Drei Bühnen für den Nachwuchs

Drei Gewinnerinnen

Der Saal im Landeshaus füllt sich. Auf der Bühne sitzen die drei Gewinnerinnen des Schreibwettbewerbs „OpenNet“ der Solothurner Literaturtage, flankiert von zwei Moderatorinnen. „Allegro“, sagt Bettina Vital. Die Eröffnungsworte sind Rätoromanisch, denn erstmals ist ein rätoromanischer Text unter den Gewinnern. Die beiden anderen, die aus den 140 Einsendungen ausgewählt wurden, sind deutschsprachige Texte. Die Gewinnerinnen Flurina Badel, Mara Meier und Marta Piras präsentieren in einer Lesung und im Gespräch mit der Jury ihre Gewinnertexte. Diese führen das in der Gedankenwelt eines Schulmädchens, dann in eine vom Krieg erschütterte Dystopie und schliesslich in die Wohnung von jemandem, der sich für den dritten Weltkrieg rüstet.

In der Eröffnungsrede betont die Moderatorin, dass es ein Hauptanliegen der Literaturtage sei, den Nachwuchs zu fördern. Diesen Vorsatz ist auch in anderen Veranstaltungen zu sehen.

Junge Diskussionskultur

Im Format Skriptor hingegen diskutieren junge oder im Literaturbetrieb gerade erst angekommene Autorinnen und Autoren neben etablierten über unveröffentlichte Texte. Das Vorhaben, auch die neue Generation zu erreichen und junge Leute die Freude am Schreiben und an der Literatur näher zu bringen, scheint zu wirken – wenn ich mich umblicke, ist der Altersdurchschnitt jünger als bei den anderen Lesungen.

Andrang an der „offenen Bühne“

Den Förderpreis „OpenNet“ der Literaturtage gibt es in dieser Form seit 2001. Davor gab es den „offenen Block“, in dem jedermann und jede Frau etwas Selbstgeschriebenes vortragen konnte. Vor zwei Jahren hat sich dafür die „offene Bühne“ herausgebildet, ein Wagon mit Schreibtisch und Mikrofon. Auf dem Klosterplatz können Autorinnen und Autoren ihre Texte öffentlich präsentieren. Auch einmal in Solothurn lesen, das wollen viele. Die Betreuerinnen der „offenen Bühne“, Nadia Brügger und Sara Wegmann, sagen, der Andrang sei hoch. Vor allem am Freitag und Samstag, als schönes Wetter war und die Leute an der Aussenbühne vorbeiflanierten und einfach mal stehen blieben. So mussten sie auch schon Leute abweisen, weil es zeitlich nicht mehr reichte. Die Schreibenden, die den Sprung auf die Bühne gewagt haben, reichten von der Schülerin bis zum Rentner. Vor allem Lyrik sei vorgetragen worden, aber auch Kurzprosa und Erzählungen. Nicht nur bei den Lesenden, auch beim Publikum ist das Format beliebt. Die Leute diskutieren meist noch lange über die gehörten Texte, meint Nadia Brügger. So ist nicht auszuschliessen, dass schon bald auf den Hauptbühnen von Solothurn die eine oder der andere Schreibende davon berichtet, wie sie oder er einst die ersten Schritte in die literarische Öffentlichkeit auf einer dieser drei Bühnen gewagt hat.

„Ich hab kein einziges Wort davon geschrieben und trotzdem ist es mein Text“ – Peter Stamm und seine Übersetzer.

Wer meint, schon alles über den vielbesprochenen und allseits bekannten Peter Stamm zu wissen, hätte heute dabei sein sollen. In der bis zum letzten Platz gefüllten Säulenhalle des Solothurner Landhauses stand für einmal nicht der Autor im Mittelpunkt des Geschehens, sondern seine Übersetzer und Übersetzerinnen.

