«Mord erlaubt»

Am 7. Oktober 2006 wurde die Journalistin Anna Politkowskaja im Treppenhaus vor ihrer Wohnung ermordet. Der Täter schoss fünfmal auf die Frau, die gerade ihre Einkaufstaschen trug – am Geburtstag des russischen Präsidenten Putin.

Was nach einem spannenden Theaterstoff klingt, beruht leider auf einer wahren Begebenheit. Die unerschrockene amerikanisch-russische Journalistin riskierte ihr Leben, indem sie kritische Reportagen über den Krieg in Tschetschenien, die Verbrechen der russischen Armee, Korruption und Folter schrieb. Ihr ist das Theaterstück «Anna Politkowskaja – Eine nicht umerziehbare Frau» gewidmet. In einem Monolog vermischt die Schauspielerin Kornelia Lüdorff Fakten aus dem Krieg mit Auszügen aus den Büchern und russischen Tagebüchern von Politkowskaja. Ihr letztes Buch trug den Arbeitstitel «Mord erlaubt». Sie wusste um die Gefahr, in der sie lebte, und wurde schon bald als «Feindin des russischen Volkes» Opfer eines Giftanschlags. Auch eine ihr ähnelnd sehende Nachbarin wurde erschossen. Doch Politkowskaja schrieb weiter. Bis zu ihrem Tod.

Es ist schwer zu fassen, dass diese erschreckende Geschichte, die in völlig reduzierter Form auf der Bühne erzählt wird, wirklich wahr ist. Trotz des nüchternen Zugangs über die Fakten, berühren und erschüttern die Auszüge aus Politkowskajas Büchern und die nacherzählten Dialoge – etwa mit einem abgebrühten 19-jährigen russischen Soldaten – bis aufs Tiefste. Wie eine einzige Schauspielerin diese tragische Geschichte auf der Bühne zum Leben erwecken kann, ist erstaunlich.

Ein Jahr nach der Ermordung schrieb der italienische Autor Stefano Massini diesen Monolog, der nun in einer Übersetzung in Zürich im Sogar Theater seine Erstaufführung feierte. Das Thema ist auch nach zehn Jahren noch hochaktuell. Kaum zwei Wochen ist es her, dass die regierungskritische Journalistin Daphne Caruana Galizia in Malta mit einer Autobombe ermordet wurde. Es sind Angriffe auf die Presse- und Meinungsfreiheit, die nicht zuletzt mit dem Rechtsrutsch in Europa eine unangenehme Dringlichkeit bekommen.

Im Interview nach der Aufführung erzählt die Schauspielerin Kornelia Lüdorff wie viel Respekt sie vor dieser Rolle hatte. Sie fragte sich, wie man einer solch mutigen Frau überhaupt gerecht werden könne. Es sei ihr schwer gefallen, nicht zu emotional an den Stoff heranzugehen, der bei den anfänglichen Proben immer wieder ins Dramatische zu kippen drohte. «Weg mit den Emotionen!», rief dann die Regisseurin Jennifer Whigham. Nicht die Schauspielerin dürfe sich die Erschütterung anmerken lassen, es sei vielmehr ihre Aufgabe, diese durch nüchterne Fakten beim Zuschauer hervorzulocken. Das Theater gibt solch politisch dringlichem Stoff einen Raum, indem sich der Zuschauer der Geschichte öffnet und ein nachhaltiger Eindruck zurück bleibt.

Genau dies ist im intimen Rahmen des kleinen Sogar Theaters an diesem Abend besonders zu spüren. Die anfängliche Erschütterung der Zuschauer von diesem schweren Thema weicht angeregten Diskussionen an der Bar. Anna Politowskaja lebt somit nicht nur im Theaterstück, sondern nun auch in der Erinnerung daran weiter.

Es bleibt dabei: die Gedanken sind frei!

In stimmungsvoller Atmosphäre, inmitten von anthroposophischen Büchern und roten, mit Namen versehenen Samtstühlen steht Patricia Litten und erzählt von den Gräueltaten der Nationalsozialisten, begangen an ihrem Onkel Hans. Dokumentiert sind diese im Buch ihrer Grossmutter, Eine Mutter kämpft gegen Hitler, aus dem Litten heute vorträgt:

Hans Litten war Rechtsanwalt. Er trat entweder als Verteidiger auf – wenn Kommunisten angeklagt waren; oder als Vertreter der Geschädigten – wenn Nationalsozialisten auf der Anklagebank sassen. Es war unvermeidlich, dass er zu Schaden kommen musste.

