Irreführender Titel

«Rezensionen auf keinen Fall mit einem Zitat beginnen», riet der Dozent und verwies auf die elektronisch erfasste Rezeptionsverweigerung, die solche Auftakte provozieren, wobei ja jeder weiss, dass der noch zögerliche Leser vorranging verschreckt wird durch Satzgebilde, die – zum Beispiel aufgrund von Parenthesen – zu keinem Ende finden. Zu meiner wie der Leserschaft Erleichterung wird die seriöse Berichterstattung zur Sofalesung mit Yael Inokai von Kollegin Brügger übernommen, demnach sei dieser Beitrag eine so kurze wie euphorische Laudatio auf die Gastgeber: ein Danke der Dame des Hauses für Speis & Trank, deren Güte zweifellos auch zu schätzen wusste, wer sich nicht am Monatsende durch Bohnendosen löffelt, und dem Hausherrn, aus dessen imposanter Bibliothek sich jeder Zuhörer einige Exemplare abgreifen durfte («Wer den ganzen Knausgård nimmt, bekommt eine Tüte dazu»). Gerührt von dieser Grosszügigkeit, etwas beschickert und überladen wie eine Ameise taumelte ich heimwärts und fand auf Höhe Langensteinenstrasse an einer gutbürgerlichen Hecke Halt.
Wer nun den Eindruck gewonnen hat, die Verfasserin sei leichter zu bestechen als ein Mitarbeiter des sizilianischen Hochbauamts, dem sei versichert: unbedingt! Ich empfehle es selber nachzuprüfen.

 

Die erfundene Minderheit

Wo geht’s denn hier zum Literaturhaus? «Nie gehört. Aber ich finde es schön, dass es so etwas gibt.» Na das finde ich doch auch, und schliesslich auch in die Lesung von Sten Nadolny. Als «nicht nur Autor der Entdeckung der Langsamkeit», stellt Christine Lötscher den stattlichen älteren Herrn vor, der ins ebenfalls stattliche ältere Publikum zwinkert. Nadolny – das sei einer, der in seinem Werk konsequent die Spielarten des Unmöglichen erkunde, und auch in seinem aktuellen Briefroman Das Glück des Zauberers verkleide sich in verspielten Konstruktionen ein Plädoyer für Fantasie. Um missliebigen Interpretationen vorzugreifen, etwa als literarische Antwort auf Harry Potter, setzt der Autor hinzu: Seine Zauberer seien als erfundene Minderheit zu verstehen, deren Perspektive die distanzierte und analytische Erzählung mancher Kerngeschehnisse des 20. Jahrhunderts ermögliche. Bevor er anfängt zu lesen, wünscht er dem Publikum, es möge nicht unter seinem Husten leiden. «Ich leide überhaupt nicht, ich hab ja meinen Text», versichert er so verschnupft wie vergnügt.

Und von was erzählt dieser Text nun? Zauberer Paroc, 106 Jahre alt, schreibt Briefe an seine kleine Enkelin, die ihr magisches Erbe soeben angetreten hat, indem sie mit verlängertem Ärmchen dem Grosspapa die Brille von der Nase wischt. Was die Briefe enthalten, ist eine plauderlustige Melange aus eigenem Lebenslauf als Sohn einer Indianerin und eines Berliner Tanzschulbetreibers, Kommentaren zu politischen Umwälzungen und kulturellen Neuerungen aus Sicht der Zaubergemeinschaft sowie Unterweisung in den magischen Künsten, wozu in weiterem Sinne auch die Liebe gehört. Nützlich werden diese Fähigkeiten etwa beim schriftlichen Griechisch-Abitur, aber auch Gedankenlesen, Fliegen oder Gestaltwechseln kann Paroc, und mit über vierzig Jahren lernt er eine spezielle Art des Zauberns schätzen: «im Nu Geld zu machen».

