Die Schweiz haftet an Lewinsky

Charles Lewinsky wird bei seiner Lesung im Pfauen als Meister der Gattungen gepriesen. Vom Drehbuch übers Gedicht bis zum Roman liess er wenig unversucht. Und nun hat er sich erstmals an einen Krimi gewagt. Doch sein neues Buch «Der Wille des Volkes» ist vielmehr auch ein politisches Buch. Deshalb habe man die Lesung wohl auch von einem alternden Politiker moderieren lassen, meint der Alt-Regierungsrat Markus Notter augenzwinkernd.

Lewinsky zeichnet in seinem Buch das dystopische Bild einer Schweiz, die von Rechtspopulisten regiert wird. Es gibt darin nur noch sechs Bundesräte, da die eidgenössischen Demokraten eine solche Mehrheit im Parlament haben, dass sie den siebten Platz nur noch symbolisch für die Sozialdemokraten freihalten – um wenigstens den Schein einer Demokratie zu wahren. Unter diesen Umständen ist der pensionierte Journalist Kurt Weilemann dazu verdammt, nur noch Nachrufe schreiben zu dürfen, weil er die Verstorbenen ja «noch» gekannt hätte. Dabei werden ihm 1200 Zeichen für eine normale Leiche gewährt. Dass es sich beim Tod eines Kollegen nicht um eine solche, sondern um einen vertuschten Mord handeln muss, ist sich Weilemann sicher und beginnt – zum Widerwillen des Staates – zu recherchieren.

Um nichts von der Krimihandlung zu verraten, liest Lewinsky eher witzige, politisch brisante Stellen vor, die auch eindeutig die Stärke des Buches sind. Im Bezug auf die neuen Techniken sei das Buch auch in keiner Weise als Science-Fiction-Roman zu sehen, betont Lewinsky. Er beschreibt nichts, was es heute im Grunde nicht bereits gibt. Mit Ausnahme einer Rasiercreme, die man für ein glattes Kinnbloss aufzutragen brauche – das sei aber eher eine persönliche Wunschfantasie, wie der Autor verrät.

Auch die Lage des Journalismus beschreibe im Grunde die heutige Situation. Eine ziemlich pessimistische Aussicht laut dem Buch, in dem der alte Journalist von jungen Volontären verdrängt wird, die nicht mehr richtig schreiben könnten. Im Gespräch mildert Lewinsky sein Urteil etwas mit dem Begriff Umbruchszeit ab, in der die Zeitungen neue Funktionen finden müssen. Weil man heute die Infos bereits hat, wenn man die Zeitung aufschlägt, brauche es mehr Hintergründe oder neue Formate wie etwa das neue Projekt «Die Republik».

Die einzige Schweizer Zeitung, die in seinem Buch namentlich vorkommt und dabei nicht sehr gut wegkommt, ist «Die Weltwoche» – für die Lewinsky selbst einmal geschrieben hat. Er habe sich von Roger Köppel überreden lassen, ein Jahr lang wöchentlich einen Fortsetzungsroman zu schreiben. Dieser kam später unter dem Titel «Doppelpass» in Buchform heraus – nicht ohne Hiebe gegen die rechte Ausländerpolitik. Als seinen grössten Flop bezeichnet Lewinsky, dass er darauf kein einziges böses Mail bekommen hätte.

Nach ein paar Seitenhieben gegen die SRG («Entweder wird jodelnd gekocht oder kochend gejodelt») und einigen Sprichwörtern über Pessimisten, schliesst der Moderator Notter den Kreis mit einem passenden Geschenk, in Anlehnung an das neue Buchcover: Ein Ansteckwappen der Schweiz.

«Mord erlaubt»

Am 7. Oktober 2006 wurde die Journalistin Anna Politkowskaja im Treppenhaus vor ihrer Wohnung ermordet. Der Täter schoss fünfmal auf die Frau, die gerade ihre Einkaufstaschen trug – am Geburtstag des russischen Präsidenten Putin.