Hans war sehr erfolgreich und weithin geachtet wegen seiner forensischen Erfolge und stammte darüber hinaus aus einer angesehenen Familie. Dies rief natürlich auch Neid hervor, der sich bald zu Hass steigern sollte. Litten befragte Hitler selbst als Zeuge im Felseneck-Prozess zu Nazi-Terrorismus. Er wollte aufzeigen, dass die nationalsozialistische Partei Gewalttätigkeiten ihrer Mitglieder dulde, ja gar hervorrufe. Hitler zog sich damals aus der Affaire, aber Litten hatte ihm gehörig zugesetzt, was Hitler ihm nie vergessen sollte. Wohlbemerkt, dies war noch vor der Machtergreifung. Je mehr Macht Hitler erlangte, desto mehr Anwälte flohen. Litten war jedoch überzeugt:

Das Recht ist für die Schwachen, ich gehe keine Konzessionen ein. Millionen von Arbeitern können nicht raus, also muss ich bleiben.

In der Nacht des Reichstagsbrands wurde Hans in Schutzhaft genommen, zuerst im KZ Sonnenburg später in Lichtenburg, Buchenwald und Dachau. Während fünf Jahren war er ohne klare Anklage inhaftiert. Er wurde schwer misshandelt, körperlich und mental gefoltert. Als seine Mutter die Ärzte darauf ansprach, taten sie die Vorwürfe als natürliche Haftpsychose ab: er verletze sich selber um Aufmerksamkeit zu erlangen. Die Mutter rief alle ihre Bekannten dazu auf, sich für Hans Litten bei Hitler zu verwenden. Sie besuchte diesbezüglich unter anderem den Reichswehrminister Herr von Blomberg, den Reichsjustizminister Güntner und den Reichsgerichtspräsidenten Freisler . Doch niemand konnte Hitler erweichen. Durch verschiedene Quellen erfuhr sie, dass durch grausame Misshandlungen Hans systematisch zum Selbstmord getrieben werden sollte.

Hans stand immer wieder in Briefkontakt mit seiner Mutter und durfte sie zwischenzeitlich als Besucherin empfangen. Die Briefe und Unterhaltungen waren natürlich verschlüsselt. Der Code flog mehrmals auf und es war schwierig die neuen Codes einander mitzuteilen. Einmal bat Hans um Gift. Unter Druck bekannte er sich Verbrechen schuldig, die er nie begangen hatte. Als Christ und Mensch  mit grossem Moralverständnis konnte er jedoch  nicht mit der Lüge leben. Er widerrief die Falschaussage und nahm das Gift um den angedrohten Konsequenzen eines Widerrufs zu entrinnen. Er überlebte nur knapp.

Trotz allem Leiden und obwohl er körperlich gebrochen war, blieb sein Interesse an seinen Mitmenschen und der Wissenschaft wach. Seine Kämpfernatur brach immer wieder hervor. Als die Gefangenen vom KZ Lichtenburg aufgefordert wurden ein nationalsozialistisches Fest zu feiern, trug Hans Litten ein Gedicht in Gegenwart der SS vor. Dies ist ein Ausschnitt daraus:

Und sperrt man mich ein
in finstere Kerker,
das alles sind rein
vergebliche Werke.
Denn meine Gedanken
zerreissen die Schranken
und Mauern entzwei:
Die Gedanken sind frei!

Am 5. Februar 1938 wurde bekannt, dass Hans Litten sich  in Dachau erhängt hatte. Seine Beerdigung erfolgte ohne Aufsehen, anwesend waren lediglich seine Mutter, eine ihrer Freundinnen und der Organist.

Die Geschichte von Hans wurde verfilmt und als Theater aufgeführt. Seine Nichte spielte im Theaterstück Taken at midnight ihre Grossmutter. Patricia Litten ist auch verantwortlich für die Neuauflage des Buches mit einem neuen Nachwort. Am Ende der Lesung öffnet sie den Blick und verweist auf die Nachfahren von Hans Litten. Es sind dies Rechtsanwälte, die zwar nicht mit ihm verwandt, aber mit ihm im Kampf um das Recht verbunden sind, und nicht wenige teilen auch das Verfolgungsschicksal. Sie heissen, zum Beispiel, Abdolfattah Soltani aus dem Iran, Hüsnü Öndül aus der Türkei oder Zhou Shifeng aus China.

