Füdleblutte Texte

„I luege so chle zue u i hocke so chle da“, aber zum Glück legt sich mir keine Hand aufs Knie. Im grossen Saal des Stadttheaters warte ich gespannt auf die szenische Lesung aber dir würdigs gä. Kuno Lauener, Frontsänger von Züri West und langjähriger Songwriter, ist wohl gleichsam gespannt. Seine Songs werden heute Nachmittag nämlich zu Worten – ohne Musik, quasi „füdleblutt“.

Auf der Bühne: Ein Tisch, ein Stuhl, zwei Teetassen, hinter grossen Büchern versteckte Elektronikgeräte und Doro Müggler. Die Schauspielerin ist es, die Laueners Texten heute Gehör verschafft. Hinter ihr eine Leinwand, an die Alltagsbilder projeziert werden. Bilder von zerknautschten Doppelbetten, von Teddybären auf Plastikautos, von Sonnenstrahlen, die ihr Muster auf den Zimmerboden zeichnen. Es sind Bilder, wie sie sich wohl auf mancher Familienkamera finden lassen.

Auch Laueners Songtexte stammen meist mitten aus dem Leben. Von der „Schiissluune“, die meist am Sonntag an die Türe klopft, von Dingen, die man sagen soll „solang dis Tram no faart“ oder vom Glück, das einen „irgendeinisch“ findet.

Obwohl man die Texte von Kuno Lauener wohl schon viele Male hörte, sind sie heute anders. Nicht nur weil da, wo wir sonst eine kratzige Männerstimme gewöhnt sind, eine Frau spricht. Sondern auch weil die Worte ohne Musik plötzlich viel gewichtiger erscheinen. Literatur mit Musik zu unterstreichen, das liegt momentan im Trend. Die Songs von Züri West, so schön sie auch sind, hätten die Musik nicht mal nötig.

 

Finde die Zukunft III

Finde den Unterschied

Vorher

Nachher

Die langerwartete Chatbotausstellung des Zukunftsateliers ist endlich besuchsbereit! Das Warten hat ein Ende. Zu finden ist sie im Foyer des Landhauses und besteht aus einem Tisch und zwei Laptops.

Wir waren da – unser Fazit: „Isch guet gmeint xi!“

Spannende Gesprächspartner findet man jedoch in den analogen Formaten des Zukunftsateliers, die zu überzeugen wussten.

Artiom Christen, Shantala Hummler

„Ich hab kein einziges Wort davon geschrieben und trotzdem ist es mein Text“ – Peter Stamm und seine Übersetzer.

Wer meint, schon alles über den vielbesprochenen und allseits bekannten Peter Stamm zu wissen, hätte heute dabei sein sollen. In der bis zum letzten Platz gefüllten Säulenhalle des Solothurner Landhauses stand für einmal nicht der Autor im Mittelpunkt des Geschehens, sondern seine Übersetzer und Übersetzerinnen.

Vier Peter Stamm-Spezialisten aus Russland, Slowenien, Kuba und Schweden unterhielten sich unter der sehr guten Moderation von Angelila Salvisberg über die Herausforderungen ihres Handwerks. So bereiten Maija Zorkaja die scheinbar einfachen Passagen Schwierigkeiten. Wenn also Thomas und Astrid in Weit über das Land zusammen ein Glas Wein trinken, dann bedeutet dies in der wörtlichen Übersetzung ins Russische, dass sie tatsächlich zu zweit nur ein Glas trinken. Korrigiert man nun aber den Inhalt, stimmt der Rhythmus nicht mehr. Ein schmaler Grat zwischen Sinn und Klang.

Anibal Campos muss hingegen Acht geben, nicht ins Pathos zu verfallen, das sich spanischsprachige Leser aus ihrer literarischen Tradition gewöhnt sind. Schliesslich erinnert sich der slowenische Übersetzer Slavo Šerc an ein besonders schwieriges Wortspiel und Jörn Lindskog wollte den von Stamm selbstgewählten Titeln gerecht werden.

Vielleicht war das Gespräch auch deshalb so angenehm zu hören, weil Stamm mit seinen Übersetzern und Übersetzerinnen auch ein freundschaftliches Verhältnis verbindet. Diese schätzen seine Hilfsbereitschaft, aber auch, dass er sie einfach ihre Arbeit machen lässt.

