einmal weiss, dass auch er ein Raum sein kann. Und zwar für seine Schwester: «Und ihr Raum war auch ich», begründet er fast triumphierend die Tatsache, dass Barbara vor ihrem Suizid nur ihm einen Abschiedsbrief hinterlassen hat. Sobald also Menschen zu bewohnbaren Räumen und Tische zu unter Schneedecken lastenden und von Pflanzen bekletterten Wartenden werden, hat die gleichzeitig wortwörtliche und metaphorische Verkehrung ins Dorfleben schon längst Einzug gehalten.

Inokai liest im Rahmen einer Sofalesung, deren Ziel es ist, gute Literatur «dringend sehr berühmt zu machen», wie es Marianne Bühler nennt, die den Abend einleitet. Nora Zukker führt das Gespräch mit Inokai, das sich zuerst um die Wahl der polyphonen Erzählperspektive dreht und um die Frage, ob man damit den einzelnen Figuren gerecht werden könne. Tatsächlich verhindert der Wechsel der Erzählfiguren gerade die endgültige Festschreibung eines Wissens hinsichtlich des Geschehens: So mag man – mit Nora Zukker – vermuten, dass der Selbstmord, der am Anfang des Werkes stehe, seine Begründung im Gefühl der Schuld von Barbara findet (die zusammen mit vier anderen Kindern einen Dorffremdling, Yann, beinahe totgeschlagen hat). Allerdings: Der Text gibt solch ein vorgefertigtes Wissen eben in keiner Weise preis.
Inokai liest eindringlich und bestimmt zuerst den Anfang, der beschreibt, wie ein ganzes Dorf nach der Selbsttötung eines Mädchens die eigene Sprache sucht und vorerst im Flüstern wiederfindet. Die Sprache wird durchgehend das grösste Problem bleiben: Man kann an ihr das Fremde erkennen (Yann spricht «Yannisch», wird als Mädchen beschimpft und versinkt am liebsten in Adams Armen) und damit ausgrenzen; man kann mit ihr aber auch ganze Geschichten zugunsten der eigenen auslöschen. Die Geschichte Barbaras muss dementsprechend genauso unerzählt bleiben wie die von Annemarie und Astrid. Sie alle werden von Nora, Adam und Yann nacherzählt und damit überschrieben. Erzählt wird folglich, wie Geschichten für sich selbst umgedeutet und so anderen weggenommen werden können. Dass Barbara wie ein Tier ertrinkt, wie es zu Beginn heisst, kommt dabei nicht von ungefähr: Inokai wird später auf Nachfrage in einer Haraway verpflichteten Denkweise erläutern, dass es weniger darum gehe, die prominent vorkommenden Hunde als Vermittlerfiguren zwischen Menschen zu verstehen, denen die Möglichkeit zur Verständigung abhandengekommen ist. Vielmehr seien die Tiere  als alternative Ausformung von Sprache und Körperlichkeit zu denken, die in der menschlichen Sozialstruktur schlicht nicht sichtbar seien. Kinder und Tiere gleichen sich dabei in ihrer gleichzeitigen Überreglementierung und Gesetzeslosigkeit.

Mahlstrom ist damit jedenfalls vor allem: ein sehr kluges Nachdenken über Perspektiven (mit verblüffenden Wendungen). Yael Inokai erweist sich hingegen als eine Gesprächspartnerin, mit der man sich ohne Zögern am Sofa festzurren liesse.

Irreführender Titel

«Rezensionen auf keinen Fall mit einem Zitat beginnen», riet der Dozent und verwies auf die elektronisch erfasste Rezeptionsverweigerung, die solche Auftakte provozieren, wobei ja jeder weiss, dass der noch zögerliche Leser vorranging verschreckt wird durch Satzgebilde, die – zum Beispiel aufgrund von Parenthesen – zu keinem Ende finden. Zu meiner wie der Leserschaft Erleichterung wird die seriöse Berichterstattung zur Sofalesung mit Yael Inokai von Kollegin Brügger übernommen, demnach sei dieser Beitrag eine so kurze wie euphorische Laudatio auf die Gastgeber: ein Danke der Dame des Hauses für Speis & Trank, deren Güte zweifellos auch zu schätzen wusste, wer sich nicht am Monatsende durch Bohnendosen löffelt, und dem Hausherrn, aus dessen imposanter Bibliothek sich jeder Zuhörer einige Exemplare abgreifen durfte («Wer den ganzen Knausgård nimmt, bekommt eine Tüte dazu»). Gerührt von dieser Grosszügigkeit, etwas beschickert und überladen wie eine Ameise taumelte ich heimwärts und fand auf Höhe Langensteinenstrasse an einer gutbürgerlichen Hecke Halt.
Wer nun den Eindruck gewonnen hat, die Verfasserin sei leichter zu bestechen als ein Mitarbeiter des sizilianischen Hochbauamts, dem sei versichert: unbedingt! Ich empfehle es selber nachzuprüfen.

