Meine Gewalt

Ob es ein unglücklicher Zufall oder symptomatisch gewesen ist, dass die Ehrung Mariella Mehrs nicht nur im Uferbau-Kino, sondern auch im Schatten der Verleihung des Solothurner Literaturpreises anberaumt wurde, ist nicht mehr zu entscheiden. Festzuhalten bleibt indessen, dass trotz der ungünstigen Platzierung viele, sehr viele gekommen sind, um der Hommage, die Corina Caduff, Christa Baumberger und Nina Debrunner vorbereitet hatten, beizuwohnen. In Anwesenheit der Geehrten begann Günter Baumann mit den ersten Zeilen aus Mehrs 2002 erschienenem Roman Angeklagt:

Ich bin im Zustand der Gnade. Ich töte. Ich bin.

Gehören diese Worte im Roman der sicherheitsverwahrten Brandstifterin und Mörderin Kari Selb, so stellen sie an diesem Morgen doch bereits die Weichen: Im Folgenden wird über Gewalt geredet werden müssen. Das ist für sich genommen nicht so schwer, denn der Opferdiskurs, wie ihn jüngst Svenja Goltermann so instruktiv wie gründlich durchleuchtet hat, ist allgegenwärtig und – das klingt seltsam und ist es auch – besitzt auch eine auffällige Publikumsattraktion. Solange man die Rede über Gewalt so kodiert, dass sie in uns die Befriedigung erfüllt, im Lesen, Hören und Sehen selbst Opfer gewesen zu sein, stört diese Rede nicht.

Mariella Mehr ist sich zeit ihres schriftstellerischen Lebens der Problematik dieser Kodierung bewusst gewesen, handelt es sich dabei doch um ein Leben, das durch den marginalisierenden Blick auf das Opfer bestimmt gewesen ist. Nahezu unmöglich bleibt es Mehr, Dichterin – und sonst nichts – zu sein. Ihre Biographie legt sich wie Blei auf die Wahrnehmung ihrer literarischen Produktion. Immer ist sie zuerst das Mädchen, das die Aktion «Kinder der Landstrasse» seinen Eltern entrissen und letztlich in eine jahrzehntelange Tortur geschickt hat, dann ist sie die Jenische – und irgendwann dann ist sie auch noch Autorin. Das ist nicht nur peinlich, sondern im Horizont von Mehrs Poetologie auch vollkommen falsch. Nirgends stellen ihre Texte das Erleiden pathetisch aus, nie betteln sie um Empathie. Es sind Geschichten auf dem Weg zur Tat, zum Sein im Schlag. An einer wichtigen Stelle des Gesprächs schaltet sich Mehr – ohne Mikrophon nur schwer verständlich, aber gerade hierin umso wirksamer – spontan ein: Die «Auseinandersetzung mit Gewalt sei immer eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Gewaltpotential», und das ist ganz und gar nicht pädagogisch gemeint. Vielmehr erhellt Mehrs Einwurf ein Konzept der Souveränität einer Frau, die sich weigert, das Opfer zu sein (oder zu bleiben), das die Welt aus ihr machen möchte. Den Zustand der Gnade erreicht diese Literatur gerade in der Gnadenlosigkeit.

Überzeugen kann man sich von dieser in der Schweizer Gegenwartsliteratur einzigartigen Furiosität seit dem vergangenen Jahr wieder anhand zweier im Limmat Verlag erschienener Bände, von denen der eine Mehrs Trilogie der Gewalt (Daskind [1995], Brandzauber [1998] und Angeklagt [2002]), der andere – unter dem Titel Widerworte von Christa Baumberger und Nina Debrunner herausgegeben – Mehrs journalistisches Werk, ihre Gedichte und Reden vorstellt. Insbesondere die Rezensionen, überhaupt: ihre lesende Biographie kommt hier erstmals eindrucksvoll zum Vorschein und ist mehr als ein Zeitdokument. Ein ganz eigenes, in seiner Metaphorik originelles wie hellsichtiges Verständnis von Literatur zeigt sich hier – als Beispiel sei hier die hingebungsvolle wie kämpferische Auseinandersetzung mit Hermann Burgers Die künstliche Mutter genannt.

Wenn die Gefahr der unfreiwilligen Remarginalisierung Mariella Mehrs auch diesen Morgen einmal heimsuchte (in jenem kurzen Moment, in dem ihre Lyrik unmerklich zur Versprachlichung erlebter «Heimatlosigkeit» heruntergebrochen wurde), so gilt es den Veranstalterinnen dennoch vorbehaltlos und nachdrücklich für diese überfällige Hommage zu danken.

Am 16. Juni wird Mariella Mehr in Glarus/Ennenda der Anna-Göldi-Menschenrechtspreis verliehen werden.

Une traduction de fou

 

Le fou du roi. Comme un conte des mille et une nuits mais au XXe siècle, à la cour du roi marocain Hassan II. C’est la parole d’un père, bouffon du roi, dont l’un des fils a été arrêté lors d’un attentat. Et après quelques minutes de discussion, Mahi Binebine explique allégrement à l’assemblée qu’il s’agit bien de son père et de son frère, ce dernier enfermé dans ce qu’il appelle un « mouroir, un camp de concentration presque ». Avec Le fou du roi, le fils prend la voix du père pour le réconcilier avec le frère. Délicat comme démarche non ? Et Mahi Binebine de répondre avec un éclat de rire : « Faut être schizophrène comme les écrivains. Ils sont tous schizophrènes ! »

A côté lui, Regina Keil-Sagawe, traductrice du roman évoque la difficulté de retranscrire en allemand une langue comme celle de Mahi Binebine, parsemée de mots arabes, en un sens, métissée. Il faut prendre les mots directement en arabe pour les reproduire en allemand, explique-t-elle, traduire directement du français ne fonctionne pas.