Aufschlussreich war auch zu erfahren, von wem Peter Stamm in den jeweiligen Ländern überhaupt gelesen wird. Während es in Spanien hauptsächlich die Intellektuellen sind, scheint er in den übrigen Ländern einen breiteren Anklang zu finden.

Als die Zeit um war, schien das Thema noch lange nicht ausdiskutiert. Zufrieden waren wir – und auch das Publikum –  mit dem Einblick allemal.

Julia Sjöberg, Sascha Wisniewski

In der Hafenkneipe

Am Nachmittag füllt sich die Hafenkneipe an der Aare. Man hat viel gesehen, viel gehört. Zeit für einen Apéro. Um das Erlebte Revue passieren zu lassen und sich auf den Abend einzustimmen. Hier habe ich Andrea und Lea getroffen. Sie erzählen, warum sie hier sind, was dieser Tag in Solothurn mit sich gebracht hat, und was sie noch vorhaben am Abend.

Andrea: Meine Mitbewohnerin kommt aus Solothurn und ich studiere Germanistik. Ich habe zuhause von den Solothurner Literaturtagen erzählt und sie fand es auch eine gute Idee, hier hinzugehen. Ich bin heute Mittag angereist, um gleich das literarische Gespräch mit Christian Kiening und Alice Grünfelder zu besuchen. Es ging um das Dokumentarische im Literarischen. Die grosse Frage war: Wie weit kann man Dokumentarisches literarisch umsetzen? Und kann man das überhaupt? Ich fand es sehr spannend, weil ich an der Uni gerade ein Kolloquium zum Thema der Holocaust-Literatur habe, und da kommen all diese Fragen natürlich auch auf. Das Gespräch war im Landhaus. Danach sind wir ein bisschen herumgeschlendert, haben etwas getrunken und haben das beste Glacé von Solothurn gekostet. Dort hinten in der Gelateria. Ich glaube sie heisst einfach Gelateria. Das Wetter war wunderschön, wir haben uns an den Fluss gesetzt und noch lange über die Veranstaltung von vorher gesprochen. Danach sind wir an Hohlers Lesung gegangen, auf der Aussenbühne. Zwar nur eine Viertelstunde, aber sehr voll. Zuerst dachte ich, er würde aus seinem neuen Roman vorlesen, aber dann waren es ältere, kurze und lustige Texte, die er vorgetragen hat. Eine sehr schöne Anekdote, die er erzählt hat, auf die Frage, was die Solothurner Literaturtage ausmacht: Eine Dichterin sitzt im Wald, um sie herum sitzen Kinder auf Kissen. Sie fängt an zu erzählen, es war einmal ein Junge, der zu seiner Mutter rannte und sagte: „Mama, es gibt ein Feuer im Garten!“ In dem Moment, in dem die Dichterin das erzählte und die Geschichte ja noch gar nicht richtig begonnen hatte, sprang ein Junge auf, „Was? Ein Feuer im Garten?“, und lief weg. Für ihn hat die Geschichte schon in ganzem Umfang stattgefunden, er konnte sich alles schon vorstellen. Literatur ist also etwas sehr Individuelles. Und jetzt sind wir halt schon wieder beim Apéro. Am Abend möchten wir dann noch zum Spoken-Word. Was uns aufgefallen ist: Das Publikum hier ist grundsätzlich etwas älter…

Lea: Mir hat der heutige Tag sehr gut gefallen. Die Diskussion über das Dokumentarische im Literarischen war spannend. Es ist schön, sich wieder mal mit Gedanken zu befassen, mit denen sich Autoren beschäftigen. Die Aussenbühne vor dem Landhaus finde ich eine gute Idee. Es ist schön, dass es für alle offen und zugänglich ist. Ich bin auch gespannt, was es heute Abend noch so zu hören gibt!

Geschichten aus dem Holzkoffer

Bunte Buchstaben hängen gross in der Luft, Kissen, Märchenbücher und Malstifte bedecken kaleidoskopartig die niedrigen Tischchen im Raum, der von einem diffusen Gelächter durchflutet wird. Im zweiten Stockwerk des JuKiLiversum der Literaturtage Buchhandlung findet sich inmitten literarischer Hektik eine wundersame Oase. Hier wird keine Ernsthaftigkeit gepriesen, keine Textstelle minutiös betont oder analysiert – es ist ein Ort, an dem der ursprünglichste Teil des Menschen sein zuhause findet. Ein Ort für Kinder.