Es gibt keine schlechte Zeit, um Anwalt zu sein. Im Gegenteil, es ist eine grosse Zeit, die grossartige Anwälte gebiert. Anwälte, die Mut, Weisheit und Gewissen brauchen.

Die Geschichte von Hans Litten zeugt wie die Tagebücher von Anne Frank oder das Leben der Geschwister Scholl von erlittenem Unrecht und Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Darüber hinaus zeigt sie auf, dass auch Einfluss und Ansehen den Hass Hitlers nicht aufhalten konnten. Seine Geschichte bewegt die Anwesenden sicht- und hörbar. Dies ist nicht zuletzt auch der Präsentation durch die ausgebildete Schauspielerin Patricia Litten wie auch Birgit Förstner zu verdanken, die die Lesung auf ihrem Cello begleitete.  Es war höchste Zeit, dass das Buch auch nach Zürich kam. Patricia Litten wuchs als Flüchtlingskind in Zürich auf. Ihr Vater Rainer, der Bruder von Hans, floh aus Deutschland und war sowohl als Regisseur als auch als Leiter des Theaters Am Central tätig.

Hans Litten wird zumindest auf dieser Welt kein Recht mehr widerfahren, aber auch heute noch braucht die Welt Rechtsprecher, die die Wahrheit über das eigene Wohlergehen setzen und gegen Unrecht einstehen. Möge das Wirken seiner geistigen Nachfahren erfolgreicher sein als seines.

Spoken Word avant und après la lettre

Franz Hohler hat sich Lara Stoll zum «Dichterduett» im Theater Rigiblick eingeladen. Bereits das Genre, das Zürich liest ’17 diesem Zusammentreffen zugewiesen hat, verweist auf die vielfältige Ausrichtung der beiden Universalkunstschaffenden. Denn beide dichten nicht nur, sondern performen und machen eben auch Musik.
Schon nach weniger als einer Minute blitzt der Altersunterschied zwischen den beiden ein erstes Mal kurz auf: Franz Hohler spricht Stoll mit dem falschen Vornamen «Laura» an und entschuldigt sich sogleich für diesen Fehler. Er sei eben soeben Grossvater geworden. Eines Knaben namens Lauro. Das weckt die schöne Vorstellung, Hohler habe die junge Slammerin bereits kurzerhand geistig adoptiert. Das Gespräch beginnt von Hohlers Seite zunächst tatsächlich etwas grossväterlich. In der ersten Viertelstunde kommt er über einen einfachen Modus des Interviews («Was ist deine früheste Kindheitserinnerung?») nicht hinaus und versucht, fehlende Anschlüsse jeweils mit einem leicht verlegenen «guet, guet» zu überbrücken. Zum Glück reagiert Stoll prompt und stellt nach der Frage zu ihrem soeben abgebrochenen Philosophiestudium einen Vergleich her mit Hohler, der sein Germanistik- und Romanistikstudium vor Jahrzehnten ebenfalls (unter dem Vorwand, ein Jahr Pause machen zu wollen) für unbestimmte Zeit auf Eis gelegt hat. 
Jetzt kann auch Hohler frei reagieren, und das Gespräch nimmt schnell Fahrt auf. Es spielt sich, immer wieder durchzogen von Einzelvorträgen der beiden, auf zwei Ebenen ab. Auf der einen Seite diskutieren die beiden persönliche Erlebnisse und Hintergründe ihres Schaffens. Wir erfahren zum Beispiel, dass Hohler trotz seines deutlich höheren Alters wöchentlich immer noch bereit ist, zwei bis drei Auftritte zu geben, während Stoll lieber nur noch einen pro Woche plant. Sie sei faul geworden: «Ich dusche auch nicht. Ich bade, damit ich nicht stehen muss.» Stoll stellt fest, Hohler habe ja eigentlich «Muttertexte der Slampoetry» geschrieben, worauf er schmunzelnd konstatiert, er habe eigentlich  schon immer «Spoken Word» gemacht, auch schon, bevor der Begriff überhaupt stand. Andererseits sprechen sie dann auch deutlich tiefere Thematiken an: «Was ist eine Idee?», oder die Frage nach der Bedeutung von Dada. Hohler dazu: «Ich mag den anarchischen Umgang mit der Sprache. Die Dadaisten haben den Unsinn entdeckt, als Antwort auf den Unsinn in der Welt dazumals.»
Zu Höchstform laufen Stoll und Hohler dann auf, wenn sie ihr mitgebrachtes Material auf beiden Seiten Klassiker präsentieren. Hier ergänzen sie sich sehr harmonisch. Stoll ist schnell und teils ungestüm, Hohler ein bisschen ruhiger. Grundmodus: Sie performt etwas, er reagiert mit einem seiner Texte. Und die Harmonie geht bei den Themen weiter: 
Stoll: Deine Mutter, deine MUTter, DEINE mutter, deine mutter, DEINE MUTTER, deine Muht-ter […] hättest du anrufen sollen!
Hohler: Und wenn sie tot ist? 
Stoll: Dann hättest du früher anrufen sollen!
Hohler:

