Meine Gewalt

Ob es ein unglücklicher Zufall oder symptomatisch gewesen ist, dass die Ehrung Mariella Mehrs nicht nur im Uferbau-Kino, sondern auch im Schatten der Verleihung des Solothurner Literaturpreises anberaumt wurde, ist nicht mehr zu entscheiden. Festzuhalten bleibt indessen, dass trotz der ungünstigen Platzierung viele, sehr viele gekommen sind, um der Hommage, die Corina Caduff, Christa Baumberger und Nina Debrunner vorbereitet hatten, beizuwohnen. In Anwesenheit der Geehrten begann Günter Baumann mit den ersten Zeilen aus Mehrs 2002 erschienenem Roman Angeklagt:

Ich bin im Zustand der Gnade. Ich töte. Ich bin.

Gehören diese Worte im Roman der sicherheitsverwahrten Brandstifterin und Mörderin Kari Selb, so stellen sie an diesem Morgen doch bereits die Weichen: Im Folgenden wird über Gewalt geredet werden müssen. Das ist für sich genommen nicht so schwer, denn der Opferdiskurs, wie ihn jüngst Svenja Goltermann so instruktiv wie gründlich durchleuchtet hat, ist allgegenwärtig und – das klingt seltsam und ist es auch – besitzt auch eine auffällige Publikumsattraktion. Solange man die Rede über Gewalt so kodiert, dass sie in uns die Befriedigung erfüllt, im Lesen, Hören und Sehen selbst Opfer gewesen zu sein, stört diese Rede nicht.

Mariella Mehr ist sich zeit ihres schriftstellerischen Lebens der Problematik dieser Kodierung bewusst gewesen, handelt es sich dabei doch um ein Leben, das durch den marginalisierenden Blick auf das Opfer bestimmt gewesen ist. Nahezu unmöglich bleibt es Mehr, Dichterin – und sonst nichts – zu sein. Ihre Biographie legt sich wie Blei auf die Wahrnehmung ihrer literarischen Produktion. Immer ist sie zuerst das Mädchen, das die Aktion «Kinder der Landstrasse» seinen Eltern entrissen und letztlich in eine jahrzehntelange Tortur geschickt hat, dann ist sie die Jenische – und irgendwann dann ist sie auch noch Autorin. Das ist nicht nur peinlich, sondern im Horizont von Mehrs Poetologie auch vollkommen falsch. Nirgends stellen ihre Texte das Erleiden pathetisch aus, nie betteln sie um Empathie. Es sind Geschichten auf dem Weg zur Tat, zum Sein im Schlag. An einer wichtigen Stelle des Gesprächs schaltet sich Mehr – ohne Mikrophon nur schwer verständlich, aber gerade hierin umso wirksamer – spontan ein: Die «Auseinandersetzung mit Gewalt sei immer eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Gewaltpotential», und das ist ganz und gar nicht pädagogisch gemeint. Vielmehr erhellt Mehrs Einwurf ein Konzept der Souveränität einer Frau, die sich weigert, das Opfer zu sein (oder zu bleiben), das die Welt aus ihr machen möchte. Den Zustand der Gnade erreicht diese Literatur gerade in der Gnadenlosigkeit.

Überzeugen kann man sich von dieser in der Schweizer Gegenwartsliteratur einzigartigen Furiosität seit dem vergangenen Jahr wieder anhand zweier im Limmat Verlag erschienener Bände, von denen der eine Mehrs Trilogie der Gewalt (Daskind [1995], Brandzauber [1998] und Angeklagt [2002]), der andere – unter dem Titel Widerworte von Christa Baumberger und Nina Debrunner herausgegeben – Mehrs journalistisches Werk, ihre Gedichte und Reden vorstellt. Insbesondere die Rezensionen, überhaupt: ihre lesende Biographie kommt hier erstmals eindrucksvoll zum Vorschein und ist mehr als ein Zeitdokument. Ein ganz eigenes, in seiner Metaphorik originelles wie hellsichtiges Verständnis von Literatur zeigt sich hier – als Beispiel sei hier die hingebungsvolle wie kämpferische Auseinandersetzung mit Hermann Burgers Die künstliche Mutter genannt.