Was nach einem spannenden Theaterstoff klingt, beruht leider auf einer wahren Begebenheit. Die unerschrockene amerikanisch-russische Journalistin riskierte ihr Leben, indem sie kritische Reportagen über den Krieg in Tschetschenien, die Verbrechen der russischen Armee, Korruption und Folter schrieb. Ihr ist das Theaterstück «Anna Politkowskaja – Eine nicht umerziehbare Frau» gewidmet. In einem Monolog vermischt die Schauspielerin Kornelia Lüdorff Fakten aus dem Krieg mit Auszügen aus den Büchern und russischen Tagebüchern von Politkowskaja. Ihr letztes Buch trug den Arbeitstitel «Mord erlaubt». Sie wusste um die Gefahr, in der sie lebte, und wurde schon bald als «Feindin des russischen Volkes» Opfer eines Giftanschlags. Auch eine ihr ähnelnd sehende Nachbarin wurde erschossen. Doch Politkowskaja schrieb weiter. Bis zu ihrem Tod.

Es ist schwer zu fassen, dass diese erschreckende Geschichte, die in völlig reduzierter Form auf der Bühne erzählt wird, wirklich wahr ist. Trotz des nüchternen Zugangs über die Fakten, berühren und erschüttern die Auszüge aus Politkowskajas Büchern und die nacherzählten Dialoge – etwa mit einem abgebrühten 19-jährigen russischen Soldaten – bis aufs Tiefste. Wie eine einzige Schauspielerin diese tragische Geschichte auf der Bühne zum Leben erwecken kann, ist erstaunlich.

Ein Jahr nach der Ermordung schrieb der italienische Autor Stefano Massini diesen Monolog, der nun in einer Übersetzung in Zürich im Sogar Theater seine Erstaufführung feierte. Das Thema ist auch nach zehn Jahren noch hochaktuell. Kaum zwei Wochen ist es her, dass die regierungskritische Journalistin Daphne Caruana Galizia in Malta mit einer Autobombe ermordet wurde. Es sind Angriffe auf die Presse- und Meinungsfreiheit, die nicht zuletzt mit dem Rechtsrutsch in Europa eine unangenehme Dringlichkeit bekommen.

Im Interview nach der Aufführung erzählt die Schauspielerin Kornelia Lüdorff wie viel Respekt sie vor dieser Rolle hatte. Sie fragte sich, wie man einer solch mutigen Frau überhaupt gerecht werden könne. Es sei ihr schwer gefallen, nicht zu emotional an den Stoff heranzugehen, der bei den anfänglichen Proben immer wieder ins Dramatische zu kippen drohte. «Weg mit den Emotionen!», rief dann die Regisseurin Jennifer Whigham. Nicht die Schauspielerin dürfe sich die Erschütterung anmerken lassen, es sei vielmehr ihre Aufgabe, diese durch nüchterne Fakten beim Zuschauer hervorzulocken. Das Theater gibt solch politisch dringlichem Stoff einen Raum, indem sich der Zuschauer der Geschichte öffnet und ein nachhaltiger Eindruck zurück bleibt.

Genau dies ist im intimen Rahmen des kleinen Sogar Theaters an diesem Abend besonders zu spüren. Die anfängliche Erschütterung der Zuschauer von diesem schweren Thema weicht angeregten Diskussionen an der Bar. Anna Politowskaja lebt somit nicht nur im Theaterstück, sondern nun auch in der Erinnerung daran weiter.

7 Gründe, eine Tramlesung zu besuchen

  1. Es gibt keine schlechten Plätze, da es für einmal nicht darum geht die Autorin oder den Autor möglichst gut zu sehen, sondern bloss der Stimme zu lauschen –  was dank Lautsprechern im ganzen Tram möglich ist.
  2. „Man kann sich durchschütteln lassen, entweder von der Geschichte oder vom Tram.“ (Zitat von Willi Wottreng bei der Lesung «Denn sie haben daran geglaubt»)
  3. Auch wenn einem die Handlung nicht umhaut, kann man eingelullt von der Vorleserstimme die Aussicht geniessen.
  4. Ohne sich den Kopf zu verrenken, kann auch mal die Reaktionen der gebannt zuhörenden oder vor sich hinträumenden Zuhörer beobachtet werden.
  5. Wenn das vorgelesene Buch in Zürich spielt, verweist die Autorin oder der Autor immer wieder spontan auf vorbeifahrende Schauplätze.
  6. Einmal Tram fahren ohne hektisches Ein- und Aussteigen.
  7. Weil endlich mal der Weg das Ziel ist.