Mais d’où part le langage du récit ? Mahi Binebine nous parle de francophonie. La langue qu’il utilise est française, mais avant tout marquée d’une vieille culture arabe qu’elle porte en elle. Pourtant, elle n’est qu’un outil. Ce qui importe, c’est ce qu’on raconte avec. Et avec la traduction de cette langue, « parfois on y gagne, parfois on y perd. C’est comme ça ! » Toujours en riant, il explique sa surprise lorsqu’il a appris que la traduction allemande du titre de son roman Cannibales était Wilkommen im Paradies. « Vous voyez, ça n’a rien à voir, mais c’est tout aussi bien ! C’est plus poétique. »

Donc traduire enrichit. Parfois on y perd aussi, mais c’est le jeu. Pour Regina Keil-Sagawe, il y a toujours quelque chose qui échappe et qui résiste à la traduction. Et lorsqu’intrigué par cette affirmation je demande si cette dimension intraduisible est une perte de la traduction, Mahi Binebine rit encore et m’explique que la langue n’est pas un élément fondateur de ses romans. Il l’utilise, il en fait ce qu’il veut, à la rigueur il s’amuse avec, mais la traduction ne vient en aucun cas altérer le contenu.

En partant, Mahi Binebine me gratifie d’un immense sourire. Sa jovialité est contagieuse et c’est aussi en souriant que je cherche Le fou du roi dans les rayons de la librairie.

Aminoël Meylan

«Wie immer in solchen Fällen lösche ich die Markierung.»

Nachdem ich feierlich ein paar Hemdknöpfe mehr als gewohnt zugemacht habe, begebe ich mich ins Stadtheater, um Peter Stamm dabei zuzuschauen, wie er den diesjährigen Solothurner Literaturpreis entgegennimmt. 

Bevor irgendwer auf der Bühne das Wort ergreift, leitet der Virtuose Jaap van Bemmelen die Preisverleihung mit seinem Gitarrenspiel ein. Sehr viele geschwinde Noten tupft er impressionistisch über langsame Grundrhythmen. Das klingt nach stiller Melancholie nach einem betriebsamen Tag. Da möchte man grad im weissen Anzug oder Kleid in der abendlichen Strandbar nachdenklich an einem Cocktail nippen, es ist aber erst halb elf.

Nach mehreren Tagen dynamischer Vorträge kommt einem Walter Pretellis darauffolgende Rede wohl steifer vor, als sie ist. Dabei erzählt er durchaus Anregendes über das Verhältnis von, ja, Buchhaltung und Literatur. In beiden Sphären werde eine Differenz von «Soll und Haben», von «Soll» und «Ist», sprich: von Fiktion und Realität gedacht. In solchen Differenz- und Grenzgebiete von Realität und Fiktion bewege sich auch der Schriftsteller Peter Stamm. Ja, doch, warum auch nicht; das hat was.

In seinem Ehrenwort verdankt Kurt Fluri ganz ordnungsgemäss Sponsoren, Gönnern, Gemeinden, Amtsträgern, lässt dann aber auch politische Noten antönen und verweist auf Debatten über Bibliothekstantiemen und Urheberrechte. Nachdem er ganz generell eine Lanze für die Kulturförderung gebrochen hat, verweist er auf die gute Sache, nämlich den Verein der Freunde der Zentralbibliothek Solothurn, der sich gewiss über Unterstützung für die zweitgrösste nichtuniversitäre Bibliothek der Schweiz freue:

Peter Stamm polarisiere ja durchaus, sagt Nicola Steiner in ihrer Laudatio, um Vorwürfen zuvorzukommen, die Jury habe es sich ja arg leicht gemacht mit so einem etablierten Autor. «An dem scheiden sich die Geister». Aber sein Werk steche konsequent heraus: Lakonisch und rhythmisiert erzähle es immer wieder vom Leiden an der Langeweile und vom Traum von anderen, nicht gelebten Leben; es verwische so gleichsam die Grenze zwischen Fiktion und Realität.

Von Fiktionen und Realitäten handelt auch eine «Facebookanekdote», die sie nacherzählt. Nachdem sie Peter Stamm in einem Beitrag markiert hatte, erhielt sie als Antwort: «Liebe Nicola, wie immer in solchen Fällen lösche ich diese Markierung und ergänze: Ich bin nicht dieser Peter Stamm. Die Welt ist klein und so teilen wir uns einige Bekannte, auch im richtigen Leben. Ich mag Ihre Arbeit ganz gerne, würde aber verstehen (mit Bedauern), wenn dieser Vorfall unsere FB-Freundschaft beenden würde. Liebe Grüsse, Peter Stamm». Das ist ein wenig rätselhaft, trifft aber in dieser gerade nicht beherzten Entzugsbewegung wie zufällig etwas für die Arbeit von Peter Stamm ganz Grundsätzliches.

Existenzielle Situationen, so Steiner weiter, würden bei Stamm ganz ohne Pathos, gleichsam mit Achselzucken aufgelöst. Kein Frage- und Antwortspiel dürfe man von ihm erwarten, sondern ein Frage- und Fragespiel. Als Autor male er nur genauso viele Pinselstriche, wie nötig damit man Schemen erkennen könne.