Es war einmal ein Kater, der hatte keinen Vater.
Er heulte hundertmal, jetzt ist es ihm egal.

Ihre gemeinsame Affinität zu Dada nutzen die beiden sprachanarchistisch Veranlagten auch gleich produktiv zu einem weiteren Sprachduett. Stoll betrauert den Verlust ihres Rechtschreib-Dudens. Plötzlich bemerkt sie im Supermarkt, dass sie gar keine «Dirnen» kaufen wollte, sondern «Vananen», und  beschimpft den Duden, der sie verlassen hat, als «verdampften Nacho». Kaum hat sich das Wörterbuch bei Stoll davongemacht, kommt es jedoch bei Hohler wieder zum Vorschein verstaubt und uralt: Hohlers neuer Roman «Das Päckchen» widmet sich intensiv dem Abrogans. Ein hübsches Zusammentreffen, das nochmals den kongenialen Geist der beiden Wortergriffenen veranschaulicht. Auch wenn zwischen den Menschen dann doch nicht ganz so viele Jahre liegen wie zwischen ihren sprachlichen Wegweisern. Am Abend selbst reagiert Hohler allerdings mit einem Text, den er für die Sprachzeitschrift Babylon verfasst hat und der die «Versandlerie unseres Fortschatzes» beklagt. Ein «Wurm zu Basel» sei im Begriff, zu entstehen.  Insgesamt ein wunderbar «dünntaktisch-semidiotischer» Abend!
Simon Leuthold und Fabian Hermann

Er liebte sie mehr als alle Schafe, Kühe und Pferde

«Wie ein lebendiger Sir Lancelot war er in ihr Leben gestürmt und hatte ihr Herz erobert», raunte Dustin Hofmann über den Rand des sprechenden Covers «Der Liebesschwur des Highlanders» ins Mikrophon. DieHistorical-Gold-Ausgabe ist nur eine von vielen Varianten des Kioskromans, aus denen Nora Zukker und Dustin Hofmann zu später Stunde im Karl der Grosse ihre persönlichen Highlights vorlasen. Sie führten das Publikum sachte in die erotischen Untiefen der Groschenliteratur, bauten langsam Spannung auf und führten das Publikum Schritt für Schritt zum Höhepunkt. Des Abends natürlich.

Die Geschichten von Rokko, Sergio, Domenico, Samantha, Sue, Alisha und wie sie alle hiessen, deckten von Historical Highland-Erotik bis zu New Yorker Speed-Dating-Romantik alle Genres und Vorlieben ab. Begierig wartete das Publikum auf altbekannte Klischees und neue Fantasien und bejubelte Sätze wie: «Sie war kurz davor, den Gipfel zu stürmen»; «Ihre Zungen tanzten Tango»; «Immer wieder wurde sie von neuen Nachbeben erschüttert»; «Legen Sie los» oder «Aphrodite, die Schaumgeborene, stieg in ihrem Schlafzimmer im Morgenlicht aus dem Meer».