Verblüffend sind vor allem die fliegenden Wechsel zwischen humoristischem Fabulieren und Passagen, die im Betroffenheitsmodus daherziehen, vorzugsweise wenn Paroc vor der Jahrhundertmitte in die Gesellschaft wutgeladener Männer gerät, die von der «Schmach der Väter», Gleichschaltung und Endsieg faseln. Nur an der Front ist Paroc letztlich sicher vor Spitzeln. «Das habe ich deswegen gemacht, damit alles, was es an Schrecklichem im 20. Jhd. gab, tatsächlich vorkommt.» Und tatsächlich erschöpfen sich die tiefgreifenden Kriegsereignisse auch in ihrer Eigenschaft als Vorkommnis; Nadolnys Schilderung entbehrt der erschütternden Tragikomik eines Hašek – sein Paroc ist kein braver Soldat Schwejk. Vorgetragen wird das alles mit der gemütlich-markanten Stimme eines Käpt’n Blaubärs, die, bedächtig und gleichmütig, auch während Sentenzen wie «Wer aus Liebe schummelt, liebt wirklich» oder «Bleibe frech und nach Möglichkeit amüsiert» auf Tiefsinn pocht.

Paroc als Figur verbandelt fidelen Humor und schmerzlichen Ernst zu einem seltsam kompakten Weltbild, dessen schlichte Parameter die Willkür als zivilisatorische Errungenschaft heiligen – da hat die Vorliebe für Bach spontan universale Bedeutsamkeit, frei nach Pep Guardiola: «Bach oder nix!» Paroc bleibt dabei stets und selbstverständlich auf der Seite des Guten: Im Zweiten Weltkrieg bedroht und verfolgt, kümmert er sich später um ungarische Refugees oder fungiert als Fluchthelfer in der DDR.

Heute abend wird man von jeglicher Anstrengung entbunden. Fragen, die man sich als artige Germanistin verkneift, etwa nach autobiographischen Zügen des Ich-Erzählers, werden einem von Loetscher flugs abgenommen. Paroc habe viele Dinge nicht verstanden, so Nadolny, und zufälligerweise seien es genau die von ihm selbst nie verstandenen. «Das macht das Buch sicher interessant», folgert er trocken. Zaubern als Parabel auf das Schreiben? Auch in diesem Punkt müssen wir nicht lange mutmassen. Nein, Zauberer als geistig bewegliche Menschen, und somit bekanntlich immer in der Minderheit, sollen Geheimnisse haben dürfen, unbehelligt von Überwachung und staatlicher Überregulierung. Das Gefühl, den grossen Zusammenhängen auf der Spur zu sein, so der Autor, treibe diese intelligenten, kreativen und einfallsreichen Individuen an. Das Schmunzeln der Zuschauer legt nahe, dass sie sich nur allzu gerne als solche verstehen.

«I wui Skifoahrn – sonst nix!»

Gion Mathias Cavelty, der Bündner Fachmann für geistreichen Firlefanz, kann nicht anders: Die Lesung im eleganten Buchsalon des «Kosmos» eröffnet er, in gewohnt schwarzer Montur, ironisch: mit dem Abspielen der Österreichischen Nationalhymne. Man dürfe sich erheben und ungeniert einstimmen, bietet er an. Es ist das letzte Mal an diesem Abend, dass ihm sein Publikum nicht folgt. Von nun an ist es ihm, der mit routinierter Süffisanz durch den Abend führt, gewogen.

Das launige Geplänkel mit dem Journalisten Thomas Widmer, der dem Autor als kongenialer Sidekick assistiert («Ist der Bauch echt?»), ermöglicht Cavelty, seine Lieblingsanekdoten vorzubringen, lotet aber auch das Verhältnis von Autor und Werk aus. «I wui Skifoahrn – sonst nix!» zitiert Cavelty den ehemaligen Weltklasse-Skirennläufer Franz Klammer in seinem neuen Buch – ob dieses Bekenntnis, so Widmer, nicht eigentlich ein peinliches Zeugnis von Einfältigkeit sei? Der Autor widerspricht vehement: «Wenn ich in einem Satz sagen könnte, was ich bin und was ich will, und das dann auch tun würde» – das wäre seiner Meinung nach «vorbildlich».