«Lueg, do chasch anesitze und Geschichtli lose», nimmt die Kinderhortleiterin einen kleinen Jungen zur Hand und weist zur winzigen Bühne, auf der ein Holzkoffer steht.

«Wötsch anesitze?», fragt sie ihn. 

Im nahezu vergessenen klassischen Lagerfeuerstil wird hier Mira Gysis Geschichte Die Geiss, die alles weiss von der Leseanimatorin Franziska Honegger präsentiert und zwar mittels eines Kamishibai-Bildtheaters. Das japanische Kompositum aus kami (dt.: Papier) und shibai (dt.: Schauspiel) bezeichnet ein traditionell japanisches Papiertheater in einem Holzkoffer.

Vor der kleinen Theateraufführung teilt Franziska Honegger den Kindern kleine Stoffsäckchen aus, in die sie hineingreifen müssen, um die Protagonisten des Theaterstücks zu befühlen. Hineingucken gilt nicht.  Ein Gummitier mit einem langen Fortsatz. Es sind kleine Mäuse! Grossäugig blicken die Kinder auf die Bühne, als schon das nächste Säckchen verteilt wird. Eine Geschichte, in der die Figuren wahrhaftig spürbar werden.

Die Protagonisten stehen fest – «Muus, Schneck, Geiss, Chatz». Die Geiss (Ziege) ist die wichtigste Figur. Es ist die Geiss, die alles weiss. Ein Dutzend Bilder erzählen von ihrer Entdeckungsreise auf dem Bauernhof, während Honegger den Papierfiguren ihre Stimme leiht. Die Geschichte ist durchwegs interaktiv gestaltet, fortwährend schlüpft Honegger aus ihrer Erzählerrolle und durchbricht die illusorische Geschlossenheit eines klassischen Theaterstücks. Freilich existiert nur eine einzige Wand, die Wand auf der die Szenen Bild für Bild ersetzt werden. Zu jedem Bild werden die Kinder gefragt, was sie auf der Miniaturbühne sehen.

(Franziska Honegger mitten in ihrer Performanz)

«Chäs-chatz», ruft plötzlich ein blondlockiges Mädchen in der vordersten Reihe. Die Eltern im Hintergrund lachen auf.

Zum Schluss öffnet Honegger einen braunen Flechtkorb und reicht den Kindern kleine, mit Laken überdeckte Tupperwaredosen mit Lebensmitteln aus dem Bauernhof. Was die Kleinen genau erschnuppert haben, das fragt man sie am besten selbst. Im Kamishibai-Bildtheater, zweiter Stockwerk des JuKiLiversum der Literaturtage Buchhandlung…

Literarisches Flanieren: Kurzlesung von Arno Camenisch

Ein kurzer Schreckmoment erfasst das Publikum als Arno Camenisch schon nach der Hälfte der Zeit verschmitzt und in schönstem Bündnerdeutsch verkündet, wer wissen wolle, wie es nun mit den beiden „Philosophen im Schnee“, Georg und Paul, weitergeht, müsse sich eben sein Buch kaufen. Es sei ja schliesslich bald wieder Weihnachten. Und ich komme nicht umhin, ihm beipflichten: Es ist auch wirklich lesenswert, hörenswert aber noch vielmehr, was die beiden Liftwarte einander vom Pfarrerssohn, gesegneten Skiern und ausbleibendem Schnee zu erzählen haben. Gesegnete Skier? „Miar machend das so.“

Dann macht Camenisch zur Freude der Zuschauer_innen das, was er am besten kann und trägt einen seiner Spoken-Word-Texte auf Deutsch und Rumantsch vor, in dem er Ilanz – oder Glion – kurzerhand zum Zentrum der Welt macht. Auf der Bühne kommt der dichte Sog der rhythmischen Sprache zu seiner vollen Entfaltung. Das erklärt vielleicht auch, warum die Meinungen über sein Buch unter uns Studierenden weit auseinandergingen. Mit seiner Stimme im Ohr liest sich Der letzte Schnee ganz anders.

Auf einen Kaffee mit Adam Schwarz

Bei seiner Kurzlesung am Freitag war Adam Schwarz noch etwas beeinflusst vom Rotwein, der beim Eröffnungsapéro ausgeschenkt wurde. Heute ist es vor allem der Mangel an Koffein, der ihm noch etwas zu schaffen macht. Trotzdem entspinnt sich ein interessantes Gespräch rund um seinen Roman Das Fleisch der Welt, seinen Eindruck von den Solothurner Literaturtagen und warum er lieber ein Geschichtenerzähler am Lagerfeuer wäre.