Wenn die Gefahr der unfreiwilligen Remarginalisierung Mariella Mehrs auch diesen Morgen einmal heimsuchte (in jenem kurzen Moment, in dem ihre Lyrik unmerklich zur Versprachlichung erlebter «Heimatlosigkeit» heruntergebrochen wurde), so gilt es den Veranstalterinnen dennoch vorbehaltlos und nachdrücklich für diese überfällige Hommage zu danken.

Am 16. Juni wird Mariella Mehr in Glarus/Ennenda der Anna-Göldi-Menschenrechtspreis verliehen werden.

Alles Linol oder was?

Natürlich liegt Kunst im Auge des Betrachters. So lautet zumindest das Mantra der kreativ zu kurz Gekommenen, welches sie die Existenz zweier linker Hände halbwegs ertragen lässt und es ihnen erlaubt, das NIchtvorhandensein jeglicher künstlerischer Ader geflissentlich zu verdrängen.

Alle Jahre wieder kommt jedoch dieser vielgefürchtete Moment des Eingeständnisses, jener Augenblick, in welchem sich die Wahrheit ihren Weg ins Bewusstsein kämpft und die wohlgehütete Illusion in Schutt und Asche liegt.

Man kann nie sagen wann und wo es passiert; ob am Geburtstag des Sohnes seines besten Freundes oder in der Malstunde einer Selbsthilfegruppe. Gewiss ist jedoch, dass diese Zeit kommen wird.

Für mich war es heute wieder einmal so weit. An einem leicht bewölkten Nachmittag in Solothurn wurde mir meine zeichnerische Unfähigkeit wieder einmal vor Augen geführt. Man könnte meinen, dass die Wahrscheinlichkeit seine Malkünste an den Literaturtagen beweisen zu müssen, relativ gering ist. Nicht jedoch, wenn man sich dazu entschliesst eine Linoldruck-Werkstatt zu besuchen.

Im Kreuzsaal des Restaurants (wie konnte es auch anders sein) Kreuz, wurden ein gutes Dutzend Kinder und drei Erwachsene von der Illustartorin Mira Gysi in die Geheimnisse des Linolschnitts eingeführt. Zusammen mit dem Holzschnitt gehört er in die Kategorie der Hochdrucke. Während der Holzschnitt den Mönchen dazu diente die Seiten ihrer in kalten Klausen kopierten Bücher zu verzieren, fand der Linolschnitt einige Jahrhunderte später bei solch Künstlergrössen wie Picasso oder Matisse grossen Anklang.

Beflügelt vom impressionistischen Geist machten wir uns sodann an, selbst ein Motiv zu entwerfen, dass wir dann später auf eine Linolplatte walzen würden. Unter grosser Anstrengung und fast eine Viertelstunde später hatte ich etwas zustande gebracht, dass wie die geometrische Höhlenmalerei eines Dreijährigen aussah. Nichts im Vergleich zu den sorgfältig gezeichneten Schildkröten, Drachen und Kätzchen, die nun auf auf einer Linolplatte nachgezeichnet und mit speziellen Messern ausgeschnitzt wurden. Nach einer zufriedenstellenden Zählung aller Fingerkuppen wurde schliesslich mit einer Walze Farbe auf die Linolplatte aufgetragen und ein Blatt Papier draufgepresst. Fest darüberstreichen und dem Negativdruck sei Dank, fertig war das Kunstwerk!

Im Schwirrflug

Wo Jubiläum draufsteht, stehen Schlangen davor. Schon eine halbe Stunde vor dem als „Jubiläumsveranstaltung“ angekündigten Podium mit der viel beachteten Debütantin Regula Portillo und dem (nicht nur in seiner überfüllten Stammbeiz „Kreuz“) viel begutachteten Peter Bichsel stauen sich die Massen vor der Säulenhalle im Landhaussaal. Zwei Lokalmatadoren, die eine halb so alt wie der andere und nur einen Jahrgang jünger als die Literaturtage, das könnte durchaus einen gehaltvollen Plausch abgeben.