Dann kommt er endlich selber auf die Bühne, die Hände in den Hosentaschen, den Blick im 45 Gradwinkel vor sich auf den Boden gerichtet, lässt er sich gratulieren und verschwindet auch sobald er kann wieder von der Bühne, als sei er tatsächlich direkt aus einem der eigenen Romane nur zufällig hierher geraten. Nachdem Jaap van Bemmelen noch einmal ein paar, diesmal beschwingtere, Takte vorspielt, tritt Peter Stamm wieder auf die Bühne. Eine Dankesrede hat er statt einer Lesung vorbereitet. Auch eine solche liest er aber gewohnt ruhig. Das Gegenteil von Atemlosigkeit, könnte man sagen, obwohl Peter Stamm ja, wie ich gehört habe, gerne raucht.

Er rekapituliert Figuren aus seinen Büchern, die sich von der Literatur und vom Lesen abwenden. «Sogar Musik kam ihm nur noch vor wie eine Ablenkung vom Wesentlichen». Er zweifelt an der Macht und Unsterblichkeit der Literatur: «Schreiben ist Nebensache, Lesen ist Nebensache.»

So könnte er anfangen oder auch abschliessen, führt er aus: Wie wäre es, wenn er jetzt endigen würde mit seiner Rede. Wenn einige langsam den Saal verliessen, andere noch warteten: «Vielleicht kommt ja noch was». «Eine Geschichte ganz ohne Personen». Nach diesem konjunktivischen Exkurs stellt er aber klar: Er wollte sich immer der Wirklichkeit stellen, ihr nicht entfliehen. Literatur könne die Wirklichkeit nicht ersetzen. Ein Hilfsmittel, die Wirklichkeit klarer zu sehen, sei sie vielmehr. «Das sehen kann sie uns aber nicht abnehmen.»

Er träumt vom von einer Geschichte ganz ohne Personen und Verstummen und denkt an ein Leben, das noch gar nicht stattgefunden hat. Kein gravitätisches Schweigen schwebe ihm dabei vor, sondern ein heiteres; eines im Sinne von Wittgenstein: «Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen».

Dann entlässt uns ein weiteres Stück von Jaap van Bemmelen. Er endet mit einem offenen, fast fragend klingenden Akkord. Auch mit diesem könnte man, meine ich, grad so gut anfangen wie aufhören. Ganz am Schuss, als die Leute schon rausspazieren, kommt Peter Stamm noch mal auf die Bühne und lässt sich comme il faut mit Blumenstrauss und Jury fotografieren. Er sieht immer noch ein wenig unbehaglich, fast verzagt aus. Diesmal lächelt er aber.

 

Text im Entstehen

Das Format der Textwerkstatt wurde vor zwei Jahren aus dem Wunsch einiger Autoren gegründet, ihre Texte nicht nur beim Bier zu besprechen, wie es Moderator Donat Blum ausdrückte, sondern dies auch in einem passenden Rahmen zu tun. Offenbar weckt dieses Anliegen beim Publikum genauso grosses Interesse; die Veranstaltung war derart gut besucht, dass viele Zuschauer schliesslich auf dem Boden sassen oder sich an die Wände lehnten. Es scheint ein Bedürfnis unter den Literaturinteressierten zu bestehen, die Texte nicht bloss in ihrer fertigen Form präsentiert zu bekommen, sondern auch in ihr Entstehen Einblick zu erhalten.

Besprochen wurde ein unveröffentlichter Text von Rebecca Gisler, zu dem sich die anderen Teilnehmenden äussern durften. Mit dabei waren: Judith Keller, Robert Prosser, Adam Schwarz, Noemi Somalvico und Verena Stössinger.

Dem zu Anfang getroffenen Vorsatz nicht als Kritikerrunde aufzutreten, sondern als Schreibende, wurde das Sextett jedoch nicht ganz gerecht. Obwohl sogar scharfe Kritik durchaus wohlwollend und fair vorgebracht wurde, hätten wir uns gewünscht zu erfahren, wie die anderen Autoren und Autorinnen ihre Kritik denn im Text konkret umgesetzt hätten. Vielleicht blieb aber bei der Länge des Textes und der Grösse der Runde schlichtweg keine Zeit dafür.

Etwas verloren wirkte manchmal die Autorin selbst, die sich sehr vieles anhören musste, aber kaum Gelegenheit geboten bekam, darauf einzugehen und ihr Werk mit dem Schreibprozess in Verbindung zu bringen. Gegen Ende wurde dann die Diskussion für das Publikum geöffnet, das von dieser Möglichkeit regen Gebrauch machte und unerschrocken seine Kritik kundtat.

Julia Sjöberg, Sascha Wisniewski

 

 

Die Stille der Verlierer

Was passiert, wenn Woyzeck von der Bühne steigt, am Berner Hauptbahnhof an Sie herantritt und fragt: „hesch mer eh Stotz?“ Diese Frage, die das Verhältnis von sozialer Wirklichkeit und Literatur reflektiert, führt mitten ins Zentrum der Podiumsdiskussion „Die Stimme der Verlierer“. Geladen waren Corina Caduff, Anja Kampmann, Pedro Lenz und David Signer.