Auf den Spuren von Robert Walser

Ganz überrascht steht die Stadtführerin Martina Kuoni vor den rund dreissig Neugierigen, die ihr heute auf den Spuren von Robert Walser durch die Stadt Zürich folgen möchten. Mit so vielen Besuchern hat die Germanistin wohl nicht gerechnet, die seit der Gründung von Literaturspur solche literarischen Stadtrundgänge zu ihrem Beruf gemacht hat.

Robert Walser war selbst ein begeisterter Spaziergänger und wanderte im Jahre 1896 zu Fuss von Stuttgart nach Zürich, wo er seine Laufbahn als Schriftsteller begann. Bis 1905 lebte er in verschiedenen Wohnungen in der Innenstadt, denen der Rundgang folgt – vom Grossmünsterplatz über die Schipfe, die Froschaugasse, dem Neumarkt und der Spiegelgasse bis zur Trittligasse. Walser zog nicht nur viel um, er liess sich bei der Schreibstube für Stellenlose in der Schipfe auch immer wieder neue Stellen als Schreibkraft vermitteln – unter anderen die Stelle in Wädenswil, die ihn zu seinem Roman «Der Gehülfe» inspirierte. Die Villa zum Abendstern, in der Walser selbst als Gehülfe bei der wohlhabenden Familie Dubler gewohnt hat und innerhalb eines halben Jahres deren Konkurs miterlebte, gibt es auch heute noch zu besichtigen.

Beim Spaziergang konnten sogar eingefleischte Zürcher neue Gassen entdecken – wie zum Beispiel die Robert-Walser-Gasse bei der St. Peterskirche – und Interessantes über den zu Lebzeiten wenig erfolgreichen Schweizer Autor erfahren. Etwa, dass Walser eigentlich Schauspieler werden wollte. Bei diesem Versuch soll ihn sein Bruder Karl Walser auf einer Aquarellzeichnung als Karl Moor aus Schillers «Die Räuber» verewigt haben. Die schlechte Resonanz auf seine schauspielerischen Versuche verarbeitete Walser schliesslich in «Die Talentprobe». Anders als Robert Walser war sein Bruder Karl zu Lebzeiten ein erfolgreicher Künstler, der sich als Wandmaler und Buchillustrator einen Namen verschaffte.

Dass Walsers letzter Wohnort für beinahe dreissig Jahre eine Heil- und Pflegeanstalt in Herisau war, wird beim Spaziergang nur kurz erwähnt. Doch diese befindet sich auch in dessen Heimatkanton und nicht in Zürich. Gerade weil hier keine Tafeln auf die Spuren Robert Walsers aufmerksam machen, eröffnete der literarische Spaziergang eine neue Sicht auf die verwinkelten Gassen Zürichs.

Für uns bei «Zürich liest»:
Meret Mendelin

Um ihr Studienfach Kulturanalyse so richtig auszuleben, arbeitet Meret Mendelin an der Abendkasse eines Theaters und als Praktikantin in einem Kino. Nun möchte sie auch noch ihrem Nebenfach Germanistik die Ehre erweisen und taucht bei «Zürich liest» auf verschiedenste Arten in die Literaturwelt ein: Spazierend auf den Spuren Robert Walsers, einer nicht umerziehbaren Frau lauschend im Sogar Theater und im Tram fahrend mit dem Alt-Achtundsechziger Willi Wottreng. Besonders gespannt ist sie ausserdem darauf, weshalb Eveline Hasler nur noch Engelsgeschichten und Charles Lewinsky auf einmal Krimis schreibt.