Davon, dass nicht immer alles verkehrt ist (aber das meiste schon)

In Yael Inokais neustem Werk Mahlstrom warten vergeblich: Adam, ein Tisch und ein Haus. Dass Adam dieser Beschäftigung zusammen mit zwei Gegenständen nachgeht, ist nicht weiter verwunderlich, wenn man einmal weiss, dass auch er ein Raum sein kann. Und zwar für seine Schwester: «Und ihr Raum war auch ich», begründet er fast triumphierend die Tatsache, dass Barbara vor ihrem Suizid nur ihm einen Abschiedsbrief hinterlassen hat. Sobald also Menschen zu bewohnbaren Räumen und Tische zu unter Schneedecken lastenden und von Pflanzen bekletterten Wartenden werden, hat die gleichzeitig wortwörtliche und metaphorische Verkehrung ins Dorfleben schon längst Einzug gehalten.

Inokai liest im Rahmen einer Sofalesung, deren Ziel es ist, gute Literatur «dringend sehr berühmt zu machen», wie es Marianne Bühler nennt, die den Abend einleitet. Nora Zukker führt das Gespräch mit Inokai, das sich zuerst um die Wahl der polyphonen Erzählperspektive dreht und um die Frage, ob man damit den einzelnen Figuren gerecht werden könne. Tatsächlich verhindert der Wechsel der Erzählfiguren gerade die endgültige Festschreibung eines Wissens hinsichtlich des Geschehens: So mag man – mit Nora Zukker – vermuten, dass der Selbstmord, der am Anfang des Werkes stehe, seine Begründung im Gefühl der Schuld von Barbara findet (die zusammen mit vier anderen Kindern einen Dorffremdling, Yann, beinahe totgeschlagen hat). Allerdings: Der Text gibt solch ein vorgefertigtes Wissen eben in keiner Weise preis.
Inokai liest eindringlich und bestimmt zuerst den Anfang, der beschreibt, wie ein ganzes Dorf nach der Selbsttötung eines Mädchens die eigene Sprache sucht und vorerst im Flüstern wiederfindet. Die Sprache wird durchgehend das grösste Problem bleiben: Man kann an ihr das Fremde erkennen (Yann spricht «Yannisch», wird als Mädchen beschimpft und versinkt am liebsten in Adams Armen) und damit ausgrenzen; man kann mit ihr aber auch ganze Geschichten zugunsten der eigenen auslöschen. Die Geschichte Barbaras muss dementsprechend genauso unerzählt bleiben wie die von Annemarie und Astrid. Sie alle werden von Nora, Adam und Yann nacherzählt und damit überschrieben. Erzählt wird folglich, wie Geschichten für sich selbst umgedeutet und so anderen weggenommen werden können. Dass Barbara wie ein Tier ertrinkt, wie es zu Beginn heisst, kommt dabei nicht von ungefähr: Inokai wird später auf Nachfrage in einer Haraway verpflichteten Denkweise erläutern, dass es weniger darum gehe, die prominent vorkommenden Hunde als Vermittlerfiguren zwischen Menschen zu verstehen, denen die Möglichkeit zur Verständigung abhandengekommen ist. Vielmehr seien die Tiere  als alternative Ausformung von Sprache und Körperlichkeit zu denken, die in der menschlichen Sozialstruktur schlicht nicht sichtbar seien. Kinder und Tiere gleichen sich dabei in ihrer gleichzeitigen Überreglementierung und Gesetzeslosigkeit.

Mahlstrom ist damit jedenfalls vor allem: ein sehr kluges Nachdenken über Perspektiven (mit verblüffenden Wendungen). Yael Inokai erweist sich hingegen als eine Gesprächspartnerin, mit der man sich ohne Zögern am Sofa festzurren liesse.

Augen wie blaue Diamanten

Auch wenn das diesjährige Zürich liest noch nicht einmal vorbei ist, hat Nadia Brügger bereits ihren Lieblingsort gefunden: Er liegt unweit des Paradeplatzes, an der Bärengasse 20. Das Junge Literaturlabor ist bereits zum dritten Mal Teil des Literaturfestivals. Es wird von Richard Reich, Gerda Wurzenberger und Irene Eichenberger geleitet und bietet Kinder und Jugendlichen aus Primar- und Sekundarschulen den Raum, mit der Sprache experimentierfreudige Spiele zu treiben. Dabei entstehen Geschichten über die Eifersucht, präzise Stadtbeobachtungen und sogar ein Hörspiel.