 

Unsichtbar – aber spektakulär

Den Menschen am Rande der Gesellschaft eine Stimme zu geben – dies ist das Ziel des Projektes «Invisible Philosophy» des Künstlerduos Stefan Baltensperger und David Siepert. Seit mehreren Jahren beschäftigen sie sich mit dem Thema Migration; passenderweise stellten sie ihre Arbeit im Rahmen von Zürich Liest im Travel Book Shop vor. Für ihre letztes Werk gingen sie in den Grossraum Peking und stellten für einen Tag lang Wanderarbeiter an – sogenannte «invisible people» -, um sich Gedanken über das Leben zu machen und diese auf Papier zu bringen. Die Bedingung: Sie mussten ernsthaft den ganzen Tag daran arbeiten. Zu ihrem Schutz versprachen ihnen die Künstler strikte Anonymität.

Baltensperger und Siepert haben darauf geachtet, Männer und Frauen aus verschiedenen Altersgruppen für ihr Projekt zu gewinnen. Die Arbeiter schrieben meist über Dinge, die sie persönlich bewegen: Familie, Gesundheit, Ausbildung, Geld und Gesellschaft. Ihre Geschichten sind oft berührend: Eine Frau berichtet davon, wie sie zuhause misshandelt wird und fotografiert am Ende des Tages ihren Text, um ihn ihrer Familie zu zeigen. Aber auch abstraktere Gedankengänge gibt es. «Society is too real» schreibt ein Mann, und ein anderer beklagt den Druck des Geldes, das alles bestimmt – selbst Gott sei nicht allmächtig ohne Geld. Einige kommentieren auch, dass dies das erste Mal seit Langem sei, dass sie sich Gedanken über das Leben machen könnten oder danach gefragt würden. Das Projekt entfaltete somit doppelte Wirkung – für viele der Arbeiter genauso wie für uns Betrachter, die wir mit neuen Perspektiven konfrontiert werden.

Die Künstler sprachen auch über die vielfältigen Schwierigkeiten, mit denen sie umgehen mussten. Viele Arbeiter trauten sich die Arbeit nicht zu. Anderen war das stundenlange Schreiben zu anstrengend. Und dann war da noch das Problem der Übersetzung: Viele Tagesphilosophen schrieben in Dialekt oder in simplifiziertem Chinesisch, dass nur schwer in Mandarin, geschweige denn ins Englische, übersetzt werden kann. Drei Übersetzer brauchten mehrere Durchgänge, um ein zufriedenstellendes Resultat zu erreichen.

Diese Herausforderungen formten die Buch-Form, in der sie das Projekt publizierten. Maschinengeschriebene Übersetzungen in Mandarin und Englisch machen den Kern des Buches aus. Buchstäblich zwischen den Zeilen scheinen die originalen Abdrucke der Handschrift der Arbeiter durch: In japanischer Bindung wurden je zwei Seiten zusammengeklebt und die entstandenen Innenräume mit den Originaltexten bedruckt. Auch formell spiegelt das Buch somit den Facettenreichtum und die Komplexität des Projektes wieder. Die Arbeiter sind abwesend – unsichtbar – und gleichzeitig immer präsent.

Man kann sich dem Projekt «Invisible Philosophy» somit von vielen Seiten nähern. Man kann es als Denkanstoss nehmen, um über das Leben nachzudenken. Man kann darüber nachsinnen, wie sehr die Sorgen von chinesischen Wanderarbeitern den hiesigen ähneln. Und natürlich darüber, wie interessant es ist, den «unsichtbaren Menschen» zuzuhören. Dies ist der Verdienst dieser Arbeit von Baltensperger und Siepert: Sie macht das Unsichtbare sichtbar.

Geschichte und Geschichten

 

Im Gespräch mit Claudia Mäser, die für Bücher am Sonntag der NZZ zuständig ist, erzählt Eveline Hasler an diesem verregneten Sonntag, der einlud, es sich im NZZ-Foyer bequem zu machen, wie sie jeweils von der historischen Recherche zur literarischen Fiktion gelangt.