Adam Schwarz, erstmal vielen Dank, dass Du dem Buchjahr erneut Red und Antwort stehst. Was war denn dein Highlight an den Solothurner Literaturtagen bis jetzt?

Ich hatte ehrlich gesagt noch fast keine Zeit für den Besuch von Lesungen. Ich hab unterschätzt, wie viel Zeit meine Auftritte und spontane Gespräche fressen. Zwei Lesungen hab ich aber besucht. Einmal die von John Banville, dem irischen Autor, den ich nicht gekannt habe, aber toll fand. Und zweitens die Lesung von Gion Mathias Cavelty, bei der ich bereits wusste, was mich erwartet und gut unterhalten wurde. Die paar Sachen, die ich mir vorgenommen habe, hab ich nicht geschafft. Ich hab selber noch ein paar Auftritte und gleich treffe ich mich mit der Moderatorin der Lesung von morgen.

Wie bereitest Du dich denn auf Lesungen vor?

Mit der Moderatorin von morgen hatte ich im Voraus E-Mail-Kontakt. Sie war auch schon an einer meiner Lesungen und wir werden sicher kurz besprechen, welche Aspekte sie gerne aufgreifen möchte. Das ist schon angenehmer so, dann wird man nicht ins kalte Wasser geworfen. Das war auch bei meiner bisher krassesten, weil grössten Lesung in der Schweizer Botschaft in Berlin so. Da hat mir der Moderator im Voraus seine Fragen unterbreitet. Ich bewundere die Autoren, die das alles schon länger machen und auf der Bühne total souverän wirken. Bei der Kurzlesung gestern fand ich es allerdings ganz angenehm, da begegnet man den Leuten fast auf Augenhöhe.

Ist das nicht schwieriger?

Ich weiss nicht warum, aber ich mag das sehr. Formate wie Sofalesungen zum Beispiel. Da hat man das Gefühl man sei ein Geschichtenerzähler am Lagerfeuer. Ich bin schliesslich kein Grossautor, sondern einfach einer, der ein Buch geschrieben hat.

Dann macht dich der ganze Trubel in Solothurn noch etwas nervös? Du bist also noch kein alter Hase?

Nein, ich glaub das dauert noch eine Weile. Ich finde es aber wichtig, mit den Leuten, die meine Bücher lesen, in Kontakt zu treten. Man schreibt schliesslich nicht nur in seinem stillen Kämmerlein. Das hat auch seine schönen Seiten. Wenn Leute mir berichten, was sie beim Lesen gedacht, gespürt, gefühlt haben, wenn mein Text anders zu meinen Lesern spricht als zu mir – das ist toll und spannend. Ich entdecke dann selber Dinge, die ich im Roman bisher nicht gesehen habe. Ich hoffe auch, dass noch mehr Gespräche und Reaktionen zu meinem Roman kommen, der mir selber fast schon etwas fremd geworden ist. Schliesslich ist es doch einige Zeit her, seit er erschienen ist und dazwischen ist viel passiert. Ich bin gespannt, wie ich in fünf, in zehn Jahren über meinen Roman urteilen werde. Ich fürchte, dass ich mir denken werde „Was hast du denn da für einen Mist geschrieben?“ Aber das muss wohl so sein.

Du hast erwähnt, dass Du an etwas Neuem arbeitest. Wie schwierig oder einfach ist das?

Es ist auf jeden Fall total anders jetzt. Es ist viel schwieriger, die imaginierte Öffentlichkeit auszuklammern. Ich will nicht schon beim ersten Entwurf denken „Ah ja, das schreib ich, das verkauft sich“ – eigentlich sollte man das nie denken. Für mich ist es wichtig, mich fürs Schreiben zurückzuziehen, mich vom Alltag abzugrenzen, vor allem da ich in Leipzig Philosophie studiere und nicht jederzeit schreiben kann. Das ist aber auch gut so. Ich mag es, Texte liegen zu lassen, damit sie gären. Meist konzentriert sich mein Schreiben deshalb auf die Semesterferien. Zum Beispiel war ich im März in Split, einem Ort an dem ich niemanden kenne und für mich bin – das hilft eine Routine zu entwickeln. So komme ich dem Gefühl am nächsten, das ich schon als kleines Kind hatte, wenn ich Legoklötze aufeinander stapelte und dazu Geschichten erfand.

