Die Verflechtung der Welt

Das Bewusstsein des Menschen als Spiegel der Natur: eine traditionsreiche Metapher in der Philosophie, die über vier Jahrhunderte Erkenntnistheorie bewirtschaftet und Ende der Achtzigerjahre von Richard Rorty minutiös zerpflückt wurde. Bis heute haben unzählige turns – sprachliche, historische, kulturelle – eine Wand nach der anderen zwischen uns und der Welt aufgezogen. Zumindest eine Einsicht teilen sie: Repräsentation ist keine einfache Sache. Natürlich weiss das nicht nur die Philosophie, sondern auch die Literaturwissenschaft – und nicht zuletzt die Autorinnen und Autoren selbst. Barbara Schibli ist eine von ihnen. Im prächtigen Theatersaal des Stadttheaters Solothurn, dessen mit rotem Samt bezogene Sitze vollzählig belegt waren, las Schibli aus ihrem viel beachteten Debütroman „Flechten“, moderiert von Valeria Heintges.

In „Flechten“ kehrt Barbara Schibli das erkenntnistheoretische Paradigma des 17. Jahrhunderts um. Nicht der Mensch fungiert als Spiegel der Natur, vielmehr wird die Natur zum Spiegel des Menschen:

„Man meint, ein Stück unbekannte Natur zu beobachten, dabei ist es ein Teil von einem selbst.“

Die Hauptfigur Anna ist Flechtenforscherin und absolut besessen vom akribischen Zerlegen, Sammeln, Ordnen und Beschriften der Welt. Durch Annas Augen sehen wir nicht nur die im Roman erzählte Welt, sondern nehmen auch die Perspektive einer Botanikerin auf die Natur ein. Leta wiederum, Annas Zwillingsschwester, kann nicht aufhören, die Welt durch ihre Kameralinse einzufangen und auf Fotopapier zu bannen. Motiv ist ausschliesslich ihre Schwester, eine idée fixe. In präziser poetischer Sprache, die den fein säuberlich zerlegenden Gestus der Erzählfigur nachzeichnet, spinnt „Flechten“ die Geschichte einer zerstörerischen Symbiose zweier Frauen, die in einer festen Umarmung um ihre Unabhängigkeit kämpfen. Beide versuchen sie, im zielgerichteten, analytischen Blick auf die Welt ihrer hilflosen und unbeholfenen Verstrickungen Herrin zu werden – und scheitern.

Über zehn Jahre habe sie an dem Text geschrieben, sagt Barbara Schibli. Schreiben, das sei für sie ein spielerischer, wenn auch keineswegs ein harmloser Prozess. Es sei ein dauerndes Tasten und Suchen, auch nach sich selbst. So beschreibt der Text in Kreisbewegungen die Suche nach Identität, die sich im Oszillieren zwischen Annähern und Abgrenzen formt und deren Gestalt dadurch in stetiger Veränderung begriffen ist. Die Beziehung des Zwillingpaares Anna/Leta zeigt in drastischer Weise, wie fragil Identitäten beschaffen sind. Anna versucht sich vehement gegen Letas Übergriffigkeit zu wehren, scheitert jedoch auch an ihrem eigenen Begehren, gesehen und anerkannt zu werden. Leta hingegen schafft es nicht, sich von ihrer Fixierung auf ihre Schwester zu lösen, wodurch es ihr verunmöglicht wird, sich persönlich wie auch beruflich weiterzuentwickeln.

Geschickt flicht Schibli in die Erzählung dieser vielmehr parasitären Zwillingsbeziehung Reflexionen über aktuelle ökologische, politische und soziale Problemstellungen, die sich aus der ausbeuterischen Gestaltung der Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt ergeben: Luftverschmutzung, Bienensterben, Digitalisierungsprozesse, das narzisstische Kreisen um das Selbst der Selfiekultur, kunstvolle Spiegelungen des Identitätstopos, die im Motiv der Zwillinge und der Flechten zusammengeführt werden. Ausserdem lässt Schibli sichtbar die Techniken eines weiteren Mediums einfliessen: Sie sei eine grosse Filmliebhaberin. Dies zeigt sich an den vielen Überblendungen, Raffungen und Dehnungen der Zeit, die sie gekonnt in die Komposition eingearbeitet hat. Spannung wird gerade nicht mittels der Handlung, sondern durch ebendiese komplexe und kunstreiche Erzähltechnik erreicht.

Gespannt darf auch das Publikum sein, nämlich auf Barbara Schiblis nächsten Roman. Es bleibt nur zu hoffen, dass sie dieses Mal nicht mehr ganz so lange zum Schreiben braucht – ich kann es nämlich kaum erwarten, weitere Bücher von dieser bestechend klugen und sympathischen Schriftstellerin in die Finger zu bekommen.