Bevor 1982 ihr erster Roman «Anna Göldin – Letzte Hexe» erschien, hat Eveline Hasler seit den 60er Jahren Kinder- und Jugendbücher geschrieben. Auf «Anna Göldin» folgten weitere historische Romane, wobei Hasler die Bezeichnung Roman nicht zusagt. Ihre literarischen Werke seien genre-mässig schwierig einzuordnen, basieren sie doch auf Fakten, die sie lediglich erzählerisch vermittle. Biografische Annäherung klinge jedoch auch seltsam, meint sie.

Die Vergangenheit fasziniert Hasler, die Geschichte studiert hat. Sich mit der Vergangenheit und Geschichte zu befassen und dies literarisch zu transponieren, stellt für Hasler eine Möglichkeit dar, Geschichten von früher – besonders von ungerecht behandelten und vernachlässigten Menschen wie Anna Göldin – zu transportieren. Ein Akt der Gerechtigkeit: Die Vergangenheit sei schliesslich nicht trennbar von der Gegenwart.

Wie geht man nun jedoch vor, wenn man aus einer riesigen Faktensammlung einen literarischen Text schreiben möchte? Es sei sehr aufwändig, antwortet Hasler. Anderthalb Jahre betreibe sie Recherche, um sich dann nochmals anderthalb Jahre dem literarischen Schreiben zu widmen. Der Beginn des Schreibens sei schliesslich das Schwierigste, denn wie entscheidet man, welche Szenen essentiell sind für die jeweilige Begebenheit? Ihre Verlegerin habe mal zu ihr gesagt: «Du musst alles wieder vergessen, was du gelesen hast.»

Erst mit einem distanzierten Blick sei es ihr deswegen möglich, die Geschichte zu visualisieren und sie dann niederzuschreiben. In ihrem nächsten Leben würde sie gerne Filmemacherin werden, meint Hasler lachend: „Das würde mir glaubs gefallen.“

Dass Hasler gerne Geschichten erzählt, merkte man an ihren oft ausschweifenden Antworten. So musste Mäser sie dann auch am Ende knallhart unterbrechen: gerade, als sie vom Abschnitt, den sie aus «Anna Göldin» vorlas – unter anderem ging es dabei um das Suchinserat für Anna Göldin, das 1782 in der NZZ gedruckt wurde – plötzlich noch einen umgekehrten Vergleich zur Königin von England ziehen wollte und von da weiter zu…wie dem auch sei. Geschichte schreibt schliesslich Geschichten.

«Ich gehe in den Wald und schreie die Bäume an»

Sonntagmittag im Strauhof. 18 erwartungvolle Literaturfreunde haben sich in den Räumen der James-Joyce-Foundation zu einem Workshop eingefunden, um eine Antwort auf die vielgestellte Frage zu bekommen: «Wie können Sie sich so viel Text merken?» Eine Frage, die der Schauspieler und Regisseur Lukas Waldvogel oft zu hören bekommt. Und auf die er den Teilnehmern eine Antwort zu geben versucht. «Rilke auswendig lernen» heisst der Workhop und das passt – im Strauhof ist gerade die Ausstellung «Rilke und Russland» zu sehen.

Waldvogel berichtet von der Kunst des Memorierens im alten Griechenland. Die Verschriftlichung von Texten war nicht alltäglich, Texte mussten daher auswendig gelernt werden. Dafür gab es eine beliebte Technik: Die Redner konstruierten mentale Landschaften, wo sie den Orten bestimmte Themenkomplexe zuordneten. Während des Vortrags liefen sie durch ihre Landschaften und riefen sich so den Inhalt der Rede ins Gedächtnis.

Interaktion beim Workshop

Diesen Tipp gibt Waldvogel auch den Workshop-Teilnehmern: Bauen Sie sich eine Welt mit dem Text, den Sie lernen wollen. Dafür bieten sich starke Bilder an – je stärker, desto besser. Zunächst muss man aber versuchen, den Text zu verstehen. Waldvogel empfiehlt, dabei alles Vorwissen zu «vergessen» und ganz neutral an den Text heranzugehen.

Das erproben die Teilnehmer an Rilkes Gedicht «Abend» und tauschen in der Runde ihre mentalen Landschaften aus. Diese sind sehr unterschiedlich: Die eine Frau sieht einen baumumstandenen See vor sich, ein Mann dagegen einen Garderobenständer mit verschiedenen Mänteln. Eine andere Teilnehmerin denkt ans Theater und die nächste an ganz abstrakte Ortschaften. Waldvogel ermutigt die Gruppe, individuelle Zugänge zum Text zu finden. Schön zu wissen: Dabei gibt es kein Richtig oder Falsch.