Vier Peter Stamm-Spezialisten aus Russland, Slowenien, Kuba und Schweden unterhielten sich unter der sehr guten Moderation von Angelila Salvisberg über die Herausforderungen ihres Handwerks. So bereiten Maija Zorkaja die scheinbar einfachen Passagen Schwierigkeiten. Wenn also Thomas und Astrid in Weit über das Land zusammen ein Glas Wein trinken, dann bedeutet dies in der wörtlichen Übersetzung ins Russische, dass sie tatsächlich zu zweit nur ein Glas trinken. Korrigiert man nun aber den Inhalt, stimmt der Rhythmus nicht mehr. Ein schmaler Grat zwischen Sinn und Klang.

Anibal Campos muss hingegen Acht geben, nicht ins Pathos zu verfallen, das sich spanischsprachige Leser aus ihrer literarischen Tradition gewöhnt sind. Schliesslich erinnert sich der slowenische Übersetzer Slavo Šerc an ein besonders schwieriges Wortspiel und Jörn Lindskog wollte den von Stamm selbstgewählten Titeln gerecht werden.

Vielleicht war das Gespräch auch deshalb so angenehm zu hören, weil Stamm mit seinen Übersetzern und Übersetzerinnen auch ein freundschaftliches Verhältnis verbindet. Diese schätzen seine Hilfsbereitschaft, aber auch, dass er sie einfach ihre Arbeit machen lässt.

Aufschlussreich war auch zu erfahren, von wem Peter Stamm in den jeweiligen Ländern überhaupt gelesen wird. Während es in Spanien hauptsächlich die Intellektuellen sind, scheint er in den übrigen Ländern einen breiteren Anklang zu finden.

Als die Zeit um war, schien das Thema noch lange nicht ausdiskutiert. Zufrieden waren wir – und auch das Publikum –  mit dem Einblick allemal.

Julia Sjöberg, Sascha Wisniewski

Geschichten aus dem Holzkoffer

Bunte Buchstaben hängen gross in der Luft, Kissen, Märchenbücher und Malstifte bedecken kaleidoskopartig die niedrigen Tischchen im Raum, der von einem diffusen Gelächter durchflutet wird. Im zweiten Stockwerk des JuKiLiversum der Literaturtage Buchhandlung findet sich inmitten literarischer Hektik eine wundersame Oase. Hier wird keine Ernsthaftigkeit gepriesen, keine Textstelle minutiös betont oder analysiert – es ist ein Ort, an dem der ursprünglichste Teil des Menschen sein zuhause findet. Ein Ort für Kinder.

«Lueg, do chasch anesitze und Geschichtli lose», nimmt die Kinderhortleiterin einen kleinen Jungen zur Hand und weist zur winzigen Bühne, auf der ein Holzkoffer steht.

«Wötsch anesitze?», fragt sie ihn. 

Im nahezu vergessenen klassischen Lagerfeuerstil wird hier Mira Gysis Geschichte Die Geiss, die alles weiss von der Leseanimatorin Franziska Honegger präsentiert und zwar mittels eines Kamishibai-Bildtheaters. Das japanische Kompositum aus kami (dt.: Papier) und shibai (dt.: Schauspiel) bezeichnet ein traditionell japanisches Papiertheater in einem Holzkoffer.

Vor der kleinen Theateraufführung teilt Franziska Honegger den Kindern kleine Stoffsäckchen aus, in die sie hineingreifen müssen, um die Protagonisten des Theaterstücks zu befühlen. Hineingucken gilt nicht.  Ein Gummitier mit einem langen Fortsatz. Es sind kleine Mäuse! Grossäugig blicken die Kinder auf die Bühne, als schon das nächste Säckchen verteilt wird. Eine Geschichte, in der die Figuren wahrhaftig spürbar werden.

Die Protagonisten stehen fest – «Muus, Schneck, Geiss, Chatz». Die Geiss (Ziege) ist die wichtigste Figur. Es ist die Geiss, die alles weiss. Ein Dutzend Bilder erzählen von ihrer Entdeckungsreise auf dem Bauernhof, während Honegger den Papierfiguren ihre Stimme leiht. Die Geschichte ist durchwegs interaktiv gestaltet, fortwährend schlüpft Honegger aus ihrer Erzählerrolle und durchbricht die illusorische Geschlossenheit eines klassischen Theaterstücks. Freilich existiert nur eine einzige Wand, die Wand auf der die Szenen Bild für Bild ersetzt werden. Zu jedem Bild werden die Kinder gefragt, was sie auf der Miniaturbühne sehen.