Als Du die Idee für deine Geschichte hattest, schwebte dir da schon zu Beginn ein Roman vor?

Ja, aber ich habs für mich im Geheimen gemacht. Zwei oder drei Jahre hab ich niemandem davon erzählt. Erst in der Schreibwerkstatt des Aargauer Literaturhauses hab ich mal einen Ausschnitt zur Diskussion gestellt und gemerkt, dass das ankommt und Potential hat.

Die Idee für Das Fleisch der Welt kam dir auf einer Spanien-Rundreise und einer Flüeli-Ranft-Wanderung. Danach hast Du dich intensiv mit Niklaus von Flüe beschäftigt. Bist Du von Natur aus neugierig und gehört das zum Autorensein dazu?

Es gibt bestimmt verschiedene Arten von Neugier. Bei mir ist es eher eine „nerdige“.  Ich interessiere mich für Vieles ein bisschen und sammle aus allen möglichen Gebieten. Ich kombiniere gerne abseitige Dinge und erfreue mich an sinnlosem Wissen und Anekdoten, die ich in meine Texte einbringen kann. Das hab ich in diesem Roman gemacht und werde es im nächsten Buch bestimmt genauso tun. Zum Beispiel der Ulrich, der meist nur Flüe-Experten bekannt ist. Der ist einfach so absurd, wie er Niklaus von Flüe nachzuahmen versucht und kläglich scheitert.

Apropos Ulrich: Philipp Theisohn meinte im letzten Interview, die Figur des Ulrich mache ihn aggressiv. Ich fand ihn hingegen eher witzig. War dieser Humor beabsichtigt?

Ich fand ihn auch eher witzig. Vor allem machte es grosse Freude, über ihn zu schreiben. Dieser nervige Mitläufer, der sich trotz allem sehr wichtig nimmt. Ich kann aber auch verstehen, wenn man wütend wird. Im echten Leben würde mich ein solcher Typ auch wütend machen.

Das Bild der damaligen Zeit ist ansonsten sehr düster. Ist das dein Eindruck vom Mittelalter?

Hm, schwierig. Es gibt natürlich dieses Mittelalterklischee, dass es finster war,  düster und schlecht. Das wird dieser Zeit aber nicht gerecht. Letzten Endes war es einfach erforderlich für die Geschichte. Es hat sich so ergeben, weil ich diesem Ideal von Flüe, der versucht in eine geistige Sphäre zu gelangen, etwas Erdiges entgegenstellen wollte.

Dein Roman ist kein historisch akkurater. Schlägt dein neues Projekt eine ähnliche Richtung ein?

Wenn man nur Das Fleisch der Welt gelesen hat, denkt man vielleicht, das ist mein Hauptinteressensgebiet. Ganz im Gegenteil! Meine bisherigen Texte haben alle in der Gegenwart gespielt oder sogar eher in der Zukunft. Mich hat bei Das Fleisch der Welt nicht interessiert, wie es wirklich damals war. Ich wollte vielmehr das Potenzial dieser Situation herauskitzeln und schauen, was passiert. Es war eine Art Gedankenexperiment, das es meines Wissens bisher nicht gab. Mein neues Buch spielt wieder in der Gegenwart. Was bleiben wird, ist sicher das Absurde und das Zusammenbringen verschiedener Dinge.

Adam Schwarz, danke für das Gespräch!

Wie es denn wäre

Es ist sehr heiss im übervollen Theatersaal und Thilo Krause erzählt vom Sommer. Er berichtet von überreifen Brombeeren – schwarz und schimmlig, von Kindern, die im Freien spielen – durstig und trunken zugleich. Und er nimmt uns mit nach Sardinien, wo er jedes Jahr für einige Monate mit seiner Familie wohne und in ein anderes Leben hineinschnuppere: Wie es denn wäre. Das sardische Meer sei ein geträumtes, heisst es in einem Gedicht, mehr abwesend als anwesend. Es zeige sich in den Anzeichen von Sturm, erscheine in den Spiegeln des Ferienhauses. Von der Fülle, die auf ein bevorstehendes Gewitter verweisen kann, berichten andere Gedichte. Da ist zum Beispiel das Glas, voll mit Milch. Und die Kinder, die eine Sprache sprechen, die sie später nicht mehr verstehen werden, stehen in der Fülle, am Anfang des Lebens.