Zusammen mit einem Partner erarbeiten sich die Teilnehmer dann Rilkes Gedicht. Sie tragen es sich gegenseitig vor und ergänzen bei jedem Durchgang ein Stück mehr. Am Ende des Workshops schaffen es die meisten, die erste Strophe auswendig zu rezitieren. Für den Rest können sie nun Waldvogels Geheimtipp beherzigen: «Ich gehe in den Wald und schreie die Bäume an.»

Theresa Pyritz, Julien Reimer

Jetzt sind Sie dran, versuchen Sie’s!

Abend

Der Abend wechselt langsam die Gewänder,
die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;
du schaust: und von dir scheiden sich die Länder,
ein himmelfahrendes und eins, das fällt;

und lassen dich, zu keinem ganz gehörend,
nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend
wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt –

und lassen dir (unsäglich zu entwirrn)
dein Leben bang und riesenhaft und reifend,
so daß es, bald begrenzt und bald begreifend,
abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.

Rainer Maria Rilke

Thriller goes Tram. Mit den «Sisters in Crime» durch Zürich

Als ich zehn Minuten vor Lesungsbeginn das Cobratram am Bellevue betrete, ist der erste Eindruck schlimmer als bei einem blutrünstigen Krimi: Feierabendverkehr! Und das am Sonntagmittag kurz vor 12 Uhr. Und selbst im Krimitram, in dem die Zürcher «Sisters in Crime», Petra Ivanov und Mitra Devi, ihren gemeinsam verfassten Thriller «Schockfrost» präsentieren, werden die wenigen leeren Sitze von ziemlich grossen Handtaschen beansprucht. Ich ergattere einen der letzten Plätze, sogar einen mit ordentlich Beinfreiheit, dafür aber mit dem Rücken zu den Lesenden.

Mich die ganze Zeit umzudrehen war dann doch zu mühsam, und so konnte ich die vorbeiziehende Innenstadt geniessen, während Devi nach der kurzen Anmoderation direkt zu lesen begann. Meine Sitzposition eröffnete mir immerhin, was den meisten anderen Zuhörern verborgen blieb: Unser Tram wurde, zumindest auf den ersten paar Metern, von einer Streife der Stadtpolizei Zürich eskortiert. Der Krimi-Mittag konnte beginnen.

Devi und Ivanov lasen abwechselnd Passagen aus ihrem Buch. Am Anfang war das etwas verwirrend und zusammenhangslos, doch Schritt für Schritt wurden die präsentierten Figuren in einen Kontext gestellt. Zwischen den Passagen erörterten die beiden Autorinnen immer wieder den Rahmen ihres Thrillers und zogen die nötigen Verbindungen zwischen den vorgestellten Figuren. So hatten wir etwa zur Hälfte der Lesung, beim Bahnhof Altstetten, langsam aber sicher ein Bild davon, was uns bei «Schockfrost» erwartet.

Während Devi beim Vorlesen eine unheimliche Stimmung heraufbeschwört, ist Ivanov das Gegenteil. Sie liest ruhig und langsam und schafft so einen Gegenpol zu Devi. Am besten kommt diese Kombination zur Geltung, als die beiden gegen Ende zusammen lesen: Ivanov übernimmt die direkte Rede der Psychiaterin Sarah, während Devi die Erzählinstanz und Sarahs Patienten Georg liest. Als dem unter Verfolgungswahn leidenden Georg während seiner Sitzung bei Sarah ein Küchenmesser aus der Jacke fällt, hält Ivanov inne. Sie klärt die Fahrgäste auf, dass die Kapitel eines Thrillers eigentlich immer mit einem Cliffhanger enden, so wie dieses hier. Ausnahmsweise würden sie heute und nur für uns noch eine Szene mehr lesen.

Doch die Freude über diese Grosszügigkeit ist nur von kurzer Dauer: Auch die nächste Szene endet mit einem mindestens so grossen Cliffhanger. Ivanov grinst verschmitzt und meint lediglich, dass sie ewig so weitermachen könnte. Überraschend war dann auch, dass die beiden Autorinnen, die bekannt für ihre Zürcher Krimis sind, den mobilen Lesungsort entgegen meinen Erwartungen nicht ausgenutzt haben. Die erzählten Passagen spielten irgendwo im Nirgendwo, während draussen die bekannteren Ecken Zürichs in voller Pracht erstrahlten. Trotzdem hat die Lesung Lust auf das Buch gemacht, doch das eigentliche Highlight folgte erst noch: Die beiden Autorinnen erörterten abschliessend noch, wie es ist, gemeinsam ein Buch zu schreiben.