(Franziska Honegger mitten in ihrer Performanz)

«Chäs-chatz», ruft plötzlich ein blondlockiges Mädchen in der vordersten Reihe. Die Eltern im Hintergrund lachen auf.

Zum Schluss öffnet Honegger einen braunen Flechtkorb und reicht den Kindern kleine, mit Laken überdeckte Tupperwaredosen mit Lebensmitteln aus dem Bauernhof. Was die Kleinen genau erschnuppert haben, das fragt man sie am besten selbst. Im Kamishibai-Bildtheater, zweiter Stockwerk des JuKiLiversum der Literaturtage Buchhandlung…

Literarisches Flanieren: Kurzlesung von Arno Camenisch

Ein kurzer Schreckmoment erfasst das Publikum als Arno Camenisch schon nach der Hälfte der Zeit verschmitzt und in schönstem Bündnerdeutsch verkündet, wer wissen wolle, wie es nun mit den beiden „Philosophen im Schnee“, Georg und Paul, weitergeht, müsse sich eben sein Buch kaufen. Es sei ja schliesslich bald wieder Weihnachten. Und ich komme nicht umhin, ihm beipflichten: Es ist auch wirklich lesenswert, hörenswert aber noch vielmehr, was die beiden Liftwarte einander vom Pfarrerssohn, gesegneten Skiern und ausbleibendem Schnee zu erzählen haben. Gesegnete Skier? „Miar machend das so.“

Dann macht Camenisch zur Freude der Zuschauer_innen das, was er am besten kann und trägt einen seiner Spoken-Word-Texte auf Deutsch und Rumantsch vor, in dem er Ilanz – oder Glion – kurzerhand zum Zentrum der Welt macht. Auf der Bühne kommt der dichte Sog der rhythmischen Sprache zu seiner vollen Entfaltung. Das erklärt vielleicht auch, warum die Meinungen über sein Buch unter uns Studierenden weit auseinandergingen. Mit seiner Stimme im Ohr liest sich Der letzte Schnee ganz anders.

Wie es denn wäre

Es ist sehr heiss im übervollen Theatersaal und Thilo Krause erzählt vom Sommer. Er berichtet von überreifen Brombeeren – schwarz und schimmlig, von Kindern, die im Freien spielen – durstig und trunken zugleich. Und er nimmt uns mit nach Sardinien, wo er jedes Jahr für einige Monate mit seiner Familie wohne und in ein anderes Leben hineinschnuppere: Wie es denn wäre. Das sardische Meer sei ein geträumtes, heisst es in einem Gedicht, mehr abwesend als anwesend. Es zeige sich in den Anzeichen von Sturm, erscheine in den Spiegeln des Ferienhauses. Von der Fülle, die auf ein bevorstehendes Gewitter verweisen kann, berichten andere Gedichte. Da ist zum Beispiel das Glas, voll mit Milch. Und die Kinder, die eine Sprache sprechen, die sie später nicht mehr verstehen werden, stehen in der Fülle, am Anfang des Lebens.

Thilo Krause verweist auf den Lyriker William Carlos Williams, der in seinen Gedichten von den Dingen spreche und den Alltag auffange. Auch er brauche die Dinge, um eine Welt zu evozieren. Die Dinge, die viel beständiger seien als wir, nehmen uns bei sich auf. Wie der alte Plüschhund, den Krause als kleines Kind geschenkt erhalten hat und jetzt genauso konform im Bett seines Kindes liege, wie früher in seinem. Als wären die Zeit und das Alter an ihm vorbeigegangen.

Auf den Plätzen in Sardinien fand sich Thilo Krause zwischen merkwürdigen Menschen, die in ihrer Weise alle schliefen. Auch hier wird die Hitze drückend und macht träge, doch lauscht das Publikum mit grosser Aufmerksamkeit Krauses Worten: Man hätte eine Stecknadel fallen hören, meinte der Moderator am Schluss.

