«Merci, Herr Honegger, aber Zürich ist leider schon übermöbliert»

Freundschaft ist für Gottfried Honegger, wenn man sich geistig nackt gegenübersteht. Das verrät er Ruedi Christen in einem Interview. Als wirklichen Freund nannte er einzig Max Frisch. Ob Christen diesen Status bei Honegger ebenfalls erreichen konnte, war für ihn bis zum Ende nicht ganz klar. Seit 1993 führte Christen mit diesem zahlreiche Gespräche und Interviews und veröffentlichte im September dieses Jahres «Eine Biographie in Gesprächen» über den Künstler und Grafiker. Das Buch wäre pünktlich zu dessen 100. Geburtstag erschienen, wäre Honegger nicht im Januar 2016 verstorben.

Christen hat vieles zu erzählen über Gottfried Honegger, den international bekannten Vertreter der Konkreten Kunst mit Zürcher Wurzeln. Er holte die Gruppe der «Zürich liest»-Gäste beim Karl der Grosse ab und führte sie 200 Meter weiter zur Kirchgasse 50. Kurz nach dem Krieg ist Honegger mit seiner Frau Warja Lavater und ihren zwei Töchtern in das Haus des Deutschen Generalkonsulats eingezogen. Sie bewohnten eine wunderschöne grosse Wohnung und führten im selben Haus ein Grafik-Atelier mit zwei Angestellten. Honegger und Lavater kannten sich aus ihrer Zeit beim Basler Grafiker Hermann Eidenbenz. Sie waren zuerst Geschäftspartner und wurden dann ein Liebespaar. Christen erzählte, dass Lavater und Honegger sich aus eher praktischen Gründen für eine Heirat entschieden haben. Während des Krieges wurde der Briefverkehr auf Ehepartner beschränkt. Da die beiden auch während Honeggers Zeit im Militär in Kontakt bleiben wollten, heirateten sie kurzentschlossen. An einem ganz normalen Tag, am Morgen noch gearbeitet, ging es am Nachmittag schnell zum Standesamt.

Ruedi Christen

Honegger war mittlerweile ein erfolgreicher Grafiker und Ausstellungsmacher geworden. Er hatte sich abgefunden, dass er sein Geld als Werbegrafiker verdiente. Bis zu dem Tag im Juni 1958, der einige Veränderungen mit sich brachte. Er realisierte, dass er niemals Maler würde, wenn er nicht sofort sein Atelier und seine Anstellung kündigte und auch als Künstler lebte. Noch am gleichen Tag setzte er sein Kündigungsschreiben auf und stellte seine Angestellten frei. Ihren Lohn erhielten diese weiterhin regelmässig bis zum Ende des Jahres. Es war ein Schock für die Familie. Honegger verkaufte alle teuren Möbel, selbst das Spielzeug der Kinder. Sie zogen in eine bescheidenere 3-Zimmerwohnung an der Feldeggstrasse. Nicht nur seine Familie reagierte mit Unverständnis, auch seine ehemaligen Arbeitskollegen und Freunde. Viele Freundschaften gingen in dieser Zeit zu Bruch.

Das ehemalige Restaurant Schifflände

Christen führte seine spazierenden Zuhörer wieder zurück, am «Karl der Grosse» vorbei, zum Hechtplatz, dem zweiten wichtigen Schauplatz. Dort befindet sich am Eck das ehemalige Restaurant Schifflände, in welchem sich damals der von Honegger ins Leben gerufenen «Club zur Schifflände» eingenistet hatte. Der Club entstand aus dem Bedürfnis, einen Ort für die Intellektuellen der Stadt zu schaffen, die sich nach dem Krieg aus den Augen verloren hatten. Es gab sie bereits, die Treffpunkte der Intelligenzija: das Odeon, das Terrasse, die Kronenhalle. Der «Club zur Schifflände» wollte aber noch exklusiver sein. Jedes Mitglied musste einstimmig angenommen werden und bezahlte einen Mitgliederbeitrag von 1’000 Franken. Zu den ausgewählten Mitgliedern gehörten u.a. Max Frisch, Paul Lose, Arnold Kübler, Emil Oprecht und Friedrich Dürrenmatt. Besonders betonte Christen die Rolle des Professors Etienne Grandjean, der die Verbindung zur ETH herstellte. Honegger war es wichtig für einen reichhaltigen Austausch nicht nur Künstler, sondern auch Forscher unter den Mitgliedern zu haben.