Vor die Retrospektive des Einen und die Ausblicke der Anderen hatte der gute Geist der Literaturtage jedoch auch in diesem Fall einen Moderator gestellt. Dieses selten konfliktfreie Los fiel in diesem Jahr dem Autor Rolf Niederhauser zu, der nicht allein zum dreizehn Jahre älteren Bichsel eine anekdotenreiche Beziehung durchscheinen liess, sondern 1990 selbst ein Buch zu jenem Sujet vorgelegt hatte, an dem sich Regula Portillos Debüt Schwirrflug mit grossem erzählerischen Erfolg abarbeitet: Niederhausers Requiem auf eine Revolution nähert sich den auch von Schweizer Linken in Wort und Tat unterstützen Revolutionsbemühungen im Nicaragua der 1980er Jahre auf der Grundlage von autobiographischen Erfahrungen, während Portillos Roman eine Tochter der nächsten Generation auf eine familiäre Spurensuche schickt, die letztlich zum Sfumato von Fakten und Fiktionen führen wird. Bichsel gibt sich als durchaus sachkundiger Fan des Romans zu erkennen und lobt dessen erzählerische Raffinesse, die keinen Hehl daraus mache, dass es bei aller Exotik letztlich um Schweizer Probleme gehe. Davon hätte man gern mehr erfahren, wurde jedoch stattdessen mit Niederhausers eigenen Erinnerungen an seine Elektrifzierungsversuche einer Schule in Nicaragua beglückt. Dass er angesichts des dortigen Chaos erst zum Schweizer geworden sei, glaubt man dem in den letzten Jahrzehnten beharrlich an einem mehrheitlich noch zu entdeckenden Werk arbeitenden Autor gern, nur hätte man sich vom versprochenen Jubiläum nicht unbedingt die Wiederaufführung längst erprobter Sentenzen erhofft.

Ein Meister derselben ist und bleibt selbstredend Peter Bichsel, der noch immer mühelos einen Saal mit zwei, drei (nicht zum ersten Mal) perfekt gesetzten Pointen auf seine Seite ziehen kann. Das fängt wie üblich beim Milchmann-Band an, den heute angeblich niemand mehr verlegen würde, gleitet über zur Dekonstruktion der Weltläufigkeitsschwindeleien in Schweizer Dichterbiographien der 1960er Jahre und endet bei der Konjunktivitis des Schweizerdeutschen: Beschimpfe er die Schweizer Armee auf Mundart, setze es zwei Leserbriefe, erlaube er sich das Ganze auf Hochdeutsch, folge verlässlich ein Shitstorm. Denn dann sei es ja tatsächlich so gemeint. Das ist alles nicht neu, aber charmant präsentiert. Das Publikum dankt es mit Applaus. Als dank eines Einwurfs von Regula Portillo (dem Moderator wird es hingegen nicht mehr gelingen, Bichsels Performance zu unterbrechen) noch das alte Lied von der unkontrollierbaren Beschleunigung, der stündlich zunehmenden Unübersichtlichkeit und dem darbendem Buchhandel angestimmt werden kann, hat das Publikum auf einigen Umwegen offenbar doch noch bekommen, was es erwartet hatte. Und strebt, hinausbegleitet von der die vielen Stehenden geistig und körperlich erlösenden Schlusspointe, nun selbst zum Opfer des strammen Zeitplans zu werden, zufrieden von dannen.

Überzeugen konnte man sich an diesem „Jubiläum“ also davon, dass Peter Bichsel noch immer Peter Bichsel auf die Bühne zu bringen versteht (und daneben nicht allzu viel Raum bleibt), dass in der zweiten und dritten Reihe der Schweizer Literatur der vergangenen Jahrzehnte durchaus noch Entdeckungen zu machen sind, dass Regula Portillo noch auf der einen oder anderen Shortlist auftauchen dürfte und Solothurn schliesslich auch weiterhin der Ort sein wird, an dem man, wenn auch nicht selten auf Umwegen, am Ende doch das Erwartete bekommt. Das sind nicht selten neue Konstellationen alter und neuer Bekannter. Für Portillos und Niederhausers Nicaragua-Bücher sollte dies jedenfalls nicht die letzte Begegnung gewesen sein, und so dürfte das, was auf diesem Podium Nebensache blieb, auf dem einen oder anderen Lesetisch noch zur Hauptsache werden. Womit, auf längere und damit immer schon literarische Sicht, dann doch ein durchaus fruchtbares Jubiläum gefeiert worden sein dürfte.