 «Schrei doch no lüter», tönt es von der Seite, wenn die Schülerinnen und Schüler der Oberstufen-Kleinklasse aus Schlieren ihre Geschichten  zum Thema Wie das Schicksal tickt lesen. Anlass des Aufruhrs ist, möchte man meinen, eigentlich der brisante Inhalt: Trisa und Sandro lernen sich auf einer Party kennen, gehen zusammen nach Hause, wenn die Eltern weg sind, Trisa wird schwanger und von Sandro verlassen (er hat sich immerhin schon um den Spitznamen «Fuckboy» verdient gemacht). Das Kind kommt im Triemlispital zur Welt und trägt den Namen Sonja. So weit, so gut. Die Klassenkameradinnen, von denen einige am Rand sitzen, werden immer wieder mit Kommentaren in die Lesung eingreifen oder es vor Lachen kaum aushalten, wenn es in der Kurzgeschichte Drei Minuten ihres Schreibcoaches Anita Siegfried eine zerklüftete Zunge gibt, die wie eine Schnecke einer Schulter entlanggleitet: Sie machen ihre Lesung kurzerhand zu einer Aufführung. Die aufgeregte Stimmung hält schon lange an, und sie ist ansteckend (ich werde noch Stunden nach der Lesung eifriger als sonst durch die Strassen streifen): Bei der ersten Cola noch vor der Lesung strömen von überall her Kinder und Jugendliche, die A4-Blätter in klammen Fingern, ihre Coaches und Grosseltern stürmisch begrüssend. Ein Mädchen neben mir, das später lesen wird, hat Bauchweh, und als ihre Angehörige besänftigend meint, das sei bloss die Aufregung, meint sie fast frohlockend: Ich habe es bereits seit einer Woche!
Anita Siegfried hat mit den «Schlieremer Chind», wie sie Richard Reich in seiner Einführung lachend nennt, ein Langzeitprojekt begleitet, aus dem nun der JuLl-Print Nr. 13 entstanden ist: Vier Storys aus Schlieren eben, geschrieben von Albijon Biljali, Naike Gambi, Yasmin Henle, Ricardo Horta, Fjolla Idrizaj, Myriam Krebs, Drilona Kryeziu, Giovanni Lama, Even Mengstab und Arbresha Rexhepaj. Sie erzählen von Liebe und Eifersucht, Snapchat und Instagram, von Carlos’ Freundin, deren Augen wie blaue Diamanten leuchten, von Kim, die es im Gefängnis «soso lala» findet und von Luca und Mattia, die nach einer turbulenten Inselstrandung in Schlieren ein italienisches Fünf-Sterne-Restaurant mit dem Namen «Bella Sicilia» eröffnen.

Das ist aber bloss das erste Projekt, das an diesem Abend vorgestellt wird: Gina Bucher, die in ihrer dokumentarischen Neuerscheinung Der Fehler, der mein Leben veränderte unter anderem virtuos von einem sanftmütigen Bankräuber erzählt, der bei seinen Überfällen nicht einmal eine Waffe zückt («Aber Herr Kuhn, die hatten Sie ja nicht einmal in der Hand!»), begleitet ein Projekt, das seit der letzten Manifesta vor einem Jahr existiert: Die fünf Stadtbeobachterinnen, die ihre Lesung mit Detailbeobachtungen in Form von Pendlernotizen von Nicola Bryner beginnen und von denen man nur hoffen kann, dass sie bald den Blog für ein ihnen zustehendes (also: grosses) Publikum aufschalten. Deborah Mäder erzählt von einer Segway-Tour inkl. Bahnhofstrasse, bei welcher der erste Unfall bereits geschieht, als die Tour noch nicht einmal begonnen hat – bei ihrer Erwähnung dessen, dass nach kurzer Zeit bereits der zweite Italiener am Boden liegt, geht ein unruhiges Raunen durch die GC-Fans. Mara Richter (mit einer Hörspiel-Erzählstimme sondergleichen!) liest eine Geschichte von Selma Matter, in dem Zukunfts- und Maturagefühle verhandelt werden, und daraufhin noch eine eigene, die eine denkwürdige Begegnung mit einem Bettler verhandelt. Die Begegnung mit Frau Hueber mit «ue», einer achtundneunzigjährigen Frau, die kürzlich vom Blitz (ihre eigene Interpretation des «Schleglis») getroffen wurde und nun mithilfe einer Passantin bei einem Mann klingeln geht, den sie für ihren Sohn hält, ist schliesslich Anaïs Ruters traumwandlerische Erzählung. Spätestens hier möchte man, angestachelt durch die Lust und Freude an der Literatur, die an diesem Abend ganz deutlich spürbar wird, mit eigenen Papieren durch die Stuhlreihen stürmen und am Mikrofon zu sitzen kommen.