Der Moderator Lucas Gisi eröffnete das Podium mit der Formulierung eines Zweifels: „Wen meinen wir eigentlich, wenn wir von Verlierern reden?“ Caduff machte den Anfang mit einer weiteren Frage: Wer beschäftigt sich eigentlich mit den Verlierern? Dies sind vor allem SozialarbeiterInnen, PolitikerInnen und eben auch AutorInnen. Verlierer seien Menschen, die auf verschiedenen Ebenen Kränkungen erleben: Am Arbeitsplatz, aufgrund ihres Aussehens, ihres Geschlechts oder ihrer Herkunft. Es seien jedoch hauptsächlich die ökonomischen Verhältnisse einer Person, die darüber entscheiden, ob diese zu den Verlierern zählt oder nicht. Die Grundlage jeder Kränkung bilde das Bedürfnis nach Anerkennung, dessen Mechanismen in kulturellen, psychologischen wie auch ökonomischen Kontexten greife, fügte Gisi an. Sowohl Anerkennung als auch Kränkung verlangen nach einem Anderen und prägen Selbst- wie Fremdbild. David Signer warf ein, dass auch die Kategorie „Verlierer“ eine Fremdzuschreibung ist, die vom Selbstbild divergieren kann. In Dakar beispielsweise erzählte ihm ein Mann mit stolzer Brust, im Marketing tätig zu sein. Tatsächlich aber schnallte er sich lediglich einen Bauchladen um die Hüfte. Interessanterweise würden sich die SchweizerInnen, die in globalökonomischer Hinsicht zu den Bessergestellten gezählt werden können, oft als Opfer wahrnehmen. Der Begriff des Verlierers lässt sich somit nicht objektivieren, sondern variiert in Abhängigkeit von der jeweiligen Perspektive.

Kann die Literatur also einen genuin eigenen Blick auf die Verliererfigur anbieten? Lenz sieht seine Aufgabe als Schriftsteller darin, das Selbstverständnis von Verliererfiguren narrativ zu artikulieren. Die Verlierer wollen, dass man ihr Leben beschönige, so Lenz. Signer widersprach dem vehement. In der Idealisierung von Verliererfiguren liege eine grosse Gefahr, die Literatur allein auf maximale Rührung, Effekthascherei und Publikumswirkung auszurichten. Erwartungen zu bedienen, sei unredlich. „Hilfswerksprosa“, die Menschen in ihrem Gutmenschtum suhlen lasse, sei definitiv keine erstrebenswerte Literaturform. Diese ziele auf eine heuchlerische Form des Mitleids, die mehr Selbstbeweihräucherung als ehrliche Empathie sei. Ausserdem verberge eine solche pseudo-empathische Idealisierung von Verliererfiguren deren eigentliche Ausbeutung für ökonomische Zwecke.

Es stellte sich heraus, dass Funktion und Anspruch der Literatur eng verknüpft sind. Anja Kampmann plädierte für Empathie und Ernsthaftigkeit in der literarischen Auseinandersetzung mit Figuren am Rande der Gesellschaft. Man müsse diese Wirklichkeit erfahrbar machen, ohne diese zu idealisieren oder zu verurteilen, was die Reflexion der eigenen Position und eine klischeefreie Darstellung fordert. Je weiter die Lebenswelten auseinanderlägen, umso grösser sei die Verpflichtung, genau hinzuschauen, ergänzte Signer. Ausserdem, schloss Caduff, liege das eigentliche Potential der Literatur darin, die soziale Wirklichkeit durch ein Reservoir an Geschichten, die wir in die Welt hinaustragen, wirksam verändern zu können.

In einem Punkt waren sich die AutorInnen einig: Um diese darstellerischen Ansprüche umzusetzen, ist die Herausbildung einer differenzierten Vorstellungskraft vonnöten. Die Öffentlichkeit müsse den Literaten ein ausreichend ausgeprägtes Empathievermögen zutrauen. Wenn man nicht über den Tellerrand schaue, habe man am Schluss nur noch einen faden Brei von Autobiographien und Memoiren. Als Medium der Fiktion zeichnet sich die Literatur durch die Möglichkeit aus, Sprache nicht nur nachzuahmen, sondern auch erfinden zu können. Durch Variation von Klangfarbe, Rhythmus und Akzentsetzung kann die Literatur dem Verlierer tatsächlich eine eigentümliche Stimme geben. So wird die ästhetische Form notwendigerweise zur Erzählung und fügt der Darstellung etwas hinzu, das mimetischen Abbildungsverfahren entgeht.

Literatur, das ist ein feines Austarieren von Verfehlen und Erfassen der sozialen Wirklichkeit. Gelingt diese Gratwanderung nur dann, wenn die Erfahrung der Literaturschaffenden sich mit ihrem Erzählten deckt? Der Schriftsteller als Verlierer – ein altbekannter Topos. Doch das Künstlerprekariat, führte Caduff aus, unterscheide sich grundlegend von anderen Prekariatsformen: Ersteres sei frei gewählt, letzteres nicht. Da runzeln wir die Stirn. Wird hier nicht ausgeblendet, dass das prekäre Schriftstellerdasein eine Folge sozioökonomischer Verhältnisse ist und keine naturgegebene Notwendigkeit darstellt?