Füdleblutte Texte

„I luege so chle zue u i hocke so chle da“, aber zum Glück legt sich mir keine Hand aufs Knie. Im grossen Saal des Stadttheaters warte ich gespannt auf die szenische Lesung aber dir würdigs gä. Kuno Lauener, Frontsänger von Züri West und langjähriger Songwriter, ist wohl gleichsam gespannt. Seine Songs werden heute Nachmittag nämlich zu Worten – ohne Musik, quasi „füdleblutt“.

Auf der Bühne: Ein Tisch, ein Stuhl, zwei Teetassen, hinter grossen Büchern versteckte Elektronikgeräte und Doro Müggler. Die Schauspielerin ist es, die Laueners Texten heute Gehör verschafft. Hinter ihr eine Leinwand, an die Alltagsbilder projeziert werden. Bilder von zerknautschten Doppelbetten, von Teddybären auf Plastikautos, von Sonnenstrahlen, die ihr Muster auf den Zimmerboden zeichnen. Es sind Bilder, wie sie sich wohl auf mancher Familienkamera finden lassen.

Auch Laueners Songtexte stammen meist mitten aus dem Leben. Von der „Schiissluune“, die meist am Sonntag an die Türe klopft, von Dingen, die man sagen soll „solang dis Tram no faart“ oder vom Glück, das einen „irgendeinisch“ findet.

Obwohl man die Texte von Kuno Lauener wohl schon viele Male hörte, sind sie heute anders. Nicht nur weil da, wo wir sonst eine kratzige Männerstimme gewöhnt sind, eine Frau spricht. Sondern auch weil die Worte ohne Musik plötzlich viel gewichtiger erscheinen. Literatur mit Musik zu unterstreichen, das liegt momentan im Trend. Die Songs von Züri West, so schön sie auch sind, hätten die Musik nicht mal nötig.

 

Good lines, good show

„Es geit hie umds Liäbe und umds Stärbe…“ Eine starke Begrüssung – eine starke Poetin, die hier vor uns steht. Babylon Park heisst das Buch, aus dem die Berner Spoken Word-Künstlerin Ariane von Graffenried vorliest.

Mit rau-warmer Stimme erzählt sie von Wölfli (Adolf Wölfli), der eines Tages plötzlich vor der Türe steht. Wirklich ein Wolf, stellt sich heraus, wie bei den sieben Geisslein. Und dann klopfts schon wieder an der Türe, draussen steht die Algebra. Kein erwünschter Gast. Mit ihr habe sie es nie einfach gehabt. „Aber da müese mer düre!“ Eigentlich ist sie aber planlos, weiss nicht, was sie mit den Gästen anfangen soll. „Zwangsreformiert wieni bi, hani afa bätte, aso innerlich.“ Viele weitere ungebetene Gäste kommen, „ine“, sagt sie. Fragt sie sogar noch, ob sie schon gegessen hätten. Schlussendlich fängt die Erde an zu zittern und verschlingt alle. Vierundzwanzig Stunden später findet sie sich in einem schwarzen Loch wieder.

Ein Liebesgedicht sorgt für neuen Schwung. „Bermondsey“ heisst es, nach einem Stadtteil von London. Von Graffenried steht auf. „Her name is Milly“, fängt sie an. Auf Englisch, auf Deutsch, die Sprachen mischen sich, manchmal sogar im selben Satz. Ein Wippen geht durch ihren Körper beim Vortragen der genauso wippenden Sätze. „She knows wie verlieren geht“ und „What she does, she does so well“.

Die Sprachen werden weiterhin gemischt, so auch im Gedicht mit dem Titel „Saint-Jacques-de-Compostelle“: hier trifft Französisch und Frau auf Österreichisch und Mann. Beide haben eine weite Reise hinter sich, aus verschiedenen Gründen. Sie reden zusammen und verstehen sich nicht. Vielleicht reden sie mehr für sich selbst. „Tu veux une bière? J’ai soif.“ Dann imitiert Von Graffenried den österreichischen Dialekt: „Auf Wanderschaft, gell, erlebst du die Welt ja irgendwie direkter.“ Er erzählt und erzählt… „In Toulouse hab i den Blues ghabt!“ Begeistertes Kichern im Publikum. Die Spoken-Word Poetin steigt vom Podest runter und fährt fort. So ist sie dem Publikum näher und ihre Sprache noch lebendiger.