„Sonst noch Wünsche, Sir?“

„Guten Morgen, Sir. Es ist Zeit aufzustehen.“ Weich und verführerisch haucht eine angenehme Frauenstimme diese Sätze dem noch vom Schlaf benebelten Protagonisten von The Andromeda Stream ins Ohr. Ende der 60er-Jahre schreibt Michael Crichton diese Zeilen, die von einem fernen Zukunftstraum erzählen, den mann sich in Pastell ausmalt und jäh platzt, als die Hauptfigur darüber in Kenntnis gesetzt wird, dass die Sprecherin stattliche 63 Jahre zählt.

Es ist Kathrin Passig, Autorin und Chatbot-Aktivistin, die in Solothurn am letzten Workshop des Zukunftsateliers zu Chatbots endlich auf den Elefanten im Raum hinweist: Westworld. Wenn es ein Stück zeitgenössische Popkultur gibt, dem der Diskurs zum Thema „Mensch und Maschine“ nicht mehr entgehen kann, ist es dieses dystopisch-visionäre Serien-Meisterwerk der Science-Fiction, das auf der Romanvorlage von Crichton basiert. Die Frage, die gleichermassen den Drehpunkt der Zukunftsatelier-Seminare wie auch der Serie bildet, lautet: Wie viel Mensch steckt in der Maschine?

Antworten auf diese Frage ziehen Konsequenzen nach sich, deren Tragweite nur im Ansatz ermessen werden kann. Das Seminar zur „Genderfrage“ beleuchtet den Einfluss von Genderstereotypen auf die Entwicklung von Chatbots und gewährt Einblicke in die aktuellen Debatten und Forschungsstände. Vor Ort ist Kristina Kutke, Botautorin und Akademikerin mit Forschungsschwerpunkt „Interaktion Mensch – Maschine“, die sich mit dem Geschlecht von Digital Assistants auseinandersetzt. Was sie berichtet, gibt zu denken: Alexa, Siri, Cortana und eine weitere bestechenden Mehrheit der digitalen Helferlein sind weiblich. Ihre Weiblichkeit spiegelt ein einziges Klischee, das der servilen, sorgenden und stets hilfsbereiten Frau. Der Chatbot als Mutterersatz? Da hätte sich Freud selbstgefällig die Hände gerieben.

Doch die klischiert weibliche Charakterisierung von Digital Assistants ist nicht nur im Hinblick auf ihre Reproduktion von Gender-Stereotypen und mütterlichen Männerfantasien bedenklich. Wenig überrascht es, dass jene menschlichen Begehren nach Wärme, Zuneigung und Geborgenheit von ökonomischen Interessen ausgebeutet werden: Frauenstimmen bringen mehr Geld ein. Ausserdem spiegeln sie den Nutzer_innen Souveränität und Kontrolle vor: „We want our technology to help us, but we want to be the boss of it.“

Spätestens wenn man durch die Praxis über die Möglichkeit von sexuell belästigendem Verhalten gegenüber Digitalen Assistentinnen nachzudenken gezwungen wird, kommt man an ethischen Fragen nicht mehr vorbei. Auf anzügliche Sprüche reagieren Alexa und Co. ihrem Profil gemäss geschmeichelt bis neckisch tadelnd. Einen #MeToo-Post darf man von ihnen nicht erwarten. In der Folge drängt sich die Frage auf, wie sich der Rückkoppelungseffekt der virtuellen Interaktion auf die analoge soziale Interaktion auswirkt. Eine Übertragung und Legitimierung sexistischen Verhaltens auf den Alltag liegt quasi auf der Hand. Dies lässt sich besonders bei Jugendlichen nachweisen, bemerkt Katkute, da diese Chatbots vorallem als Begleiter_innen ihrer Entwicklung erleben.