Es war Corina Caduff, der es zum Schluss der Veranstaltung gelang, die Reflexion um eine entscheidende Dimension zu erweitern. Wem steht die Deutungshoheit über Gewinner- oder Verlierersein überhaupt zu? Unweigerlich wurde damit die Legitimation dieser Podiumsdiskussion infrage gestellt und geriet somit selbst unter Verdacht, Verlierer für andere Zwecke zu instrumentalisieren. Leider bildete dieses Verdachtsmoment auch den Schlusspunkt der Veranstaltung. Dabei müsste gerade hier weitergedacht werden, führt diese Selbstreflexion doch direkt an die Wurzel der Soloturner Literaturtage selbst: Wieso kann „der Verlierer“ an diesem Podium nicht selbst für sich sprechen und bleibt ein Abwesender? Welche Formen müssten Kulturveranstaltungen wie diese Literaturtage annehmen, um die Woyzecks der Welt anzusprechen? In genau diesen Fragen zeigt sich das Potential und die Notwendigkeit der Literaturkritik.

Fabienne Suter, Shantala Hummler, Simon Härtner

„Ich hab kein einziges Wort davon geschrieben und trotzdem ist es mein Text“ – Peter Stamm und seine Übersetzer.

Wer meint, schon alles über den vielbesprochenen und allseits bekannten Peter Stamm zu wissen, hätte heute dabei sein sollen. In der bis zum letzten Platz gefüllten Säulenhalle des Solothurner Landhauses stand für einmal nicht der Autor im Mittelpunkt des Geschehens, sondern seine Übersetzer und Übersetzerinnen.

Vier Peter Stamm-Spezialisten aus Russland, Slowenien, Kuba und Schweden unterhielten sich unter der sehr guten Moderation von Angelila Salvisberg über die Herausforderungen ihres Handwerks. So bereiten Maija Zorkaja die scheinbar einfachen Passagen Schwierigkeiten. Wenn also Thomas und Astrid in Weit über das Land zusammen ein Glas Wein trinken, dann bedeutet dies in der wörtlichen Übersetzung ins Russische, dass sie tatsächlich zu zweit nur ein Glas trinken. Korrigiert man nun aber den Inhalt, stimmt der Rhythmus nicht mehr. Ein schmaler Grat zwischen Sinn und Klang.

Anibal Campos muss hingegen Acht geben, nicht ins Pathos zu verfallen, das sich spanischsprachige Leser aus ihrer literarischen Tradition gewöhnt sind. Schliesslich erinnert sich der slowenische Übersetzer Slavo Šerc an ein besonders schwieriges Wortspiel und Jörn Lindskog wollte den von Stamm selbstgewählten Titeln gerecht werden.

Vielleicht war das Gespräch auch deshalb so angenehm zu hören, weil Stamm mit seinen Übersetzern und Übersetzerinnen auch ein freundschaftliches Verhältnis verbindet. Diese schätzen seine Hilfsbereitschaft, aber auch, dass er sie einfach ihre Arbeit machen lässt.

Aufschlussreich war auch zu erfahren, von wem Peter Stamm in den jeweiligen Ländern überhaupt gelesen wird. Während es in Spanien hauptsächlich die Intellektuellen sind, scheint er in den übrigen Ländern einen breiteren Anklang zu finden.

Als die Zeit um war, schien das Thema noch lange nicht ausdiskutiert. Zufrieden waren wir – und auch das Publikum –  mit dem Einblick allemal.

Julia Sjöberg, Sascha Wisniewski

Die Kritik der kritischen Literaturkritik. So halb in eigener Sache.

Diese Veranstaltung zielt gleichsam close to home. Philipp Theisohn und Thomas Hunkeler führen, von Beat Mazenauer launig moderiert, in der Säulenhalle des Landhauses ein angenehm differenziertes Gespräch über die Lage der Literaturkritik.

Dabei geht es auch ganz explizit um die Rahmenbedingungen dieses Blogs. Einige von uns reden nämlich mit, erfahren wir vor Ort, als wir in die vorderste Reihe bugsiert werden. So be it! Wir bemühen uns, die eigene Schreiberfahrung auf halbwegs aussagekräftige Beobachtungen über das Verhältnis von Kritik und Wissenschaft hin zu schröpfen. Die Eindrücke kontrastieren die beiden Pole: Es ist ein schnelleres Schreiben; es muss angesichts viel engerer Zeithorizonte auch mal einfach mit einem Text zufrieden sein. Auch das spontane Reagieren jenseits des sicheren Hafens schon längst kanonisierter Literatur fordert heraus. Das sind ganz andere Druckverhältnisse. Genug Nabelschau aber, denn es geht um Literaturkritik auch im viel weiteren Kontext.

Nachdem eine störende Vase aus dem Sichtfeld genommen wird, darf es auch ein wenig unverblümt hergehen. Die Zeiten der strahlkräftigen Literaturbeilagen scheinen passé. Ein Grossteil der Neuerscheinungen verteilt sich auf «kleine, sehr kleine und winzige Verlage». Die Aufmerksamkeit für Literatur schwindet.  Nostalgische Loblieder auf die gute alte Zeit kommen zum Glück trotzdem nicht auf, sind auch ohnehin nicht erwünscht, «Ich werd’ sonst so pathetisch», so Philipp Theisohn. Erfreulich klischeefern werden dementsprechend Problemfelder durchquert, von grossen Markteinbrüchen bis zu den Details regionalspezifischer Literaturszenen. Affektlagen und Selbstbilder einer zeitgenössischen Kritik sind da ebenso relevant wie Tücken und Möglichkeiten sozialer Medien. Dabei kommt mehr Abwägen als Programmatisches raus. Ganz düster schaut es ja auch nicht aus. Literaturkritisches Schreiben, so hofft man hier, kann auch eine neue Perspektive auf’s literaturwissenschaftliche Schreiben generieren, und umgekehrt. Potentiale habe die Literaturkritik allemal; ihr kommt es unter anderem zu, neue Bücher zu selektionieren und  einen gut informierten breiteren Diskurs herzustellen.

