Die erfundene Minderheit

Wo geht’s denn hier zum Literaturhaus? «Nie gehört. Aber ich finde es schön, dass es so etwas gibt.» Na das finde ich doch auch, und schliesslich auch in die Lesung von Sten Nadolny. Als «nicht nur Autor der Entdeckung der Langsamkeit», stellt Christine Lötscher den stattlichen älteren Herrn vor, der ins ebenfalls stattliche ältere Publikum zwinkert. Nadolny – das sei einer, der in seinem Werk konsequent die Spielarten des Unmöglichen erkunde, und auch in seinem aktuellen Briefroman Das Glück des Zauberers verkleide sich in verspielten Konstruktionen ein Plädoyer für Fantasie. Um missliebigen Interpretationen vorzugreifen, etwa als literarische Antwort auf Harry Potter, setzt der Autor hinzu: Seine Zauberer seien als erfundene Minderheit zu verstehen, deren Perspektive die distanzierte und analytische Erzählung mancher Kerngeschehnisse des 20. Jahrhunderts ermögliche. Bevor er anfängt zu lesen, wünscht er dem Publikum, es möge nicht unter seinem Husten leiden. «Ich leide überhaupt nicht, ich hab ja meinen Text», versichert er so verschnupft wie vergnügt.

Und von was erzählt dieser Text nun? Zauberer Paroc, 106 Jahre alt, schreibt Briefe an seine kleine Enkelin, die ihr magisches Erbe soeben angetreten hat, indem sie mit verlängertem Ärmchen dem Grosspapa die Brille von der Nase wischt. Was die Briefe enthalten, ist eine plauderlustige Melange aus eigenem Lebenslauf als Sohn einer Indianerin und eines Berliner Tanzschulbetreibers, Kommentaren zu politischen Umwälzungen und kulturellen Neuerungen aus Sicht der Zaubergemeinschaft sowie Unterweisung in den magischen Künsten, wozu in weiterem Sinne auch die Liebe gehört. Nützlich werden diese Fähigkeiten etwa beim schriftlichen Griechisch-Abitur, aber auch Gedankenlesen, Fliegen oder Gestaltwechseln kann Paroc, und mit über vierzig Jahren lernt er eine spezielle Art des Zauberns schätzen: «im Nu Geld zu machen».

Verblüffend sind vor allem die fliegenden Wechsel zwischen humoristischem Fabulieren und Passagen, die im Betroffenheitsmodus daherziehen, vorzugsweise wenn Paroc vor der Jahrhundertmitte in die Gesellschaft wutgeladener Männer gerät, die von der «Schmach der Väter», Gleichschaltung und Endsieg faseln. Nur an der Front ist Paroc letztlich sicher vor Spitzeln. «Das habe ich deswegen gemacht, damit alles, was es an Schrecklichem im 20. Jhd. gab, tatsächlich vorkommt.» Und tatsächlich erschöpfen sich die tiefgreifenden Kriegsereignisse auch in ihrer Eigenschaft als Vorkommnis; Nadolnys Schilderung entbehrt der erschütternden Tragikomik eines Hašek – sein Paroc ist kein braver Soldat Schwejk. Vorgetragen wird das alles mit der gemütlich-markanten Stimme eines Käpt’n Blaubärs, die, bedächtig und gleichmütig, auch während Sentenzen wie «Wer aus Liebe schummelt, liebt wirklich» oder «Bleibe frech und nach Möglichkeit amüsiert» auf Tiefsinn pocht.

Paroc als Figur verbandelt fidelen Humor und schmerzlichen Ernst zu einem seltsam kompakten Weltbild, dessen schlichte Parameter die Willkür als zivilisatorische Errungenschaft heiligen – da hat die Vorliebe für Bach spontan universale Bedeutsamkeit, frei nach Pep Guardiola: «Bach oder nix!» Paroc bleibt dabei stets und selbstverständlich auf der Seite des Guten: Im Zweiten Weltkrieg bedroht und verfolgt, kümmert er sich später um ungarische Refugees oder fungiert als Fluchthelfer in der DDR.

Heute abend wird man von jeglicher Anstrengung entbunden. Fragen, die man sich als artige Germanistin verkneift, etwa nach autobiographischen Zügen des Ich-Erzählers, werden einem von Loetscher flugs abgenommen. Paroc habe viele Dinge nicht verstanden, so Nadolny, und zufälligerweise seien es genau die von ihm selbst nie verstandenen. «Das macht das Buch sicher interessant», folgert er trocken. Zaubern als Parabel auf das Schreiben? Auch in diesem Punkt müssen wir nicht lange mutmassen. Nein, Zauberer als geistig bewegliche Menschen, und somit bekanntlich immer in der Minderheit, sollen Geheimnisse haben dürfen, unbehelligt von Überwachung und staatlicher Überregulierung. Das Gefühl, den grossen Zusammenhängen auf der Spur zu sein, so der Autor, treibe diese intelligenten, kreativen und einfallsreichen Individuen an. Das Schmunzeln der Zuschauer legt nahe, dass sie sich nur allzu gerne als solche verstehen.

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Laura Clavadetscher

Laura Clavadetscher, Studentin der Germanistik und Neuroinformatik in Zürich, betreibt einen subfontanellen Salon für sympathisch nutzlose Ideen und sitzt seit Jahren an einem Sonettkranz für Paul Newman. Hat sich vorgenommen, in jeder Rezension die Wendung "Parabel auf das Leben" anzubringen.