An dieser Stelle endet jedoch der dystopische Tunnelgang. Engagiert und begeistert diskutieren Katkute, Passig und der Moderator Roland Fischer, wie Gender von Bots richtig eingesetzt auch positive Auswirkungen haben und sogar dazu dienen können, Klischees aufzudecken und den Diskurs umzuprägen. Oder aber auch, wie damit lustvoll herumgespielt werden kann. Gegen Ende der Diskussion verdüsterten sich die Aussichten dann aber doch wieder. Nicht nur, weil die Ausbeutung von Sexrobotern und autarke Künstliche Intelligenzen problematisierte, sondern weil immer mehr Fragen unbeantwortet blieben: Gibt es eine ethische Pflicht gegenüber Robotern? Inwiefern kann man von der Identität eines Roboters sprechen? Was ist so bedrohlich an der Tatsache, dass manche User_innen Chatbots nicht als solche erkennen, sondern sie für Menschen halten?

Mit rauchenden Köpfen schreiten wir über die Kreuzackerbrücke zurück zum Redaktionsbüro und sind uns einig: das war ein wirklich gelungenes Podium.

Shantala Hummler, Mia Jenni

Ein ruhiges Fliessen

Während draussen die Aare gelassen vor sich hinfliesst, machen sich drinnen im Landhaussaal sowohl Publikum wie auch der Mann der Stunde, Christian Haller, in schweizerischer Ordentlichkeit für die Lesung bereit. Fein säuberlich legt eine Frau ihr „Öpfelpütschgi“ in ein Papiertaschentuch, eine andere zupft die über den Stuhl gehängte Jacke des Vordermanns zurecht und Christian Haller öffnet seine schwarze Umhängetasche, aus der er sorgsam seinen neuen Roman Das unaufhaltsame Fliessen hervorzieht.

Nach Die verborgenen Ufer ist dies der zweite Teil einer geplanten Trilogie, in der Haller seinen Weg zum Schriftsteller nachzeichnet. Der Roman wirkt fast noch ordentlicher als die Vorbereitungen zur Lesung. Jeder vorgelesene Ausschnitt ist darauf ausgelegt, sein Stück zum Werdegang des Autors beizutragen. Das Fliessen hin zu seinem Ziel war trotz verschiedener Rückschläge dann eben doch unaufhaltsam.

Zunächst wäre da die Begegnung mit der Witwe des bisher zu wenig beachteten Schriftstellers Adrien Turel. Fasziniert vom anarchischen Denken, das er in den Manuskripten des Verstorbenen antrifft, beschliesst Haller, sich um dessen Nachlass zu kümmern. Durch die Beschäftigung mit den Texten kommt es bei Haller zu einer ersten ernsthaften Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften. Später wird er Zoologie studieren. Wie Haller im Gespräch mit Karin Schneuwly bekanntgibt, hatte die Naturwissenschaft und insbesondere das wissenschaftliche Schreiben einen grossen Einfluss auf seine Arbeit als Schriftsteller. Dadurch habe er gelernt, sich einfach und klar auszudrücken. Ein Schreiben, das ohne Redundanzen zum Kern der Sache vordringen soll.

Literarischen Input erhält Haller im Anschluss an ein Abendessen mit Georg Kreisler. Der bereits gestandene Künstler erklärt sich dazu bereit, Hallers Texte zu lesen und ihm ein schonungsloses Feedback zu geben. Brieflich teilt Kreisler ihm mit, dass er ihn „leider ermutigen muss“ weiterzumachen. Das Publikum lacht. Der Altmeister schafft es auch noch über seinen Tod hinaus, für Unterhaltung zu sorgen.

Schliesslich kommt Haller auf die Globuskrawalle zu sprechen. Eine Schlacht, wie Haller beschreibt, zwischen Demonstranten und Polizisten, bei der sich der angehende Autor in die Rolle des Beobachters gedrängt sieht. Anstatt nach einem Pflasterstein zu greifen, um diesen gegen die Polizisten zu schleudern, entschliesst er sich dagegen. Und das obwohl er ein guter Werfer sei. Er war sogar so gut, dass es er eine Spezialausbildung im Militär als Handgranatenwerfer machen durfte. Erneutes Lachen macht sich im Publikum breit. Doch – wen wundert’s – Haller will lieber mit Worten und Sprache um sich werfen und nicht mit Pflastersteinen.