Historical Gold, Historical Season, baccara, Julia

Der Abend bot Inspiration für bleibende Komplimente. Von einem gewissen Coleyne lernten wir, dass er seine Mary mehr als alle Kühe, Schafe und Pferde liebte und von Rokko, dass seine Angebetete noch besser schmeckte als sie aussah. Von scheuem Kichern bis zu lautem Gelächter – das Publikum hat sich prächtig amüsiert. Selbst die Leserin Nora Zukker konnte stellenweise vor Lachen selbst nicht mehr weiterlesen. Ihre Mundwinkel zuckten des Öfteren, wenn Dustins sonore Stimme heisse Kiosk-Poetik säuselte. Auch er schmunzelte zwischendurch über Noras lüsterne Worte, doch wie ein wahrer Highlander wahrte er die Contenance.

Theresa Pyritz, Carla Peca

Auf den Spuren von Robert Walser

Ganz überrascht steht die Stadtführerin Martina Kuoni vor den rund dreissig Neugierigen, die ihr heute auf den Spuren von Robert Walser durch die Stadt Zürich folgen möchten. Mit so vielen Besuchern hat die Germanistin wohl nicht gerechnet, die seit der Gründung von Literaturspur solche literarischen Stadtrundgänge zu ihrem Beruf gemacht hat.

Robert Walser war selbst ein begeisterter Spaziergänger und wanderte im Jahre 1896 zu Fuss von Stuttgart nach Zürich, wo er seine Laufbahn als Schriftsteller begann. Bis 1905 lebte er in verschiedenen Wohnungen in der Innenstadt, denen der Rundgang folgt – vom Grossmünsterplatz über die Schipfe, die Froschaugasse, dem Neumarkt und der Spiegelgasse bis zur Trittligasse. Walser zog nicht nur viel um, er liess sich bei der Schreibstube für Stellenlose in der Schipfe auch immer wieder neue Stellen als Schreibkraft vermitteln – unter anderen die Stelle in Wädenswil, die ihn zu seinem Roman «Der Gehülfe» inspirierte. Die Villa zum Abendstern, in der Walser selbst als Gehülfe bei der wohlhabenden Familie Dubler gewohnt hat und innerhalb eines halben Jahres deren Konkurs miterlebte, gibt es auch heute noch zu besichtigen.

Beim Spaziergang konnten sogar eingefleischte Zürcher neue Gassen entdecken – wie zum Beispiel die Robert-Walser-Gasse bei der St. Peterskirche – und Interessantes über den zu Lebzeiten wenig erfolgreichen Schweizer Autor erfahren. Etwa, dass Walser eigentlich Schauspieler werden wollte. Bei diesem Versuch soll ihn sein Bruder Karl Walser auf einer Aquarellzeichnung als Karl Moor aus Schillers «Die Räuber» verewigt haben. Die schlechte Resonanz auf seine schauspielerischen Versuche verarbeitete Walser schliesslich in «Die Talentprobe». Anders als Robert Walser war sein Bruder Karl zu Lebzeiten ein erfolgreicher Künstler, der sich als Wandmaler und Buchillustrator einen Namen verschaffte.

Dass Walsers letzter Wohnort für beinahe dreissig Jahre eine Heil- und Pflegeanstalt in Herisau war, wird beim Spaziergang nur kurz erwähnt. Doch diese befindet sich auch in dessen Heimatkanton und nicht in Zürich. Gerade weil hier keine Tafeln auf die Spuren Robert Walsers aufmerksam machen, eröffnete der literarische Spaziergang eine neue Sicht auf die verwinkelten Gassen Zürichs.

Fest des Sinnlichen

Die algerische Küste, der Geruch von Meersalz in der Luft und ein brausendes Meer, das in rhythmischer Gleichmässigkeit an den Felsen zerschellt. In der aufgebrachten See spiegelt die Sonne wie in tausendfachen Scherben wieder. Es blendet.

Michel Voïta kneift im grellen Scheinwerferlicht die Augen zusammen und blickt auf einen imaginären Punkt über dem im Dunkeln sitzenden Publikum. Als stünde er am Rand dieser Küste und schaute hinaus auf das tosende Meer, durchfährt es ihn: quelle splendeurs du monde!