„Zum Abschluss no es Gedicht, es churzes.“ Noch so gerne! Es heisst „Babylon Park“ und hat wohl dem Buch seinen Titel gegeben. Es geht um die komplizierte Beziehung zum eigenen Dialekt. Hier geht nun alles drunter und drüber, Sprachen und Dialekte türmen und zerkratzen, durchkreuzen und verwischen sich. Sie setzt sich „next to Mister Perfect, my dialect.“ Eine Hass-Liebe verbindet sie mit ihrem Dialekt. „Mon malade imaginaire“. Sogar sprechen kann man mit ihm: „Los, sägeni. Laisse-moi faire!“. Aber der Dialekt lässt sich nicht zähmen. „I mim Oberstübli isch es Puff!“, soviel dazu.

Wozu all diese Sprachverwirrungen taugen, ist dann doch klar: „You know… Good lines, good show.“

 

Flüchtige Gäste

Düstere Stimmung am letzten Solothurner Lesetag, Wolken ziehen über den Himmel. Trotzdem versammelt sich eine beachtliche Anzahl Menschen vor der Aussenbühne. Mit kurzem „Ja“, als Begrüssung und schnellem Hinsitzen ist der Anfang gemacht. Angelika Overath zückt ihr Buch und liest uns eine Geschichte aus ihrem 2017 erschienenen Buch Der Blinde und der Elephant.

„Der flüchtige Gast“, so heisst die erste Geschichte. Der Sohn findet einen Vogel und bringt ihn nach Hause. Dort päppeln sie ihn wieder auf. „Er sitzt auf meiner Goethe-Ausgabe, Goldschnitt, und scheisst!“ sagt der Vater. Nicht alle nehmen den Distelfinken gleich wahr. Aber er gehört nun zur Familie. Ob man will oder nicht.

„Noch eine Tiergeschichte!“, sagt Overath. Tiere sind hier die Helden. Und Hunde im Speziellen. „Nur ein Hund“ heisst die Geschichte. Hunde zeigen nicht, dass sie leiden. (Macht das denn den Helden aus?) „Er war eine Sie“, mit rotem Fell. Und dann wurde Sie krank. Es geht um den Moment, in dem eine Frau den eigenen, zur Familie gehörenden Hund einschläfern muss. Ein so menschlicher Moment. Man gibt ihm nochmal etwas Gutes zu essen und schämt sich. Dann kommt der Tierarzt und gibt ihm eine Spritze. Ernst-betroffene Gesichter im Publikum. Die Pointe: Die Frau möchte auch so sterben wie der Hund, denn es war ein ruhiger Moment. „Das kannst du nicht“, meint ihre Freundin dazu.

Applaus und schneller Abgang der Autorin. Auch sie war ein flüchtiger Gast.

Der allerletzte letzte Schnee

Arno Camenisch spricht hier im deutlich heruntergekühlten Solothurn am letzten Tag vom letzten Schnee  – wie passend. Die Stadt scheint noch etwas in Katerstimmung zu sein, es ist ruhiger als in den vergangenen zwei Tagen vor dem Landhaus. Der Landhaussaal hingegen ist gut gefüllt. Arno Camenisch ist ein Name, der die Leute anzieht.

Valeria Heintges, die Moderatorin der heutigen Lesung, bedankt sich erst bei Camenischs Bruder, der ihn davon abhielt seinem eigentlichen Berufswunsch, Koch, nachzugehen. Sie erzählt von seinen bisherigen Werken, von seinem Weg, um schliesslich seine Lesung (oder wie sie es nennt: Performance) anzukündigen. Wie sich sein Buch nur schwer in eine Gattung pressen lässt, lässt sich auch sein Auftritt scheinbar nicht unter dem Begriff Lesung einordnen.