Die beiden letzten Darbietungen dieses Abends werden von Suzanne Zahnd und Ulrike Ulrich betreut: Zahnd, aus deren Debüt Angemessene Regung die Zuhörerinnen und Zuhörer zum ersten Mal Auszüge hören, gibt die Premiere zum Hörspiel einer sechsten Klasse, das den Titel Rache ist rot trägt und mit vielen Überraschungen aufwartet: Schulleiter und Lehrerin werden beim Schmusen erwischt, was eine ganze Reihe von Schwierigkeiten auf den Plan ruft, in deren Folge Mäuse nicht einmal mehr Mäuse bleiben. Fünfundzwanzig Schülerinnen haben dafür an einer gemeinsamen Geschichte geschrieben und erzählen vor ihrer quirligen Darbietung davon, wie man fürs Hörspiel das Geräusch eines Blutbrunnens produziert oder mit Geknister und Petflaschen den Eindruck erwecken kann, etwas würde ganz eilig gesucht.

Ulrike Ulrich (Fernbleiben, Draussen um diese Zeit) steigt mit einer Zukunftsdystopie ein, in welcher die EU nur noch eine ferne Erinnerung ist, und stellt dann mit Axmed Cabdullahi ihren Zögling vor, der seit 2017 in der Schweiz lebt und ein Ministipendium zugesprochen bekommen hat. Seine erste Geschichte, die vom eigenen Lachen begleitet wird, liest er auf Somali. Seine Geschichten sind «garantiert nicht traurig», weil sie dann nicht müde machen, und können im JuLl Ready Print 9 mit dem Titel Die Kurden waren sehr überrascht nachgelesen werden. Es geht um nicht sehr intelligente Söhne, die den Dieben die Fernbedienung nachtragen, um neunzigjährige Männer in der Bank von Somalia, die für die Hochzeit ihrer Grossväter Kredit beantragen wollen, um intelligente Mütter, grosszügige Coiffeure und Esel, die Witze immer erst später verstehen. Wie der ganze Abend an der Bärengasse: lohnt sich auch das.

Bibliothekarinnen hängen sich bisweilen an Lustern auf

Das Kulturzentrum Sphères unweit des Escher-Wyss-Platzes hat seine Besucherinnen und Besucher gestern Abend verheissungsvoll zu einem Glücksseminar geladen. Dass das Glück ein Muskel sei, den es bloss nach genügend Training verlange, wird denn schon bald von den beiden zwielichtigen Anzugsträgerpuppen auf der Bühne proklamiert: Wie in der Folge schnell klar wird, ist es ihnen darum zu tun, die Sehnsucht nach dem flüchtigen Konzept in erster Linie vermarkten zu können. Den gierigen Glücksmarktvertretern zur Seite gestellt werden mit Anna Karger und Delia Dahinden zwei Bibliothekarinnen – musikalisch begleitet wird die Glückssuche von Urs Sibi Sibold –, die in den Untiefen von inneren und äusseren Bibliothekslandschaften nach Texten stöbern gehen, die auf die Risse der Glückslust und -sucht aufmerksam machen und falschen Versprechungen auf die Spur kommen. Was an Text aus der Tiefe an die Oberfläche gehoben wird, reicht von Ingrid Lausunds Sofa-Monolog bis hin zu Lydia Davis’ A Position at the University. In Lausunds Satire geht es um einen Mann, der von der Marktforschung zur Zielgruppe «Leander» gezählt wird. Und dies weiss. Aus Rebellion legt er sich ein Sofa aus der Zielgruppe «Horst» zu. Mit dem er prompt unglücklich wird. Die Lacher im Publikum sind an dieser Stelle laut und legen sich schnell wieder – das Bedauern darüber, nur zu genau zu wissen, worum es hier geht, erfüllt kurzzeitig das gut besuchte Lokal. Bei Davis hingegen, die auch mit dem schönen Text The Professor vertreten ist, in dem die erzählende Figur längstens schon einen Cowboy heiraten möchte, heisst es : «I think I know what sort of person I am. But then I think, But this stranger will imagine me quite otherwise when he or she hears this or that to my credit, for instance that I have a position at the university: the fact that I have a position at the university will appear to mean that I must be the sort of person who has a position at the university.» Damit sind wir aber bei Fragen zur Identität angelangt und der Lust danach, herauszufinden, woraus das so oft und mit Nachdruck ausgesprochene «Ich» überhaupt besteht und von wem dazu gemacht wird – das Glück hat sich also, als wir draussen auf den kalten Stühlen ein letztes Bier bestellen, bereits gewieft aus dem Staub gemacht.