Seine künstlerische Leistung wurde 1987 mit dem Zürcher Kunstpreis ausgezeichnet. Zum Dank wollte Honegger der Stadt eine Skulptur schenken. Diese lehnte das grosszügige Geschenk ab mit der Begründung, die Stadt sei bereits übermöbliert. Dass er nicht befragt wurde, wenn es um die bauliche Umgestaltung der Stadt ging, hat Honegger zeitlebens gekränkt. Er, der Ästhet, der sich auch kulturpolitisch für die Gesellschaft einsetzten wollte, sah darin eine Möglichkeit, die Gesellschaft menschlicher zu machen. «Ich glaube, dass in einer ästhetisch schönen Welt der Mensch besser lebt. Nicht sehr viel anders, aber ein bisschen besser.» Mit diesem Zitat Honeggers beendet Christen den Spaziergang und entlässt seine Gäste wieder ins Getümmel des «Zürich liest».

«Je suis Zurichoise!» Heute bin ich keine Fremde mehr

Ken Bugul verzog keine Miene, während der Moderator Yves Raeber sie dem Publikum vorstellte. «Die senegalesische Autorin ist 1947 geboren als Mariètou Mbaye. Sie wurde mit dem Preis der Grand Prix littéraire de l’Afrique noire ausgezeichnet, lebte in 30 afrikanischen und ebenso vielen anderen Ländern. Zurzeit ist sie als Writer in Residence in Zürich zu Gast.» Als er ihr übersetzen wollte, was er soeben über ihr Leben erzählt hat, meinte sie nur: «J’ai bien compris». Sie habe schon verstanden, schliesslich kenne sie ihr Leben am besten. Von ihrer Lebensgeschichte handeln auch die meisten ihrer Bücher. Angekündigt war eine Lesung aus Le Baobab Fou, ihrem 1982 erschienenenDebüt, das ihre Kindheit und ihren Aufenthalt in Brüssel thematisiert. «Sie wollen, dass ich lese?», versicherte sie sich beim Moderator. «Wo?» Er zeigte ihr die Stelle und sie begann zu lesen. So ging das Spiel durch den ganzen Abend weiter. Die von Raeber ausgedachte Dramaturgie, die einzelne Textpassagen in eine chronologische Ordnung zu bringen, wurde von Bugul kritisch beäugt, aber befolgt. Und immer, wenn sie eine Stelle zu Ende gelesen hatte, folgte ein: «C’est vrai». «Das war wirklich so». Es wurde deutlich, dass es ihr ums Erzählen ging. Sie wollte sprechen über ihr Leben und die unglaublichen Dinge, die sie erlebt hatte. Das Lesen schien sie darin nur zu bremsen.

«Stellen Sie sich das vor!», verdeutlicht die Autorin. Das sei sehr einsam gewesen, ohne Mutter bei einem halbblinden 85-Jährigen Marabut aufzuwachsen. Ihre grösste Verletzung sei noch immer, dass ihre Mutter sie als fünfjähriges Mädchen verlassen habe. Buguls eigenes Lieblingsbuch ist denn auch De l’autre côté du regard, das von ihrer Beziehung zu ihrer Mutter handelt. «Ma pauvre mère», sagt sie an einer Stelle. Mittlerweile scheint sie doch mit ihr Frieden geschlossen zu haben.

Durch Le Baobab Fou erfahren wir von dem kolonialen Schulsystem Senegals in den 1950er Jahren. Ken Bugul identifizierte sich als Kind mit dem sauber angezogenen weissen Mädchen aus ihrem Schulbuch und war auf der Suche nach ihren Vorfahren, den Galliern. Sie las enorm viel, war fleissig in der Schule und erhielt so ein Stipendium für die Universität in Dakar. Als Teenager trug sie westliche Kleidung, oder zumindest das, was sie sich darunter vorstellte. Sie erhielt ein Stipendium für die Universität in Belgien, und ihr Traum schien in Erfüllung zu gehen. Doch in Brüssel fand sie nicht die lang ersehnte Antwort auf die Frage nach ihrer Herkunft. Im Gegenteil. Der Blick der Europäer machte sie zu einer Fremden. Zu einer Exotin.

Heute sei sie Zürcherin und keine Fremde mehr: «Je suis Zurichoise». «Gefällt es Ihnen in Zürich?», fragte Raeber nach. Es sei super, alles sei sehr sympathisch hier. Sie verbringe aber auch nicht nur Zeit in Zürich. So ein Stipendium sperre sie ja nicht ein. Berlin, Paris, Salzburg, Hamburg sind nur einige der Städte, die sie während ihres Aufenthaltes hier schon besucht hat.