Im anschliessenden Gespräch nimmt Karin Schneuwly eine Frage auf, die auch dem ersten Kapitel vorangestellt ist: „Wo stehe ich heute auf meinem Weg, vier Jahre nach dem Entschluss, Schriftsteller zu werden?“ Sie fragt ihn, wie er diese Frage heute beantworten würde. Er sei angekommen, ansonsten hätte er sich auch gar nicht dazu in der Lage gefühlt, eine Autobiographie zu schreiben, in der er seinen Weg zum eigenen Schaffen Revue passieren lässt. Das merkt man. Es ist die Biographie eines arrivierten Schriftstellers, der am Ende seiner Suche angelangt ist. Das Fliessen in die Schriftstellerei zeigt sich in jeder der beschriebenen Stationen. Mitgerissen wird man dabei als Leser jedoch nicht. Zu harmonisch und verklärt wirkt Hallers Blick auf seinen Werdegang. Das Lesen gleicht mehr einem sanften Treibenlassen. Das ist in Ordnung, mehr aber auch nicht.

Die Blätterteigzeitung und weitere Gemälde

Die sommerlichen Temperaturen sind bereits spürbar und die Aussenbühne beim Solothurner Landhausquai wird kräftig bestrahlt. Trotzdem sind die Sitzplätze restlos besetzt und Menschentrauben bilden sich um das kleine Leser_innenpodest. Denn, es lohnt sich. Vor allem wenn der Vorleser Christian Haller heisst. Mit unaufgeregter, warmer Stimme liest er zwei Kurzgeschichten aus dem 2010 erscheinen Werk Die Stecknadeln des Herr Nabokov vor.

Haller schafft es, aus Alltäglichem das gewisse Etwas heraus zu kitzeln. Immer wieder muss das Publikum schmunzeln und nicken, wenn es sich an eigene ähnliche Erlebnisse erinnert.

Die morgendliche Zeitung wird zum Blätterteig, der das Übel der Welt bereit hält. Sie wird auch zu einem Ort der Versicherung, dass sich über Nacht nichts grundlegend verändert hat. Ein Ort, wo man seine „heimlichen Laster“ finden kann. Für die Einen mag es der Wetterbericht sein, für andere die Kontaktanzeigen, für Dritte die Rätselseite. Für den Erzähler sind es die Stellenangebote, die Fenster zur unbekannten, möglichen Zukunft öffnen. Oder zumindest waren es die Stellenangebote. Mit fortschreitendem Alter jedoch werden die Todesanzeigen und die näher rückenden Jahreszahlen immer interessanter. Gespannt folgt man den morgendlichen Kämpfen gegen das Altfühlen des Erzählers und fühlt sich ertappt, ähnliche Gedankengänge ebenfalls schon ausgeführt zu haben.

Mit der zweiten Kurzgeschichte entführt Haller uns ins Baltikum. Wir fahren mit einem Übersetzer von Tallinn nach Vilnius. Gestoppt wird auf einem alten Adelshof mit verwildertem Garten und am Meer, um spontan baden zu gehen. Die Halte vergleicht Haller liebevoll detailliert mit bekannten Gemälden und Fotografien. Es gelingt ihm, die grundverschiedenen Atmosphären und Farben der beiden Orte einzufangen.

Kurz vor Schluss flechtet Haller geschickt eine historische Rückblende ein. Achtvoll lässt er die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges an ebendieser Küste aufleben. Die weisse Stille des Strandes wirkt plötzlich nicht mehr ganz so friedlich und wird zum Ort des Vergessenen. Die Erzählungen Hallers berührt unerwartet.

Unaufgeregt endet die Lesung. Schade eigentlich, trotz der Hitze.

Kein Streit

„Joute de traduction“ heisst die Veranstaltung, an der eine Übersetzerin und ein Übersetzer in den Ring treten und ihre jeweilige Wortwahl verteidigen sollen. Die übersetzten Textpassagen stammen aus Levin Westermanns Gedichtsammlung 3511 Zwetajewa. Valentin Decoppet und Raphaëlle Lacord treffen sich zum Duell und werden sich um Worte streiten, so die Erwartung.