Und Camenisch beginnt. In seinem kratzigen Bündnerdialekt führt er uns in die Szenerie von Der letzte Schnee ein. Paul und Georg, die beiden Protagonisten, stehen vor dem Skilift in den Bergen und unterhalten sich. Sie unterhalten sich über dies und das. Über die Skifahrenden, die doch jetzt bald einmal kommen sollten, über Stimmenzähler mit Diskalkulie, die „höhere Mathematica“ betreiben, über Sinalco-Sonnenschirme und Lehrer, die vom Pult aus auf Vögel schiessen oder den Schülern die besten Noten gaben, deren Schulhefte von der Treppe aus am weitesten flogen.

Camenisch liest meist frei mit grossen Gesten. Zu Beginn etwas hektisch, läuft er sich langsam warm, lässt sich mehr Zeit und beginnt mit dem Text zu spielen. Seine Lockerheit tut dem Text gut. Die banalen Alltagsszenen gewinnen an Witz, Paul und Georg werden zu charmanten Bergkäuzen. Das Publikum dankt es dem Autor mit Gelächter an den richtigen Stellen und kräftigem Applaus. Die Sympathien im Saal hat er auf seiner Seite.

Camenischs Buch erzählt nicht viel oder wie es ein Besucher nach der Lesung auf den Punkt bringt: „Da kannst du das ganze Buch lesen, aber viel passiert da nicht.“ Aber es erzählt Wichtiges. Die Probleme des Bündnerlands, so einzigartig es auch sein mag, seien eben die Probleme der ganzen Welt. Der letzte Sch**** war das definitiv nicht.

 

 

«Wie immer in solchen Fällen lösche ich die Markierung.»

Nachdem ich feierlich ein paar Hemdknöpfe mehr als gewohnt zugemacht habe, begebe ich mich ins Stadtheater, um Peter Stamm dabei zuzuschauen, wie er den diesjährigen Solothurner Literaturpreis entgegennimmt. 

Bevor irgendwer auf der Bühne das Wort ergreift, leitet der Virtuose Jaap van Bemmelen die Preisverleihung mit seinem Gitarrenspiel ein. Sehr viele geschwinde Noten tupft er impressionistisch über langsame Grundrhythmen. Das klingt nach stiller Melancholie nach einem betriebsamen Tag. Da möchte man grad im weissen Anzug oder Kleid in der abendlichen Strandbar nachdenklich an einem Cocktail nippen, es ist aber erst halb elf.

Nach mehreren Tagen dynamischer Vorträge kommt einem Walter Pretellis darauffolgende Rede wohl steifer vor, als sie ist. Dabei erzählt er durchaus Anregendes über das Verhältnis von, ja, Buchhaltung und Literatur. In beiden Sphären werde eine Differenz von «Soll und Haben», von «Soll» und «Ist», sprich: von Fiktion und Realität gedacht. In solchen Differenz- und Grenzgebiete von Realität und Fiktion bewege sich auch der Schriftsteller Peter Stamm. Ja, doch, warum auch nicht; das hat was.

In seinem Ehrenwort verdankt Kurt Fluri ganz ordnungsgemäss Sponsoren, Gönnern, Gemeinden, Amtsträgern, lässt dann aber auch politische Noten antönen und verweist auf Debatten über Bibliothekstantiemen und Urheberrechte. Nachdem er ganz generell eine Lanze für die Kulturförderung gebrochen hat, verweist er auf die gute Sache, nämlich den Verein der Freunde der Zentralbibliothek Solothurn, der sich gewiss über Unterstützung für die zweitgrösste nichtuniversitäre Bibliothek der Schweiz freue:

Peter Stamm polarisiere ja durchaus, sagt Nicola Steiner in ihrer Laudatio, um Vorwürfen zuvorzukommen, die Jury habe es sich ja arg leicht gemacht mit so einem etablierten Autor. «An dem scheiden sich die Geister». Aber sein Werk steche konsequent heraus: Lakonisch und rhythmisiert erzähle es immer wieder vom Leiden an der Langeweile und vom Traum von anderen, nicht gelebten Leben; es verwische so gleichsam die Grenze zwischen Fiktion und Realität.