«Ich lebte auf der Strasse, als ich meine autobiografische Triologie Le Baobab Fou, Cendres et braises und Riwan ou le Chemin de Sable geschrieben habe». Ken Bugul entfloh der Beziehung zu einem gewalttätigen Mann und kehrte im Alter von 30 Jahren in den Senegal zurück. Im Gepäck hatte sie keine Geschenke, sondern nur ihr Trauma. Ihre Geschichten wollte niemand hören, schliesslich galt Europa schon damals als «terre promise», ein Ort der Träume. Ihre Familie verstiess sie und die Gesellschaft verschloss sich ihr. Ein Jahr lang lebte sie auf dem Place de l’Indépendance in Dakar. Wie man sich denn das Leben auf der Strasse vorstellen soll, kam die Frage aus dem Publikum. «Das Leben auf der Strasse war super! Ich habe Lust zurückzukehren.» Sie, die später als 28. Frau des Serigne den Status einer Heiligen erhielt, kann heute gelassen auf diese Zeit zurückblicken. Die Zeit der Lesung war längst überschritten, aber das Publikum hing noch immer wie gebannt an ihren Lippen. Buguls Geschichte fasziniert. Obdachlosigkeit ist mit Vorurteilen behaftet, verkörpert Gefahr und gesellschaftlichen Fall. Diese starke Frau hat sich ihren Ängsten gestellt und sich so von ihnen befreit. Sie galt als Verrückte und lebte verstossen von der Gesellschaft. Wir, die durch unser behütetes Schweizer Leben ängstlich geworden sind, können von ihrer Narrenfreiheit nur lernen.

 

 

 

Er liebte sie mehr als alle Schafe, Kühe und Pferde

«Wie ein lebendiger Sir Lancelot war er in ihr Leben gestürmt und hatte ihr Herz erobert», raunte Dustin Hofmann über den Rand des sprechenden Covers «Der Liebesschwur des Highlanders» ins Mikrophon. DieHistorical-Gold-Ausgabe ist nur eine von vielen Varianten des Kioskromans, aus denen Nora Zukker und Dustin Hofmann zu später Stunde im Karl der Grosse ihre persönlichen Highlights vorlasen. Sie führten das Publikum sachte in die erotischen Untiefen der Groschenliteratur, bauten langsam Spannung auf und führten das Publikum Schritt für Schritt zum Höhepunkt. Des Abends natürlich.

Die Geschichten von Rokko, Sergio, Domenico, Samantha, Sue, Alisha und wie sie alle hiessen, deckten von Historical Highland-Erotik bis zu New Yorker Speed-Dating-Romantik alle Genres und Vorlieben ab. Begierig wartete das Publikum auf altbekannte Klischees und neue Fantasien und bejubelte Sätze wie: «Sie war kurz davor, den Gipfel zu stürmen»; «Ihre Zungen tanzten Tango»; «Immer wieder wurde sie von neuen Nachbeben erschüttert»; «Legen Sie los» oder «Aphrodite, die Schaumgeborene, stieg in ihrem Schlafzimmer im Morgenlicht aus dem Meer».

Historical Gold, Historical Season, baccara, Julia

Der Abend bot Inspiration für bleibende Komplimente. Von einem gewissen Coleyne lernten wir, dass er seine Mary mehr als alle Kühe, Schafe und Pferde liebte und von Rokko, dass seine Angebetete noch besser schmeckte als sie aussah. Von scheuem Kichern bis zu lautem Gelächter – das Publikum hat sich prächtig amüsiert. Selbst die Leserin Nora Zukker konnte stellenweise vor Lachen selbst nicht mehr weiterlesen. Ihre Mundwinkel zuckten des Öfteren, wenn Dustins sonore Stimme heisse Kiosk-Poetik säuselte. Auch er schmunzelte zwischendurch über Noras lüsterne Worte, doch wie ein wahrer Highlander wahrte er die Contenance.

Theresa Pyritz, Carla Peca

Revolution ist: eine Frau, die Fahrrad fährt

«Dieses Buch wirft einen Blick in eine Brennpunkt-Situation; nach Ägypten», sagt Bernhard Echte, der Gründer des Nimbus Verlags über SAYEDA, den neu erschienenen Fotoband von Amélie Losier. «Von der politischen Revolution im Nahen Osten haben wir viel gelesen, jedoch nicht über die gesellschaftliche Revolution, die sich dort zwischen den Geschlechtern abspielt.»

