Good lines, good show

„Es geit hie umds Liäbe und umds Stärbe…“ Eine starke Begrüssung – eine starke Poetin, die hier vor uns steht. Babylon Park heisst das Buch, aus dem die Berner Spoken Word-Künstlerin Ariane von Graffenried vorliest.

Mit rau-warmer Stimme erzählt sie von Wölfli (Adolf Wölfli), der eines Tages plötzlich vor der Türe steht. Wirklich ein Wolf, stellt sich heraus, wie bei den sieben Geisslein. Und dann klopfts schon wieder an der Türe, draussen steht die Algebra. Kein erwünschter Gast. Mit ihr habe sie es nie einfach gehabt. „Aber da müese mer düre!“ Eigentlich ist sie aber planlos, weiss nicht, was sie mit den Gästen anfangen soll. „Zwangsreformiert wieni bi, hani afa bätte, aso innerlich.“ Viele weitere ungebetene Gäste kommen, „ine“, sagt sie. Fragt sie sogar noch, ob sie schon gegessen hätten. Schlussendlich fängt die Erde an zu zittern und verschlingt alle. Vierundzwanzig Stunden später findet sie sich in einem schwarzen Loch wieder.

Ein Liebesgedicht sorgt für neuen Schwung. „Bermondsey“ heisst es, nach einem Stadtteil von London. Von Graffenried steht auf. „Her name is Milly“, fängt sie an. Auf Englisch, auf Deutsch, die Sprachen mischen sich, manchmal sogar im selben Satz. Ein Wippen geht durch ihren Körper beim Vortragen der genauso wippenden Sätze. „She knows wie verlieren geht“ und „What she does, she does so well“.

Die Sprachen werden weiterhin gemischt, so auch im Gedicht mit dem Titel „Saint-Jacques-de-Compostelle“: hier trifft Französisch und Frau auf Österreichisch und Mann. Beide haben eine weite Reise hinter sich, aus verschiedenen Gründen. Sie reden zusammen und verstehen sich nicht. Vielleicht reden sie mehr für sich selbst. „Tu veux une bière? J’ai soif.“ Dann imitiert Von Graffenried den österreichischen Dialekt: „Auf Wanderschaft, gell, erlebst du die Welt ja irgendwie direkter.“ Er erzählt und erzählt… „In Toulouse hab i den Blues ghabt!“ Begeistertes Kichern im Publikum. Die Spoken-Word Poetin steigt vom Podest runter und fährt fort. So ist sie dem Publikum näher und ihre Sprache noch lebendiger.

„Zum Abschluss no es Gedicht, es churzes.“ Noch so gerne! Es heisst „Babylon Park“ und hat wohl dem Buch seinen Titel gegeben. Es geht um die komplizierte Beziehung zum eigenen Dialekt. Hier geht nun alles drunter und drüber, Sprachen und Dialekte türmen und zerkratzen, durchkreuzen und verwischen sich. Sie setzt sich „next to Mister Perfect, my dialect.“ Eine Hass-Liebe verbindet sie mit ihrem Dialekt. „Mon malade imaginaire“. Sogar sprechen kann man mit ihm: „Los, sägeni. Laisse-moi faire!“. Aber der Dialekt lässt sich nicht zähmen. „I mim Oberstübli isch es Puff!“, soviel dazu.

Wozu all diese Sprachverwirrungen taugen, ist dann doch klar: „You know… Good lines, good show.“

 

Literarisches Flanieren: Kurzlesung von Arno Camenisch

Ein kurzer Schreckmoment erfasst das Publikum als Arno Camenisch schon nach der Hälfte der Zeit verschmitzt und in schönstem Bündnerdeutsch verkündet, wer wissen wolle, wie es nun mit den beiden „Philosophen im Schnee“, Georg und Paul, weitergeht, müsse sich eben sein Buch kaufen. Es sei ja schliesslich bald wieder Weihnachten. Und ich komme nicht umhin, ihm beipflichten: Es ist auch wirklich lesenswert, hörenswert aber noch vielmehr, was die beiden Liftwarte einander vom Pfarrerssohn, gesegneten Skiern und ausbleibendem Schnee zu erzählen haben. Gesegnete Skier? „Miar machend das so.“

Dann macht Camenisch zur Freude der Zuschauer_innen das, was er am besten kann und trägt einen seiner Spoken-Word-Texte auf Deutsch und Rumantsch vor, in dem er Ilanz – oder Glion – kurzerhand zum Zentrum der Welt macht. Auf der Bühne kommt der dichte Sog der rhythmischen Sprache zu seiner vollen Entfaltung. Das erklärt vielleicht auch, warum die Meinungen über sein Buch unter uns Studierenden weit auseinandergingen. Mit seiner Stimme im Ohr liest sich Der letzte Schnee ganz anders.