Von Fiktionen und Realitäten handelt auch eine «Facebookanekdote», die sie nacherzählt. Nachdem sie Peter Stamm in einem Beitrag markiert hatte, erhielt sie als Antwort: «Liebe Nicola, wie immer in solchen Fällen lösche ich diese Markierung und ergänze: Ich bin nicht dieser Peter Stamm. Die Welt ist klein und so teilen wir uns einige Bekannte, auch im richtigen Leben. Ich mag Ihre Arbeit ganz gerne, würde aber verstehen (mit Bedauern), wenn dieser Vorfall unsere FB-Freundschaft beenden würde. Liebe Grüsse, Peter Stamm». Das ist ein wenig rätselhaft, trifft aber in dieser gerade nicht beherzten Entzugsbewegung wie zufällig etwas für die Arbeit von Peter Stamm ganz Grundsätzliches.

Existenzielle Situationen, so Steiner weiter, würden bei Stamm ganz ohne Pathos, gleichsam mit Achselzucken aufgelöst. Kein Frage- und Antwortspiel dürfe man von ihm erwarten, sondern ein Frage- und Fragespiel. Als Autor male er nur genauso viele Pinselstriche, wie nötig damit man Schemen erkennen könne.

Dann kommt er endlich selber auf die Bühne, die Hände in den Hosentaschen, den Blick im 45 Gradwinkel vor sich auf den Boden gerichtet, lässt er sich gratulieren und verschwindet auch sobald er kann wieder von der Bühne, als sei er tatsächlich direkt aus einem der eigenen Romane nur zufällig hierher geraten. Nachdem Jaap van Bemmelen noch einmal ein paar, diesmal beschwingtere, Takte vorspielt, tritt Peter Stamm wieder auf die Bühne. Eine Dankesrede hat er statt einer Lesung vorbereitet. Auch eine solche liest er aber gewohnt ruhig. Das Gegenteil von Atemlosigkeit, könnte man sagen, obwohl Peter Stamm ja, wie ich gehört habe, gerne raucht.

Er rekapituliert Figuren aus seinen Büchern, die sich von der Literatur und vom Lesen abwenden. «Sogar Musik kam ihm nur noch vor wie eine Ablenkung vom Wesentlichen». Er zweifelt an der Macht und Unsterblichkeit der Literatur: «Schreiben ist Nebensache, Lesen ist Nebensache.»

So könnte er anfangen oder auch abschliessen, führt er aus: Wie wäre es, wenn er jetzt endigen würde mit seiner Rede. Wenn einige langsam den Saal verliessen, andere noch warteten: «Vielleicht kommt ja noch was». «Eine Geschichte ganz ohne Personen». Nach diesem konjunktivischen Exkurs stellt er aber klar: Er wollte sich immer der Wirklichkeit stellen, ihr nicht entfliehen. Literatur könne die Wirklichkeit nicht ersetzen. Ein Hilfsmittel, die Wirklichkeit klarer zu sehen, sei sie vielmehr. «Das sehen kann sie uns aber nicht abnehmen.»

Er träumt vom von einer Geschichte ganz ohne Personen und Verstummen und denkt an ein Leben, das noch gar nicht stattgefunden hat. Kein gravitätisches Schweigen schwebe ihm dabei vor, sondern ein heiteres; eines im Sinne von Wittgenstein: «Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen».

Dann entlässt uns ein weiteres Stück von Jaap van Bemmelen. Er endet mit einem offenen, fast fragend klingenden Akkord. Auch mit diesem könnte man, meine ich, grad so gut anfangen wie aufhören. Ganz am Schuss, als die Leute schon rausspazieren, kommt Peter Stamm noch mal auf die Bühne und lässt sich comme il faut mit Blumenstrauss und Jury fotografieren. Er sieht immer noch ein wenig unbehaglich, fast verzagt aus. Diesmal lächelt er aber.