Mit einem Mal befinden wir uns nicht mehr in dem komplett in Schwarz gehaltenen Saal im Theater Neumarkt, sondern in der grell-blendenden Welt Albert Camus‘. In einer faszinierenden, szenischen Darbietung beschwört der Waadtländer Schauspieler Michel Voïta die Stimme des grossen Existenzialisten des 20. Jahrhunderts herauf. Die Texte, derer er sich dabei bedient, sind die autobiographischen Essaysammlungen Noces (dt. Titel: Hochzeit des Lichts) und L‘été, die in einer gewaltigen lyrischen Sprache der Absurdität unseres Daseins die Schönheit dieser Welt gegenüberstellt.

Es ist ein Fest des Sinnlichen, das in der Beschreibung einer algerischen Küstenstadt im Frühling in Versen gefeiert wird. Fast überschlägt sich Voïtas Stimme an der hyperbolischen Sprache, und immer wieder endet ein Satz in einem dramatischen Ausruf: les femmes! la mer! la nature! le désir de vivre!! Als versuchten sie die Schönheit dieser Welt auf ihrem Höhepunkt für immer zu bewahren und in Worte zu bannen. Das lyrische Ich nämlich weiss um die Vergänglichkeit und seinen eigenen Tod, der ewigen Dunkelheit danach und beschliesst sich gerade deshalb zu einer radikal gegenwärtigen Lebensweise. Camus schrieb Noces bereits 1938 im zarten Alter von 23 Jahren und die Zeilen zeugen bereits von seiner später so populär gewordenen existenzialistischen Philosophie als einer Philosophie des Absurden. Bei Camus ist das menschliche Leben von fundamentaler Sinnlosigkeit, aber le monde est beau – und das Leben trotz allem lebenswert, ja glücklich. Damit bricht er gleichwohl mit der christlichen Weltanschauung und folgt Friedrich Nietzsche in der häretischen Annahme, dass genau wie das Leben der Tod sinnlos ist und nach dem Tod nichts auf uns wartet.

Michel Voïta vermittelt die Tragik dieser Worte, offenbart auch die politische Subversion, die in ihnen mitschwingt, der Aufruf zur inneren Revolte, dieses Leben zu leben trotz ihrer Absurdität. Und so schliesst Voïta mit den Worten: Au milieu de l’hiver, j’apprends enfin qu’il y avait en moi un été invincible.

 

Zürich liest hin und wieder auch französisch. Mit dem welschen Schrifstellerkollektiv AJAR, der senegalesischen Schriftstellerin Mariètou Mbaye Biléoma, die unter dem Pseudonym Ken Bugul schreibt, und dem Comédien und Schauspieler Michel Voïta vertreten dieses Jahr drei Veranstaltungen die zweite Landessprache.

Bevor Sie gehen: Danke für Ihre Worte, Frau Nadj Abonji!

Melinda Nadj Abonji nimmt sich Zeit. Ihre Bewegungen sind unaufgeregt, ruhig. Keine hastig ins Publikum geworfene Worte, als sie die Bühne des neuen Kulturzentrums Kosmos betritt. Kein nervöses Lächeln, als sie sich setzt. Melinda Nadj Abonji nimmt sich Zeit. Behutsam legt sie ihre Brille vor sich aufs Pult, schlägt sie ihr neues Buch auf.

Das erste, was das Publikum zu hören bekommt – nach den zaudernd-einführenden Worten Bruno Deckerts vom Kosmos –, sind die dumpfen Klänge eines Kontrabasses, begleitet vom rhythmischen Spiel auf Perkussionsobjekten aus Konserven, Aludosen und Petflaschen. Mit auf der Bühne sind die beiden Musiker Mich Gerber und Balts Nill.

Der Auftakt zur Buchpremiere im überfüllten Saal ist eine Aufforderung, die Hektik der Langstrasse hinter sich zu lassen, anzukommen. Das Erste, was das Publikum von Melinda Nadj Abonji zu hören bekommt, sind ungarische Worte. Zuerst Worte, die sie begleitend zur Musik ins Mikrofon spricht. Dann Gesang.