Juhui – jemand stirbt und Frauen gibt es auch

Der Freitag neigt sich langsam seinem Ende zu, man hat viel erlebt und noch mehr gehört. Die Festivalbesucher_innen flanieren zwischen den Lesungen umher und nicht wenige finden sich im Uferbau wieder. Dort will das Duo Dietiker/Diller mit einer Mischung aus Spoken Word und Klangteppich das Publikum betören.

Pino Dietiker, der Aargauer Texter, und Jul Dillier, der Obwaldner Musiker, nennen ihr Oeuvre Planer und Flaneur. Vier Texte sollen das Zusammenspiel von exakter Planung von urbanen Räumen und das entspannte Flanieren und Sinnieren miteinander verbinden und Gegensätze aufheben.

Vielversprechend beginnt Dillier mit seinem E-Piano rhythmische Klänge in den dunklen Raum zu senden. Das Publikum ist bald umhüllt davon und es scheint nur natürlich, dass Dietiker beginnt, von einer Zugfahrt zu erzählen. Das Stück ist ein Wechselspiel zwischen Gedanken und Beobachtungen im Zug und einem Bericht über einen Vater, der es nie geschafft hat, das Eigenheim fertig zu stellen. „Er war ein Bauherr der nicht Hausherr werden konnte“, sagt Dietiker melancholisch.

Immer morbider werden die Bilder. Das Altglas im Keller wartet auf die Wiedergeburt, die Schuhe im Haus sind das Letzte, was ein Toter auszieht. Im Zug rasieren sich Menschen und gehen der Nagelpflege nach. „Unterwegs zu Hause“, zitiert Dietiker die Deutsche Bahn. Unaufgeregt endet das Stück, das grosse Fühlen hat nicht eingesetzt, obwohl das Duo alle Tasten bedient. Das Makabre, den Tod des Vaters, den Ekel beim Zugfahren. Zu emotionslos und monoton bleibt das Vortragen Dietikers und je länger, desto undeutlicher wird’s. Mitreissende Spoken Word Performances sehen anders aus.

Mit dem nächsten und titelgebenden Stück „Planer und Flaneur“ setzt sich die Qualitätsabwärtsspirale der Aufführung fort. Dietiker erzählt von Legotürmen und Städten, Wachstumsblasen und Bettlern. Dabei bedient er sich allerlei überverwendeter popkultureller Referenzen wie „Houston, we have a problem!“, Super Mario und ganz vielen weissen Schafen mit einem Schwarzen dabei. Das irritiert und es ist beinahe unmöglich, dem Stück zu folgen, ohne sich immer wieder daran zu stossen. Es tauchen ebenfalls erste Repetitionen auf. Wiederum spielt er mit makabren Bildern und wiederum ist der Tod prominent platziert. Menschen bringen sich um in Grossstädten. Erste Besuchende beginnen nun den Uferbau zu verlassen.

Das dritte Stück behandelt die „Éoliennes“ von Saint- Imier. Die Riesenwindräder drehen sich auf dem Berge und der Held fährt hinauf zu ihnen. Wie zu erwarten, verwendet Dietiker auch hier die offensichtlichsten Metaphern. Don Quixote de la Mancha und die Himmelfahrtsthematik werden regelrecht ausgeschlachtet. Der Held wurde versetzt und sucht Trost bei den „Éoliennes“. Versetzt wurde er von einer Frau, die auch noch Spanisch sein muss und dazu Simone de Beauvoir liest. Die Diskreditierung der feministischen Spanierin misslingt Dietiker, der versucht, ihre Oberflächlichkeit durch ihren Tindergebrauch und Schuhbesitz zu entlarven. 2018 sollten selbstbestimmte, sexpositive Frauen auch im Spoken Word Universum angekommen sein. Wiederum muss jemand sterben im Stück. Wiederum ist es Suizid. Weitere Besuchende verlassen den Raum.