Thilo Krause verweist auf den Lyriker William Carlos Williams, der in seinen Gedichten von den Dingen spreche und den Alltag auffange. Auch er brauche die Dinge, um eine Welt zu evozieren. Die Dinge, die viel beständiger seien als wir, nehmen uns bei sich auf. Wie der alte Plüschhund, den Krause als kleines Kind geschenkt erhalten hat und jetzt genauso konform im Bett seines Kindes liege, wie früher in seinem. Als wären die Zeit und das Alter an ihm vorbeigegangen.

Auf den Plätzen in Sardinien fand sich Thilo Krause zwischen merkwürdigen Menschen, die in ihrer Weise alle schliefen. Auch hier wird die Hitze drückend und macht träge, doch lauscht das Publikum mit grosser Aufmerksamkeit Krauses Worten: Man hätte eine Stecknadel fallen hören, meinte der Moderator am Schluss.

„Sonst noch Wünsche, Sir?“

„Guten Morgen, Sir. Es ist Zeit aufzustehen.“ Weich und verführerisch haucht eine angenehme Frauenstimme diese Sätze dem noch vom Schlaf benebelten Protagonisten von The Andromeda Stream ins Ohr. Ende der 60er-Jahre schreibt Michael Crichton diese Zeilen, die von einem fernen Zukunftstraum erzählen, den mann sich in Pastell ausmalt und jäh platzt, als die Hauptfigur darüber in Kenntnis gesetzt wird, dass die Sprecherin stattliche 63 Jahre zählt.

Es ist Kathrin Passig, Autorin und Chatbot-Aktivistin, die in Solothurn am letzten Workshop des Zukunftsateliers zu Chatbots endlich auf den Elefanten im Raum hinweist: Westworld. Wenn es ein Stück zeitgenössische Popkultur gibt, dem der Diskurs zum Thema „Mensch und Maschine“ nicht mehr entgehen kann, ist es dieses dystopisch-visionäre Serien-Meisterwerk der Science-Fiction, das auf der Romanvorlage von Crichton basiert. Die Frage, die gleichermassen den Drehpunkt der Zukunftsatelier-Seminare wie auch der Serie bildet, lautet: Wie viel Mensch steckt in der Maschine?

Antworten auf diese Frage ziehen Konsequenzen nach sich, deren Tragweite nur im Ansatz ermessen werden kann. Das Seminar zur „Genderfrage“ beleuchtet den Einfluss von Genderstereotypen auf die Entwicklung von Chatbots und gewährt Einblicke in die aktuellen Debatten und Forschungsstände. Vor Ort ist Kristina Kutke, Botautorin und Akademikerin mit Forschungsschwerpunkt „Interaktion Mensch – Maschine“, die sich mit dem Geschlecht von Digital Assistants auseinandersetzt. Was sie berichtet, gibt zu denken: Alexa, Siri, Cortana und eine weitere bestechenden Mehrheit der digitalen Helferlein sind weiblich. Ihre Weiblichkeit spiegelt ein einziges Klischee, das der servilen, sorgenden und stets hilfsbereiten Frau. Der Chatbot als Mutterersatz? Da hätte sich Freud selbstgefällig die Hände gerieben.

Doch die klischiert weibliche Charakterisierung von Digital Assistants ist nicht nur im Hinblick auf ihre Reproduktion von Gender-Stereotypen und mütterlichen Männerfantasien bedenklich. Wenig überrascht es, dass jene menschlichen Begehren nach Wärme, Zuneigung und Geborgenheit von ökonomischen Interessen ausgebeutet werden: Frauenstimmen bringen mehr Geld ein. Ausserdem spiegeln sie den Nutzer_innen Souveränität und Kontrolle vor: „We want our technology to help us, but we want to be the boss of it.“

Spätestens wenn man durch die Praxis über die Möglichkeit von sexuell belästigendem Verhalten gegenüber Digitalen Assistentinnen nachzudenken gezwungen wird, kommt man an ethischen Fragen nicht mehr vorbei. Auf anzügliche Sprüche reagieren Alexa und Co. ihrem Profil gemäss geschmeichelt bis neckisch tadelnd. Einen #MeToo-Post darf man von ihnen nicht erwarten. In der Folge drängt sich die Frage auf, wie sich der Rückkoppelungseffekt der virtuellen Interaktion auf die analoge soziale Interaktion auswirkt. Eine Übertragung und Legitimierung sexistischen Verhaltens auf den Alltag liegt quasi auf der Hand. Dies lässt sich besonders bei Jugendlichen nachweisen, bemerkt Katkute, da diese Chatbots vorallem als Begleiter_innen ihrer Entwicklung erleben.