Während rund einer Stunde liest die Autorin aus ihrem neuen Roman Der Schildkrötensoldat mit klarer, deutlicher Stimme. Ohne Pause. Im Saal herrscht beinahe andachtsvolle Stille. Die Geschichte von Zoltan Kertesz, dem stotternden Soldaten, der mit seinen himmelblauen Augen voller Poesie auf die Welt blickt, vermag das ausverkaufte Haus zu fesseln. Ihr neues Buch sei aber nicht eigentlich ein Roman – erläutert die Preisträgerin des Deutschen und Schweizer Buchpreises in ihrem Schlusswort –, sondern ein Requiem. Ein Abgesang auf einen verstorbenen Soldaten, der denselben Vornamen trug wie der Titelheld.

Die Premierenlesung von Melinda Nadj Abonjis drittem Roman endet, wie sie begonnen hat: Mit musikalischen Klängen und Sprechgesang. Das Tempo, in dem sich nach dem letzten Satz der Autorin auf einmal alles auflöst, kontrastiert gewaltig mit der geruhsamen Inszenierung der Lesung. Ich für meinen Teil bin noch nicht wieder ganz zurück aus meiner Zuhörertrance, als ich noch rasch mein Handy zücke, um den Moment des Aufbruchs festzuhalten. Bevor Sie gehen: Danke für Ihre Worte, Frau Nadj Abonji!

Populismus mal ganz entspannt

«Mutig, aber nur manchmal».

Diese Kritik blieb Res Strehle am meisten von seiner Zeit als Chefredakteur des «Tages-Anzeigers» in Erinnerung. So lässt sich auch die Podiumsdisukussion von Strehle und Kuckhart über Populismus und Medien charakterisieren. Im Karl der Grosse diskutierten beide unter der Leitung von Manfred Papst, Feuilletonredakteur der «NZZ am Sonntag». Oder, besser gesagt, sie einigten sich; denn in den meisten Fällen war ihr Gespräch keine Diskussion, sondern ein Austausch gleichgesinnter Meinungen.
Die Merkmale des Populismus, dies sie anfangs diskutieren – Fremdenfeindlichkeit, Unterkomplexität, emotionale Manipulation – sollten jedem bekannt sein, der die Thematik in irgend einer Weise verfolgt hat. Anschliessend wird noch die Unterscheidung zwischen linkem und rechtem Populismus gezogen und die Frage gestellt, ob Populismus manchmal notwendig oder gar etwas Positives an sich haben könnte. Ganz selbstkritisch gab sich Strehle, indem er auch den Hang der Medien zum Populismus thematisierte. Er zog zudem in Erwägung, dass in der Zeit von Clickbaits und ausufernder Likes-Abhängigkeit sich auch die Medien auf einer Gratwanderung befinden. In der zweiten Hälfte der Diskussion faserte der Fokus jedoch aus und wandte sich für ein breites Publikum eher weniger interessanten Themen wie Medienstrategien und Leserbindung zu. Abschliessend nahmen sich Strehle, Kuckhart und Papst noch viel Zeit, um einige Fragen des interessierten Publikums zu aufzunehmen. Am Ende war es an Papst, die Quintessenz des Abends zu ziehen: «Wir wissen auch vieles nicht».
Enrico Ehmann, Theresa Pyritz und Sascha Wisniewski

Es tagt. Wir auch.

Während die Blogredaktion noch die die letzten Wahrheiten über Gitarren, Stundenhotels, Gartenbau, Berner Dilettantenrock oder ägyptische Radlerinnen aus den Notizblöcken kitzelt, wirft der dritte Lesetag seine Schatten voraus. Neben der Premiere von Melinda Nadj Abonjis Schildkrötensoldat, der Performance von Jurczok 1001 und der Vorstellung der fünf Buchpreis-Nominierten freuen wir uns auf Populismusdebatten, Dichterduette und falsche Liebesschwüre nach Mitternacht.

Das grosse Lesungs-Bingo

Jedes Genre bringt seine typischen Merkmale mit sich. Das gilt für Musik, Literatur, Malerei – und auch für kulturelle Veranstaltungen. Wir haben ein paar Floskeln und peinliche Ereignisse zusammengetragen und eine Bingokarte daraus gemacht. Für alle, die einen zusätzlichen Ansporn suchen, bei den Lesungen genau aufzupassen.

Wer schafft fünf in einer Reihe? Fertige Fünfergruppen bitte in der Kommentarspalte mit Verweisen auf Ort und Zeit der Ereignisse angeben!

Julien Reimer, Carla Peca, Laura Clavadetscher, Simon Leuthold