Doch der Moderator Yves Raeber warnt vor: Der Ausdruck „rompre une lance“, „eine Lanze brechen“, könne man ja auch auf zwei Arten verstehen. Einen Gegner töten, könne es heissen, auch aber eine Lanze brechen für jemanden, als Zeichen des Respekts und der Freundschaft. Freundschaftlich geht es zwischen den beiden die ganze Stunde über zu. Was als „joute“, als Turnier oder Wettstreit angelegt ist, wird eher zum freundlich-vorsichtigen Abtasten.

Die beiden Parteien geraten sich einfach nicht so richtig in die Haare. Im zweiminütigen Verteidigungstakt bringen sie Argumente an, weshalb sie einen gewissen Textauszug so übersetzt haben, wie sie ihn übersetzt haben. Wie haben die beiden zum Beispiel „Urzustand“ übersetzt? Die Spannung steigt, die Blicke sind auf die Leinwand gerichtet. Dann erscheint der Text, Decoppet und Lacord lesen ihre Vorschläge vor. Lacord hat sich für „l’état premier“ entschieden, während Decoppet „l’état originel“ bevorzugte. Doch dies bleiben Vorschläge, und oft können sie die Übersetzung des anderen auch ganz gut nachvollziehen.

Raeber versucht immer mal wieder, das Feuer zu entfachen und sie zum Streit anzustiften: „Maintenant il faut tout donner!“, „Jetzt müsst ihr alles geben!“, betont er gegen Ende nochmals. Immer noch kein Streit. Vielleicht heisst alles zu geben in der Übersetzung auch einfach nicht, das Beste zu finden und auf Gedeih und Verderben zu verteidigen, sondern das Gute immer wieder umzudrehen, von allen Seiten her anzuschauen und zu befragen.

Gepflegter Trash

Zwei Verlage präsentieren am Solothurner Freitagabend Schund- und Groschenromane fiktionaler Autor_innen. Wir haben uns amüsiert.

Den Anfang macht der Verlag die brotsuppe. Zu zehnt werden in einer ersten szenischen Lesung Perlen des Trashs wie Eine wie keine – oder wie Winnie Grok zum Wunder wurd [sic!] von Raul Rabbassi vorgetragen. Unser Favorit war aber Blut im Mississippi – Vol 1. Die Köter des Todes von Dan D. Dutch. Darin geht es haarsträubend zu – eine lüsterne Witwe «drückt die Zigarette neben dem Sarg ihres Mannes aus» und versucht noch an Ort und Stelle einen unerfahrenen und sehr (!) jungen Buben zu verführen. So viele Tabus auf so wenig Text!

Nach einer Pause empfängt uns das Literaturmagazin Narr mit seiner Auswahl von Groschenromanen zurück. Die Nacht der Todeshandys und Ein Sonnenstrahl kommt selten allein – Verliebt in raue Hände überbieten sich. Dabei tut den Texten die zusätzlich karikierend wirkende szenische Lesung nicht nur gut – es wäre mutiger gewesen, die Texte für sich sprechen zu lassen. Zwischen den Texten werden urkomische Zusammenschnitte fast identischer Kinoszenen (wie durch Dritte gestörte Kussszenen) abgespielt. Diese streichen heraus, dass hier einerseits die relative Einfallslosigkeit der seriellen Groschenromane auf die Schippe genommen werden soll. Andererseits stellt sich dabei auch die Freude am Wiedererkennen von Stereotypen ein, die wohl auch zum Reiz eines einigermassen reflektierten und durchironisierten Trashkonsums gehört.

In diesem zweiten Teil wirkt die Formelhaftigkeit der Groschenroman-Vorlagen besser getroffen, ihre Auswahl parodiert mit grösserer Präzision, aber etwas weniger wilder Fabulierlust. Das lässt die Narr-Texte intelligenter wirken, fast auf groteske Weise analytischer, aber auch ein wenig kühler. Schade, blieben bei diesem Fest des gepflegten Trashs so viele Stühle leer, denn wir waren uns einig: Die pulp fiction bescherte uns kurzweilige drei Stunden mit liebevoll nerdigem Schund.

Marco Neuhaus, Julia Sjöberg