An dieser Stelle endet jedoch der dystopische Tunnelgang. Engagiert und begeistert diskutieren Katkute, Passig und der Moderator Roland Fischer, wie Gender von Bots richtig eingesetzt auch positive Auswirkungen haben und sogar dazu dienen können, Klischees aufzudecken und den Diskurs umzuprägen. Oder aber auch, wie damit lustvoll herumgespielt werden kann. Gegen Ende der Diskussion verdüsterten sich die Aussichten dann aber doch wieder. Nicht nur, weil die Ausbeutung von Sexrobotern und autarke Künstliche Intelligenzen problematisierte, sondern weil immer mehr Fragen unbeantwortet blieben: Gibt es eine ethische Pflicht gegenüber Robotern? Inwiefern kann man von der Identität eines Roboters sprechen? Was ist so bedrohlich an der Tatsache, dass manche User_innen Chatbots nicht als solche erkennen, sondern sie für Menschen halten?

Mit rauchenden Köpfen schreiten wir über die Kreuzackerbrücke zurück zum Redaktionsbüro und sind uns einig: das war ein wirklich gelungenes Podium.

Shantala Hummler, Mia Jenni

Die Kritik der kritischen Literaturkritik. So halb in eigener Sache.

Diese Veranstaltung zielt gleichsam close to home. Philipp Theisohn und Thomas Hunkeler führen, von Beat Mazenauer launig moderiert, in der Säulenhalle des Landhauses ein angenehm differenziertes Gespräch über die Lage der Literaturkritik.

Dabei geht es auch ganz explizit um die Rahmenbedingungen dieses Blogs. Einige von uns reden nämlich mit, erfahren wir vor Ort, als wir in die vorderste Reihe bugsiert werden. So be it! Wir bemühen uns, die eigene Schreiberfahrung auf halbwegs aussagekräftige Beobachtungen über das Verhältnis von Kritik und Wissenschaft hin zu schröpfen. Die Eindrücke kontrastieren die beiden Pole: Es ist ein schnelleres Schreiben; es muss angesichts viel engerer Zeithorizonte auch mal einfach mit einem Text zufrieden sein. Auch das spontane Reagieren jenseits des sicheren Hafens schon längst kanonisierter Literatur fordert heraus. Das sind ganz andere Druckverhältnisse. Genug Nabelschau aber, denn es geht um Literaturkritik auch im viel weiteren Kontext.

Nachdem eine störende Vase aus dem Sichtfeld genommen wird, darf es auch ein wenig unverblümt hergehen. Die Zeiten der strahlkräftigen Literaturbeilagen scheinen passé. Ein Grossteil der Neuerscheinungen verteilt sich auf «kleine, sehr kleine und winzige Verlage». Die Aufmerksamkeit für Literatur schwindet.  Nostalgische Loblieder auf die gute alte Zeit kommen zum Glück trotzdem nicht auf, sind auch ohnehin nicht erwünscht, «Ich werd’ sonst so pathetisch», so Philipp Theisohn. Erfreulich klischeefern werden dementsprechend Problemfelder durchquert, von grossen Markteinbrüchen bis zu den Details regionalspezifischer Literaturszenen. Affektlagen und Selbstbilder einer zeitgenössischen Kritik sind da ebenso relevant wie Tücken und Möglichkeiten sozialer Medien. Dabei kommt mehr Abwägen als Programmatisches raus. Ganz düster schaut es ja auch nicht aus. Literaturkritisches Schreiben, so hofft man hier, kann auch eine neue Perspektive auf’s literaturwissenschaftliche Schreiben generieren, und umgekehrt. Potentiale habe die Literaturkritik allemal; ihr kommt es unter anderem zu, neue Bücher zu selektionieren und  einen gut informierten breiteren Diskurs herzustellen.

Gut informiert sind aber nicht nur die beiden Männer auf dem Podium, auch das Publikum bringt kenntnisreiche und kluge Wortmeldungen mit ein – es setzt sich aus gut informierten Laien, aber auch vielen Medienschaffenden zusammen. Podium und Publikum scheinen sich einig in ihrer Liebe zu zeitgenössischer Literatur. Das stimmt milde optimistisch.