 

Home Office – Ein Plädoyer gegen das ECTS-Lamento

Bologna hat aus genuin wissbegierigen, intrinsisch motivierten Liz-Studierenden eine Horde geistloser ECTS-Trottel gemacht, die sich nur noch für eines interessieren: Punkte zählen. Damit wird jetzt aufgeräumt, denn an den Soloturner Literaturtagen sind wir Studierenden – man will es ja kaum glauben – freiwillig. Keine Leistungsnachweispeitsche, keine Punkte am Horizont, keine Wegabkürzung zum Masterdiplom. Kein Punktejunkie weit und breit. Obsessiv machen wir hier nur eines – schreiben. Essen, trinken, schlafen – wer braucht das schon? Wir jedenfalls nicht. „Mach ma’ Pause!“ Kein Mensch regt sich.
Nicht nur der Schlafentzug entlockt uns wiederholt ein müdes Gähnen, auch abgedroschene Studierendenklischees tun das. Und die Žižeks und Byung-Chul Hans könnt ihr im Übrigen auch wieder einpacken: das ist keine Ideologie-blinde Selbstausbeutung des Kulturprekariats unter dem Prätext der „Freiwilligkeit“. Was wir hier genau machen, darüber werden wir – zum Glück! – noch lange streiten, aber wieso wir tun, was wir tun, wissen wir ganz genau: Wir brennen für die Literatur. Echt jetzt. No money, no sex, no drugs – just words. Und trotzdem kriegen wir einfach nicht genug.

Tropenlyrik im Uferbau

Die Schlange vor dem Kino im Uferbau ist lang. Drinnen wird Raphael Urweider aus seinem neuen Gedichtband Wildern vorlesen. Die Tore öffnen sich und die Masse strömt hinein. Die Stühle im Publikum sind so begrenzt, dass sich Urweider und Moderator Gisi dazu bereit erklären, ihre eigenen an Zuschauer abzugeben. Sie selber nehmen am rechten Bühnenrand auf zwei anderen Stühlen Platz. „Sie dürfen sie besitzen, aber nicht mit nachhause nehmen“, meint Urweider zu den abgegebenen Sitzgelegenheiten. Es dauert ein bisschen, bis sich allgemeines Lachen im Publikum breitmacht. Die fast unerträgliche Hitze im Saal scheint sich auf die Übertragungsgeschwindigkeit der Synapsen auszuwirken.

Ungewöhnlich beginnt dann auch die Lesung. Es ist Urweider, der den Moderator vorstellt, und nicht etwa umgekehrt. Für solche formalen Regeln scheint sich der Lyriker wenig zu interessieren. Auch der Titel seines neusten Werks, das aus fünf Zyklen besteht, die von zwei Langgedichten umrahmt werden, ist kennzeichnend dafür. Ebenso die konsequente Missachtung der Gross- Kleinschreibung und die fehlenden Satzzeichen in den Texten. Das Bild der Gedichte sei ihm wichtiger, sagt Urweider. Er hätte auch nichts dagegen, wenn man diese an Wände von Hochschulen oder Tiefbauämtern anbringen würde. Ansonsten plädiert er dafür, dass man Gedichtbände am besten auf der Toilette aufbewahren soll. Dort könne man sich dann ein Gedicht mit entsprechender Länge für das jeweilige Vorhaben aussuchen.

Wenn man dem Folge leistet und auch Urweiders Wildern ebenda platziert, kann es sein, dass man plötzlich vom Örtchen an weit entfernte Orte gelangt. Der gesamte Band steht nämlich unter dem Motto „Alle Länder sind Träume“ von Gottfried Benn. Dieser Satz inspirierte Urweider. Eine Nation träume sich selber, ein Herrscher erträume sich sein Reich und der Tourist träume von seinem Ferienziel, erläutert er. Erträumt sich auch der Lyriker etwas von seinen Gedichten? Urweider wolle beim Schreiben vor allem etwas herausfinden. Dabei orientiere er sich mehr am Klang der Worte und an der inneren Logik der Texte. Interpretieren möchte er das Geschriebene lieber nicht.

Für die Interpretation ist dann wohl eher die Leserschaft zuständig. Das gefällt! Aber vielleicht sollten wir uns dafür an einen kühleren Ort begeben. Der Kinosaal hat sich mittlerweile so aufgeheizt, dass Urweider vorschlägt, man müsse hier eher Tropengedichte vortragen. Am Ende der Lesung werden freundlicherweise auch die Seitentüren des Kinos geöffnet, und die Zuschauer atmen einmal tief durch.