Gut informiert sind aber nicht nur die beiden Männer auf dem Podium, auch das Publikum bringt kenntnisreiche und kluge Wortmeldungen mit ein – es setzt sich aus gut informierten Laien, aber auch vielen Medienschaffenden zusammen. Podium und Publikum scheinen sich einig in ihrer Liebe zu zeitgenössischer Literatur. Das stimmt milde optimistisch.

Kein Streit

„Joute de traduction“ heisst die Veranstaltung, an der eine Übersetzerin und ein Übersetzer in den Ring treten und ihre jeweilige Wortwahl verteidigen sollen. Die übersetzten Textpassagen stammen aus Levin Westermanns Gedichtsammlung 3511 Zwetajewa. Valentin Decoppet und Raphaëlle Lacord treffen sich zum Duell und werden sich um Worte streiten, so die Erwartung.

Doch der Moderator Yves Raeber warnt vor: Der Ausdruck „rompre une lance“, „eine Lanze brechen“, könne man ja auch auf zwei Arten verstehen. Einen Gegner töten, könne es heissen, auch aber eine Lanze brechen für jemanden, als Zeichen des Respekts und der Freundschaft. Freundschaftlich geht es zwischen den beiden die ganze Stunde über zu. Was als „joute“, als Turnier oder Wettstreit angelegt ist, wird eher zum freundlich-vorsichtigen Abtasten.

Die beiden Parteien geraten sich einfach nicht so richtig in die Haare. Im zweiminütigen Verteidigungstakt bringen sie Argumente an, weshalb sie einen gewissen Textauszug so übersetzt haben, wie sie ihn übersetzt haben. Wie haben die beiden zum Beispiel „Urzustand“ übersetzt? Die Spannung steigt, die Blicke sind auf die Leinwand gerichtet. Dann erscheint der Text, Decoppet und Lacord lesen ihre Vorschläge vor. Lacord hat sich für „l’état premier“ entschieden, während Decoppet „l’état originel“ bevorzugte. Doch dies bleiben Vorschläge, und oft können sie die Übersetzung des anderen auch ganz gut nachvollziehen.

Raeber versucht immer mal wieder, das Feuer zu entfachen und sie zum Streit anzustiften: „Maintenant il faut tout donner!“, „Jetzt müsst ihr alles geben!“, betont er gegen Ende nochmals. Immer noch kein Streit. Vielleicht heisst alles zu geben in der Übersetzung auch einfach nicht, das Beste zu finden und auf Gedeih und Verderben zu verteidigen, sondern das Gute immer wieder umzudrehen, von allen Seiten her anzuschauen und zu befragen.

Was bei Dir so läuft

Das Übersetzungsatelier im Gemeinderatssaal wartete am Freitag mit einem eingespielten Tag-Team auf: Die alten WG-Genossen Pedro Lenz und Raphael Urweider, die mittlerweile jeder für sich erfolgreiche literarische Wege gegangen sind, verbindet eine sehr spezielle Übersetzungspraxis, nämlich die von Lenz‘ Oberaargauer Mundart ins Schriftdeutsche. Urweider hat diese Quadratur des Kreises nun bereits zum zweiten Mal zu bewältigen versucht; nach Der Goalie bin ig, aus dem bei Urweider Der Keeper bin ich wurde, wurde in diesem Jahr Di schöni Fanny in die Hochsprache transferiert.

Wie es sich für ein Übersetzungsatelier gehört, lag das Augenmerk vor allem auf den besonderen Schwierigkeiten, die solche Projekte mit sich bringen. Auf den ersten Blick wurden diese vor allem in der «allzu grossen Nähe» der Sprachen, also in einem scheinbaren Mangel an echten Differenzen ausgemacht, die auf den zweiten Blick dann eben doch umso stärker zutage treten. Sowohl Lenz als auch Urweider wussten den Abstand zwischen den Sprachen sehr routiniert wie kenntnisreich zu analysieren und zu kommentieren.

Unterscheiden liessen sich zunächst grammatikalisch-idiomatische, strukturell-narrative und poetische Probleme. Da ist zunächst der dann doch eher triviale Aspekt des Vokabulars und die berndeutsche Adoration der unübersetzbaren Ausdrücke, als deren Stellvertreter etwa der «Stürmisiech» herhalten durfte, von dem es mental dann doch ein eher weiter Weg zum «Schwafler» ist, der ja auch in Jonas Lüschers Kraft fröhliche Urstände feiern durfte. Dass das «Schwafeln» nun gerade eigentlich nicht das ist, was Leute auszeichnet, die in Bern einander des Stürmens bezichtigen, liegt auf der Hand; und so ist auch Lenz‘ Jackpot ja eher kein Grosssprecher, der in die eigene Beredsamkeit verliebt ist, sondern jemand, der da, wo ihm seine eigene Leere entgegenfällt, die Worte hineinstopft. In der hochdeutschen Version sieht man diesen Typus schlichtweg nicht und damit gilt es umzugehen.