«Rainer, sag nur immer Ja zu allem was ich will.»

Zürich liest. Und Rilke liebt Russland. Während die lebenden Dichterinnen und Dichter in der Limmatstadt eintrudeln, nutzt Nadia Brügger die Ruhe vor dem Sturm, um die aktuelle Rilke-Ausstellung im Strauhof zu begutachten. Die nicht nur im Programmheft, sondern auch in Liebesdingen ganz vorne dabei ist.

Die Nase tief in fremde Liebesbriefe hineinstecken, dazu ermuntert die aktuelle Ausstellung im Strauhof. Thema ist die vielschichtige Beziehung von Rainer Maria Rilke zu Russland. Der Briefwechsel zwischen dem 1875 in Prag geborenen Dichter und der russischen Poetin Marina Zwetajewa ist dabei omnipräsent; neben Trouvaillen wie unserem Titelzitat lassen sich auch voyeuristische Gelüste stillen. Das merkt die Besucherin, wenn sie sich dabei ertappt, schon etwas gar lange vor den einzelnen Liebesblättern zu verharren, nur um nach einem Abstecher zu Rilkes Trinkglas dann doch wieder vor die verlockenden Vitrinen zu eilen, deren letzte in der ganzen Einsamkeit einer unbeantworteten Frage dasteht (oder hängt? Das Labyrinth, das man zu durchqueren auszieht, bringt in der Erinnerung die Raumverhältnisse durcheinander).

Der Eingang ist von Birkenstämmen flankiert, die von Rilke-Zitaten geziert sind. Durch die gesamte Ausstellung wird man von Fotografien von Barbara Klemm und Mirko Krizanovic begleitet, die Russland bildlich kontextualisieren sollen. Es kommt einem bisweilen so vor, als trügen sie in ihrer ernsthaften Schwarzweissästhetik eher zur Ver- als zur Erklärung eines Landes bei, von dessen Bewohnerinnen und Bewohnern Rilke selbst sagt, es schliefe die Kunst in ihnen: «Ich ahnte, dass ein Mensch, der Kunst schaffen wollte, ebenso geduldig, ebenso ernst, ebenso zeitlos weit sein müsse, wie es diese russischen Menschen waren.»

An diesem ruhigen Nachmittag, immerhin dem Warm-up für Zürich liest 2017, sind wird etwa zu fünft, die wir unsere schweren Köpfe gemeinsam über die gläsernen Kästen neigen. Wird die Demutsgeste zu beschwerlich (bei Rilke sind es die sich Verneigenden, die sich darin zu ihrer riesenhaften Grösse aufrichten), lässt es sich auch mit dem Audioguide durch die Räume wandeln. Im Abgleich mit dem Gerät kann man zum Beispiel versuchen, Rilkes Handschrift zu entziffern, oder in einer Ecke vorgetragenen Gedichten lauschen.

Als ich die Ausstellung verlasse, ist es Abend geworden, und es zittern mir die Sinne und ein freches Lachen in der Kehle darüber, dass Rilke in seinen Erinnerungen mit festem Blick Tolstoi standhält, der ihn möglicherweise nicht einmal anschaut.