Freilich: Eine Sport-Story ist Der Tag, an dem es 449 Franz Klammers regnete nicht geworden. Klammer meets Jesus und dessen Bibelkollegen, gemeinsame Zeitreisen leiten thematisch vom kruden Okkultismus führender Nazis zu den Gnostikern, den alten Ägyptern und den Maya bis hin zum Urknall. Einem Ort also ohne Zeit und Raum, vor allem ohne Gott. Im Gespräch mit Widmer bekundet Cavelty Sympathie für die Gnostiker. Ihr Spieltrieb, ihr Trotz gegen Konventionen, ihre Freude an der Opposition faszinieren ihn, der mit dieser Attitüde auch sein eigenes Werk bestreiten will. Auf die Frage nach seinen Vorbildern und ob zu diesen etwa Bärfuss zähle, antwortet er keck: «Bärfuss? Was ist Bärfuss?» Stattdessen verweist er auf «Moby Dick». Er könne sich, «jetzt mal unironisch», mit keiner literarischen Figur so sehr identifizieren wie mit Ahab, der mit letzter Kraft gegen die Naturgesetze ankämpfe.

Cavelty liest gekonnt und mit erkennbarer Freude am Ulk. Geschickt nutzt er den Bündner Sprachduktus, um jede noch so latente Pointe aufzuspüren. Den Abschluss des Abends bildet ein Ausschnitt des Hörspiels zum vorgestellten Buch: «nur 6 Minuten», beschwichtigt der Autor. Er braucht einige Sekunden, sich selbst in die Rolle des blossen Zuhörers zu finden, und arrangiert sich stilvoll in die Denkerpose hinein: den Kopf auf die tätowierte Hand gestützt, folgt er zufrieden dem eigenen Werk. Hier sieht man einen Autor, versunken im selbstverfassten Text, der innerlich die Worte mitzusprechen scheint und, sobald das Kichern wie ein Lauffeuer durch die Sitzreihen brandet, leise feixt. Einem anschliessenden Foto-Shooting gibt er sich bereitwillig hin.

Der Nationalstaat als Ekzem?

Im Kellertheater wird ein work in progress von Joel László, Hausautor am Theater Basel, ausschnittweise vorgetragen und in kleiner Expertenrunde besprochen. Drei der Bistrotischchen sind leergeblieben, von denen her man, nach eigenem Belieben, mit einem Glas Wein friedlich in die Künstlerecke linst oder sich in den öffentlichen Teil der Diskussion einfädelt. Was drei Akteure zu Beginn gekonnt vorsprechen, kann man am eigenen Textausdruck nachvollziehen, gegen Ende des Abends zentriert ein Büffet die sich lebhaft unterhaltenden Mitwirkenden und Zuschauer. Der aufwändigen wie aufmerksamen Gestaltung der Veranstaltungsreihe wäre vorbehaltlos ein grösseres Publikum zu wünschen.

Als Figuren des Dramas General Wunde werden gelistet: Anja und Samuel, ein Paar mit einem ekzematischen Kleinkind, Dufour als Grossvater, Landesvater und oberster Kartograph. Das Stück, so der Autor, befinde sich „im Modus des Juckreizes“: Satzbrocken in teils additiver Redundanz, gesprochen wie das Hin- und Herfedern der Finger über juckende Haut, dominieren die Textstruktur. Das irrsinnige aber auch wohlige Kratzen soll den Kontrollverlust über die Sprechweise artikulieren, die die psychischen und sozialen Wunden der Figuren buchstäblich verkörpert. Aber die Körperlichkeit des Stückes wird auch zurücktransponiert ins Abstrakte: die Haut als Metapher für das geologische wie soziale Territorium, auf dem disparate Seinsentwürfe mit- oder gegeneinander agieren. Dufour, der als Heiler der Wunden triumphieren will, scheint letztlich als Unglücksstifter zu fungieren. Er vereint auf dem Papier, d.h. kartographisch, was von selbst nicht zueinander findet.

Es lässt sich dies und allerlei Interessantes mehr aus dem Stück herauslesen, manches muss man aber auch offensiv hineinlesen. Der ideelle Nexus zwischen staatlicher Gebietserschließung durch Kartographierung angeblicher «Wunden» und der Hauterkrankung eines Kindes, an dem eine Ehe zerrütten soll, bleibt unklar. Der Eindruck mag sich legen, wenn General Wunde als Ganzes wirkt. Hört man die kenntnis- und aufschlussreichen Kommentare der Experten, darf man auf ein faszinierendes Stück schließen; auch der sympathisch bescheidene Autor selbst gibt interessante Einblicke in seine Arbeit und aktuelle Theaterdiskurse. Und so ist der Abend intellektuell lukrativ und die Veranstaltung durchweg empfehlenswert. Dasselbe lässt sich vom Stück, wie zaghaft angedeutet, nur bedingt sagen.