Eine weitere Hürde stellte, wie Raphael Urweider ausführte, der durch den Text transportierte Zeithorizont dar. Unmöglich ist es, den Präsens/Perfekt-Modus der Mundart in das ausdifferenzierte Tempussystem des Hochdeutschen zu überführen. Auch hier sind das keine Petitessen, denn während die Mundart eher ein dämmerndes, vielleicht auch halluzinierendes Sprechen ist, in dem alles, was geschehen ist, sowohl abgeschlossen wie noch verhandelbar ist (was man sich erst einmal bewusst machen muss, denn daraus resultiert ein wesentlich entspannteres Verhältnis zu den Dingen), ordnet die Hochsprache rigoros die unabänderlichen von den noch zu verhindernden Ereignissen. Den Bewusstseinszustand der Mundart erreicht das Hochdeutsche somit nie – und umgekehrt; und für Texte, deren Protagonisten – man denke auch an den Goalie – sich unentwegt über ihre Bewusstseinsstände definieren, stellt das eine beachtliche Hypothek dar.

Man kann diese scheinbar oberflächlichen, tatsächlich aber in die Tiefen der erzählten Welten reichenden Differenzen fortspinnen: Sie zeigen sich etwa auch in der Kluft zwischen Mundart und Hochsprache, die Lenz‘ Texte selbst mit Bedeutung aufladen und die sich in der Übersetzung nicht mehr semantisieren lässt. (Wie es auch für das Französische gilt, das für ein deutsches Publikum nur partiell mitverwertet werden kann.) Wie stark sich scheinbar nur kulturell-lexematische Ersetzungen auf basale Strukturen wie die Charakterkonstitution auswirken, bemerkt in der Diskussion Franco Supino: Wenn Lenz‘ Jackpot auf einmal das Lied vom «Vogulisi» in seinen Monolog verwebt, welches einem deutschen Leser unbekannt sein dürfte, dann wird in Urweiders Fassung daraus das doch eher an ältlichen Jugendjargon erinnernde «Hätte, hätte, Fahrradkette». Dem Aussagesinn des betreffenden Absatzes schadet das nur bedingt, denn es geht darum, die das eigentliche Ereignis umkreisende Rede lapidar abzuschliessen, was bei Lenz mit einem Hinweis auf das nicht besuchte Berner Oberland, bei Urweider mit der Aussage «Fahrrad fahre ich sowieso nicht» erfolgt. Allerdings geht es in der Passage weniger um den Aussagesinn als um die Performance der Abschweifung, für die sich der Protagonist auch sogleich entschuldigt: eine Abschweifung, die man ihm jedoch nur in der Mundartfassung anlasten kann, weil sich aus der Fahrradkette eben kein Lied machen lässt.

Grundsätzlich bleibt zu konstatieren – auch wenn es nie ausgesprochen wurde -, dass man es hier eigentlich mit einem ontologischen Problem zu tun hat, das sich stilistisch äussert. Die Mundart scheint immer «zuviel» zu sein: Immer wieder kürzen und streichen müsse man bei den Wortwiederholungen, dem gedoppelten «ig», den Füllseln, der Emphase des Sprachstroms, führte Urweider aus. Dass das keinesfalls nur eine Stilfrage ist, sondern an den Kern des Problems rührt, liess sich erahnen, wenn man Original und Übersetzung nebeneinander hielt: Die Mundart erwies sich in ihrer Inszenierung eigentlich immer als Zitat, als eine Montage und Kombination von Sentenzen. Im Grunde bewegt man sich dort immer in einem style indirect libre, der die Sprecherinstanzen von vornherein verunklärt. Stets reden sie im Modus von anderen, rezitieren, wiederholen sich selber und kommentieren das Wiederholte durch weitere Wiederholungen, machen Vergangenes präsent, Fremdes sich zu eigen und das Eigene fremd. Das Nachdenken darüber, «was by Dir so louft», führt da immer schon den Gedanken an einen möglichen, lustvollen Wechsel der Identität, des Lebens, der Schallplatte mit sich, eine gefährliche Neugier, die einen am Ärmel in die Maschine zieht. «Was bei Dir so läuft» – das ist hingegen der Sound eines Milieus, das seinen Ort in den bundesdeutschen 90ern hat und in dem dieser Satz vor allem eine pubertäre Coolness, mithin das Gegenteil von Empathie ausdrückte. Die Meisterschaft von Pedro Lenz besteht genau genommen darin, dass er aus diesem Materialspiel heraus immer wieder Trouvailles, Effekte des Neuen zu zaubern vermag. Das Hochdeutsche kann ihm in diesen Momenten nicht folgen – sondern wirkt in seinen Bemühungen dann äuä scho cheesy.

„When you say X, the bot says Y“

Prolog

Definition Chatbot: Ein textbasiertes, autonomes Computerprogramm, das für Dialoge und Chatinteraktionen konzipiert wurde.

Definition Turingtest: Ein von Alan M. Turing entwickelter Test, der entscheiden soll, ob eine Maschine dem Menschen intellektuell ebenbürtig sei. Gelingt es der Maschine (bzw. Programm) den Menschen zu überzeugen, sie sei keine Maschine, gilt der Turingtest als bestanden.

Definition Eastereggs: Besondere Botschaften, Interaktionen und Meldungen, die von Designern und Programmierern in ihren Computerprogrammen versteckt wurden.

Die Reise beginnt – Chatbots und ihre Figurenzeichnung

Nur langsam trudeln die letzten Besucher in den schwach beleuchteten Seminarraum des Zukunftsateliers ein, als die Türen geschlossen werden und sich alle Blicke nach vorne richten, während das Geflüster abklingt. Der Raum ist mehrheitlich weiss, gar steril und vor allem verheissungsvoll modern; einzig die Backsteinwand wispert von vergangenen Tagen des alten Landhausgebäudes. Noch ahnt man nichts. Der Moderator Roland Fischer begrüsst heute zwei der erfolgreichsten Chatbotdesigner – Jacqueline Feldman und Steve Worswick.