Ivanov und Devi arbeiten schon lange zusammen. Bis anhin haben sie aber nur ihre Texte gegenseitig Korrektur gelesen. Der gemeinsame Thriller war ein Experiment, bei dem man sich alles andere als sicher war, ob das funktionieren kann. Während Devi Storyboards zu ihren Geschichten verfasst und alles genauestens plant, schreibt Ivanov lieber einfach mal drauf los und schaut dann, wie sich ihre Figuren entwickeln. Zu Beginn hat sich Ivanov durchgesetzt und sie haben einfach einmal drauf los geschrieben. Das hat einige Kapitel gut geklappt, doch dann musste für Devi ein Minimum an Planung her.

Das Wichtigste war den beiden, dass man am Ende nicht erkennen konnte, wer was geschrieben hat. Devi erklärte, sie hätte beim Überarbeiten die Teile Ivanovs «devisiert», während diese ihre Teile wiederum «ivanovisiert» hat. Das scheint funktioniert zu haben. Ihre Testleser, welche die Texte beider Autorinnen gut kennen, hätten nicht mehr herauslesen können, wer was geschrieben hatte.

Mühe hat den beiden Krimiexpertinnen dann noch der Schluss bereitet, denn sie hätten sich erst nicht darauf einigen können, wer sterben soll. Laut Ivanov sei dieses Sterben aber schliesslich doch sehr organisch passiert. Diese Aussage bringt das Publikum bereits zum Schmunzeln, doch Devi setzt noch einen drauf. Sie werden vielleicht wieder einmal zusammen ein Buch schreiben, meint sie, doch es werde ziemlich sicher keine Fortsetzung sein. Das wäre schwierig, denn dafür hätten zu viele Figuren den «Schockfrost» nicht überlebt.

Der Autor ist unsichtbar

«Polonaise» nennt sich die Tanzpraxis, der man sich bedient, um uns in einen völlig verdunkelten Raum zu führen. Das Personal der Blinden Kuh geleitet zu unsichtbaren Tischen, serviert einen kleinen Apéro und steht mit Rat und Tat zur Seite, um sich in diesem verfremdeten epistemischen Zustand zurecht zu finden. Der Raum klingt nicht sehr gross, das Publikum riecht gespannt und das Porzellan in den Händen fühlt sich glatt und weiss an. Man wartet auf Michael Fehr, der hier in der Finsternis bald einige seiner Geschichten aus dem kürzlich erschienenen Band Glanz und Schatten lesen wird – so behauptet man zumindest. Ob der Autor wirklich da ist, bleibt im Dunkeln.

Wie kaum ein anderer erkämpft sich der Berner Autor mit seiner eindringlichen Stimme Präsenz in seinen Texten. Man kennt ihn als den Künstler, der in persona für sein Wort einsteht, umso irritierender ist es, wenn dieser Performer bei seinem Auftritt unsichtbar bleibt. Allerdings macht er das auch nicht zum ersten Mal.

Michael Fehr beim Auftritt (für höhere Auflösung, Augen schliessen)

Eigentlich arbeite er oft mit Gesten und Mimik, wird er uns später in einem kurzen Gespräch erklären, Ausdrucksmöglichkeiten, die im Dunkeln entfallen, alles bliebe an der Stimme zu sagen. Seine letzte Geschichte beendet er sogar mit dem Hinweis, dass er die Arme zu einer beglückwünschenden Geste ausgebreitet habe – natürlich nicht ohne ein unübersehbares ironisches Augenzwinkern.

Wieder einmal beweist ein «Spoken-word»-Künstler, wie unscheinbar und ausdruckslos Wortwiederholungen sind, wenn sie tot auf dem Papier liegen bleiben. Es pulsiert, es lebt. Es ist eine Interaktion mit dem Hörer. Wer Michael Fehrs Texte kennt, dem fällt auf, dass sich der Autor nicht immer ganz an sein Gedrucktes hält. Er ertastet, was in welchem Publikum funktioniert. Da wird eine Phrase wiederholt, die der Text alleine stehen lässt und auch die Mücken in «Im Schwarm» haben heute öfters zugestochen als auch schon.