Am Donnerstagabend fand in der Modissa an der Bahnhofstrasse die Buchvernissage von «SAYEDA Frauen in Ägypten» statt, gefolgt von einem Gespräch und einer Ausstellung ausgewählter Fotografien. Mit so viel Andrang hatte Jean-Pierre Kuhn, der Geschäftsführer des Modehauses, nicht gerechnet. Seit drei Jahren veranstaltet er in der Filiale im Kreis 1 Lesungen und Gespräche zum Thema «Mut für die Macherin». Mit Losier verliess das Gefäss zum ersten Mal die Schweizer Grenzen und thematisierte mutige Frauen aus Ägypten. Ein Publikum aus Frauen allen Altersklassen füllten die Sitzplätze restlos aus. Darunter waren auch ein paar wenige Männer, die ihre Frauen begleiteten.

Susanne Schanda, Jean-Pierre Kuhn, Amélie Losier

Das Gespräch mit der französischen Fotografin Amélie Losier führte die Nahost-Expertin Susanne Schanda. Selbst Schanda, die seit 20 Jahren regelmässig nach Ägypten reist, muss gestehen, dass sie ihr bisher unbekannte Szenen in den Fotografien entdeckt hat. Da war die Frau auf dem Fahrrad, die Taxichauffeurin, die Töpferin oder die geheimnisvolle Shisha-Raucherin. 2014 reiste Losier zum ersten Mal nach Ägypten. Kritische Zeitungsberichte wie jene der Journalistin Mona Eltahawy  weckten ihr Interesse für Ägypten und öffneten ihr Blick für die patriarchalen politischen Strukturen, mit denen die Ägypterinnen täglich zu kämpfen haben. Während ihrer Reise wollte sie herausfinden, «wo» sich die Frau im öffentlichen Raum befindet und «was» sie dort tut. Den Zugang zu einem fremden Land und einer neuen Kultur schafft sich Losier über die Fotografie von Menschen auf der Strasse. Denn fotografieren heisst für Losier lernen. Auch führte sie lange Gespräche mit den Frauen, die sie porträtieren wollte. Durch die Gespräche mit den Frauen habe sich ihr Blick sensibilisiert für die kulturellen Feinheiten. Beispielsweise die Frau auf dem Fahrrad wäre ihr am Anfang der Reise nicht aufgefallen. Durch die Interviews wusste sie aber, dass dieser Anblick in Kairo nicht der Normalität entsprach. Losier hielt die Frau auf dem Fahrrad an, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Es war eine junge Studentin auf dem Weg zur Universität. Sie erzählte, dass der Sicherheitsmann der Universität sie anfänglich nicht auf den Campus lassen wollte mit ihrem Fahrrad. Mittlerweile toleriert er sie, doch von Akzeptanz kann noch nicht die Rede sein.

«SAYEDA Frauen in Ägypten» Nimbus. Kunst und Bücher

Die Interviews und weitere Kontext-Informationen, verfasst von der Kunsthistorikerin Hoda Salah und der Politikwissenschaftlerin Franziska Schmidt, sind ebenfalls Teil des Buches und ergänzen die Fotografien. Mit 30 sehr persönlichen Porträts gibt Losier einen authentischen Einblick in die ägyptische Gesellschaft und zeigt Frauen die keinen Klischees entsprechen.

Für uns bei «Zürich liest»:
Carla Peca

Während Carla Peca vor einem Jahr als Praktikantin beim Strauhof noch auf der Veranstalterseite stand, ist sie dieses Jahr als Bloggerin am «Zürich liest» unterwegs und möchte so vielen Lesungen wie nur möglich besuchen. Sie freut sich auf ein Wiedersehen mit der Dichterin Nora Gomringer, die bereits letztes Jahr bei «Zürich liest» zu Gast war, auf Seitensprünge mit Michèle Binswanger und Kioskroman-Erotik mit Nora Zukker und Dustin Hofmann. Sie interessiert sich auch für die Geschichten starker Frauen anderer Kulturen und kann es kaum erwarten Ken Bugul, die aktuelle Writer in Residence des Literaturhaus Zürichs, endlich live lesen zu hören und wird – schliesslich sollen Kunstbücher nicht zu kurz kommen! – von der Buchvernissage mit der Fotografin Amélie Losier und der anschliessenden Podiumsdiskussion über Frauen in Ägypten berichten.

Carla Peca studiert Germanistik und Kunstgeschichte in Zürich, wo sie auch lebt und arbeitet.