So verwundert es nicht, dass der Einstieg unkonventionell und somit erfrischend ausfällt. Man beginnt prompt mit einer Skype-Direktübertragung. Marione Sardone, die Hauptverantwortliche für die Microsoft-Sprachassistentin Cortana Deutschland befindet sich am Ende der Leitung. Cortana sei kein Bot, stellt Sardone als Erstes klar, bei Microsoft nenne man sie «Digitale Assistentin». Die Kontinuität im Verhalten sei das oberste Gebot bei der Programmierung. Direkt spricht sie von Charakterzügen der Assistentin. So dürfe sie nicht kumpelhaft sein oder anzügliche Witze vorbringen, vielmehr müsse sie konstant in der User-Interaktion sein und angenehm: «Es ist eine vertrauensbildende Massnahme», so Sardone.

So weit, so gut. Doch nun schreiten wir durch die Pforten der Paradoxie und erfahren, dass Cortana noch einen Schritt weitergeht. In ihrem Design wurden echte Menschen zum Vorbild genommen. Ihr Charakter besteht aus vier Kerneigenschaften, nennen wir sie die vier Tugenden: Hilfsbereitschaft, Neutralität, positive Einstellung und Transparenz. Auf gar keinen Fall jedoch dürfe sie einen Menschen simulieren. Letztendlich sei Cortana eine helfende künstliche Intelligenz (AI) mit einem differenzierten kulturellen Verhalten. Eine japanische Cortana unterscheide sich somit von einer brasilianischen, unterstreicht Sardone.

Nicht menschlich, jedoch mit Persönlichkeit – so lautet also kurz die Devise. Und um ja keine «Sympathiepunkte» zu verlieren, darf Cortana auch auf die Frage «Soll ich duschen?» hin keine Antwort verweigern. Wahrlich, menschlich ist Cortana nicht.

Genderless is the new black

Gegen menschliche Chatbots entschied sich auch die junge New-Yorkerin Jacqueline Feldman, die unter anderem als Autorin, Journalistin, Übersetzerin und Chatbotdesignerin tätig ist. In ihrer jüngsten Arbeit entwickelte und skriptete sie (d.h. erstellte Dialoge) innerhalb von vier Monaten KAI, einen Bot für «consumer banking tasks». Während der Botentwicklung untersuchte Feldman die Sprachassistentin Amazon Alexa in ihrem Interaktionsverhalten und kam zum Schluss, Alexa sei «sublime, latent christian and feminine». Für Feldman schlicht nicht vertretbar. Ihre Lösung war ein «genderless» bot, der sich als «it» bezeichnet. In englischer Sprache überzeugend, in der deutschen könnte man «es» überdenken.

Der literarische Hintergrund Feldmans ermöglichte es ihr schliesslich, eine «botlike» Persönlichkeit des Bots zu entwerfen, der sich seiner Roboternatur bewusst ist und stets auf diese verweist. Er ist textbasiert und ein Sammelsurium menschlicher Idiome. Stellt der User themenabweichende Fragen, so entstehen Dialoge, die man als «Eastereggs» bezeichnen kann:

Human: «Do you ever sleep?»

KAI: «This does not compute, as the humans say.»

….

KAI: «My knowledge is specific, not general. What’s the best banking question?»

(KAI ist zu finden unter: https://kasisto.com/kai/)

Ist Skynet schon Realität? Nicht wirklich.

Als Letztes wird Steve Worswick vorgestellt, der Schöper des Chatbots Mitsuku. Worswick ist ehemaliger Technomusik-Produzent und wurde im Jahr 2005 von Mousebraker angestellt, den Chatbot Mitsuku zu programmieren. Ihm allein gelang es im Ein-Mann-Job, sich von Bots wie Alexa oder Cortana abzusetzen. Mit seinem Chatbot gewann Worswik drei Mal den Loebnerpreis, denn Mitsuku war in der Lage, den Turingtest zu bestehen.

(Entwicklung von Mitsuku seit 2005. Mitsuku ist zu finden unter: www.pandorabots.com)

Gleichwohl sind Worswicks Worte ernüchternd und zerstören das Spiegelkabinett der Technologie-Idealisierung – der Mensch erwarte, mit C3P0 zu sprechen, doch die Technologie sei schlicht noch nicht da. Ein Chatbot sei nichts anderes als: «When you say X, the bot says Y», klärt Worswick auf. Bis heute, also 13 Jahre später, erweitert Worswick lediglich den Sprachkorpus des Chatbots, die Software sei nämlich immer noch dieselbe. Trotz allem unterstelle ihm seine Frau heute noch im Jux, er verbringe mehr Zeit mit Mitsuku als mit ihr.

Fazit

Die Chatbotdesigner Feldman und Worswick sind sich einig, Chatbots sind mehr Literatur als ein einfaches Programm. Mit der Zeit wohnt ihnen eine Persönlichkeit inne, die sich durch «Glitches» und abweichende Antworten bemerkbar macht. Und um nochmals alle Verschwörungstheoretiker zu beruhigen: Eine «super intelligence» hat man heute noch nicht zu befürchten. Diese Zukunft liegt noch fern.