Jetzt wäre die Vorstellung eigentlich fertig – doch das Duo lässt sich noch zu einer Zugabe hinreissen. Das hätten sie lieber gelassen…

Wir sind wieder in der Stadt. Doch die Stadt ist eine Frau. Eine Frau, die man(n) bewandern kann und brauchen darf. In dieser Stadt tanzen Seiltänzer auf den Stromkabeln der Trolleybusse, die „in Schlafzimmer alleinstehender Frauen eindringen.“ Das Grundwasser der Stadt kommt natürlich aus den steinernen Brüsten der Frau und muss unglaublich hart sein. Es stapeln sich Frauentorsos am Strassenrand, die bei Brand Wasser spritzen. Die Strasse ist gespickt von „Warzenhöfen“. Was man ebenfalls in dieser Stadt finden kann, sind „mundgerechte Wurfgeschosse“ (sic!). Das sind weisse, spermienähnliche Kaugummiflecken am Boden. Ein Wunder, dass die Kaugummis nicht auch noch irgendwo in einem vaginalen Loch der Stadt verschwinden. Ungefragt natürlich. Immerhin hat sich in diesem Stück niemand umgebracht.

Erleichtert verlassen wir Besuchenden den dunklen Raum und kehren in die aufgeklärte Welt zurück.

Tip topi Flip-Flop

Die grosse Menschenmenge vor der Solothurner Landhausquai-Aussenbühne lässt es vermuten: Hier ist ein Könner am Werk. Dieser Könner heisst Pedro Lenz, der beim Publikum für verdiente Begeisterung sorgt. Lenz, dieser grosse Mann, setzt sich für seine Kurzlesung nicht hin. Er steht in voller Grösse da, wohl zur Freude der Zuschauenden in den hinteren Reihen.

Er spricht in seinem Auftritt aus, was wir uns manchmal so denken – zwischen den grossen Gedanken. In seinen Passagen aus Hert am Sound menschelt es gewaltig. Angefangen bei den „Gschwelti“, die er „gschwind“ machen will, kommt er zu Crèmeschnitten. Über den Zuckerguss dieser Crèmeschnitten kommt er zu einem Radiosender, der die beste Musik spielen soll. Denn dieser Zuckerguss passe so viel besser auf Crèmeschnitten als in die immergleichen Songs auf besagtem Radiosender mit ihrem „Shalala“ und „Shake your body“.

Immer wieder kommt er mit seinen Gedankengirlanden auch auf „Tip topi Flip-Flop“. Er hat solche tip topi Flip-Flop nämlich an den Füssen einer bildhübschen Frau auf der Strasse gesehen und fragt sich, ob seine Mutter nie solche tip topi Flip-Flop gekauft habe. Und wenn ja: wieso nicht? Weil es sind so tip topi Flip-Flop! Schlussendlich kauft er sich selber ein Paar tip topi Flip-Flop und geht damit in der Stadt herum. Auf diesem Rundgang begleitet ihn die Frage, warum wir so viel „Längizyti“ haben, wo das Leben doch so kurz sei.

Oder er entdeckt einen Zettel, auf dem ein Hund vermisst wird. Dieser Zettel hängt jedoch unglücklicherweise im Glasfenster eines asiatischen Take-aways, was einen ungewollten Gedankenstrom in Gang setzt. Hat man da nicht mal was gelesen von Asiaten, die dem Grillieren von Hunden nicht ganz abgeneigt seien? Also weiter zu den Shops auf dem Weg zum Bahnhof, die dann dummerweise aber doch wieder Hot-dogs verkaufen. Ungeschickt.

Diese Gedankenströme, bei denen ein Geistesblitz auf den nächsten folgt, werden von Lenz in einem für das Berndeutsche fast unvorstellbaren Tempo mit wippendem Fuss und locker schwingendem Körper vorgetragen. Das Lachen des Publikums folgt deshalb stets etwas zeitverzögert – aber es folgt mit Sicherheit. Und das nicht nur, weil der Redner in Berndeutsch referiert. „Mir löi si chalt, di chalte Kafi“, fügt er zwischen zwei Gedanken noch an. Was er hier geboten hat, lässt jedoch keinen kalt.

Olivia Meier, Selina Widmer