Dem Dokument ist nicht zu trauen

Im Landeshaus diskutieren der Literaturprofessor und unlängst als Prosaautor hervorgetretene Christian Kiening und die Autorin Alice Grünfelder über das Dokumentarische in der Literatur. Eigentlich müsste es ja das Dokumentarische im Literarischen heissen, sagt der Moderator, denn was wäre von der Literatur noch übrig, würde das Dokumentarische fehlen?

Grünfelder und Kiening haben Passagen aus dem Buch der bzw. des anderen ausgewählt, die sie  gegenseitig vorlesen und diskutieren. Eine sehr nette Idee, die auch andernorts schon versucht wurde, und die hier auch prächtig aufgeht: Beide vermitteln dem Publikum nicht nur einen guten Einblick in ihr Werk, sondern gehen auch konkret und kundig auf das Werk des Gegenübers ein.

Dokumentarische Literatur bemüht sich idealerweise, auch Widersprüchlichkeiten darzustellen – wenn etwa die vermeintliche Authentizität der Dokumente gar nicht dem entspricht, was Betroffene sehen, oder woran sie sich bruchstückhaft erinnern. Wie sehr Wahrnehmen und Denken von Kienings Grossvater etwa von seinen Bibel- und Rilkelektüren beeinflusst waren, das stellt kein noch so authentisches amtliches Dokument so recht scharf. Diesem Anteil, den die Imagination schon dort hat, wo man beginnt eine Geschichte für die eigene Erfahrung zu erzählen, kann erzählende Literatur vielleicht besser gerecht werden, als das klassische Sachbuch. Vielleicht, so kristallisiert sich heraus, ist das Entscheidende nicht, was gewesen ist, sondern wie man es sich erzählt.

Eine regelrechte Mogelpackung sei ihr Roman, sagt Alice Grünfelder, gerade weil es um die Möglichkeiten, Grenzen und Schnittstellen von Sachliteratur und Erzählfiktion geht. Ein Roman erreiche nun eben mehr Leute als ein Sachbuch zum gleichen Thema. Es geht immerhin auch um einen Themenkomplex – jüngere chinesische Geschichte – , der vielen hierzulande gänzlich unbekannt ist.

Der Versuch, dokumentarisch zu werden, führt dazu, dass man imaginativ die Lücken zwischen den Dokumenten füllen muss. Gerade wenn man versucht authentisch zu sein, wird auch die Imagination freigesetzt, so lautet dementsprechend eine dialektische Pointe, die im Verlauf des Gesprächs immer mehr Kontur gewinnt.

Darf Literatur missbraucht werden, um politisch-gesellschaftliche Inhalte zu kommunizieren? Und schliesslich ein generelles Misstrauen gegenüber der Fiktion: Besänftigt die Literatur nicht, wenn sie politisch Dringliches in das Gewand der Fiktion kleidet?

Das ist viel und dicht. Doch auch ganz ungeachtet der diskutierten Inhalte freut man sich hier aber auch darüber, wie sorgfältig und interessiert die beiden an den fremden Texten entlangdenken.

Dem Dokumentarischen ist nicht einfach zu trauen, dabei sind sich beide Parteien einig. Doch Kiening betont, dass man nicht einfach resignieren soll, weil man nie wissen kann, wie etwas tatsächlich vor sich gegangen ist. Dokumente zeigten nämlich auch eine Realität auf. Sie zeigen, wie man über etwas gedacht hat, das geschehen ist. Es sei vielleicht nicht wichtig, herauszufinden wie es wirklich war, sondern anzusehen, wie man sich etwas erzählt.

Tropenlyrik im Uferbau

Die Schlange vor dem Kino im Uferbau ist lang. Drinnen wird Raphael Urweider aus seinem neuen Gedichtband Wildern vorlesen. Die Tore öffnen sich und die Masse strömt hinein. Die Stühle im Publikum sind so begrenzt, dass sich Urweider und Moderator Gisi dazu bereit erklären, ihre eigenen an Zuschauer abzugeben. Sie selber nehmen am rechten Bühnenrand auf zwei anderen Stühlen Platz. „Sie dürfen sie besitzen, aber nicht mit nachhause nehmen“, meint Urweider zu den abgegebenen Sitzgelegenheiten. Es dauert ein bisschen, bis sich allgemeines Lachen im Publikum breitmacht. Die fast unerträgliche Hitze im Saal scheint sich auf die Übertragungsgeschwindigkeit der Synapsen auszuwirken.

Ungewöhnlich beginnt dann auch die Lesung. Es ist Urweider, der den Moderator vorstellt, und nicht etwa umgekehrt. Für solche formalen Regeln scheint sich der Lyriker wenig zu interessieren. Auch der Titel seines neusten Werks, das aus fünf Zyklen besteht, die von zwei Langgedichten umrahmt werden, ist kennzeichnend dafür. Ebenso die konsequente Missachtung der Gross- Kleinschreibung und die fehlenden Satzzeichen in den Texten. Das Bild der Gedichte sei ihm wichtiger, sagt Urweider. Er hätte auch nichts dagegen, wenn man diese an Wände von Hochschulen oder Tiefbauämtern anbringen würde. Ansonsten plädiert er dafür, dass man Gedichtbände am besten auf der Toilette aufbewahren soll. Dort könne man sich dann ein Gedicht mit entsprechender Länge für das jeweilige Vorhaben aussuchen.

Wenn man dem Folge leistet und auch Urweiders Wildern ebenda platziert, kann es sein, dass man plötzlich vom Örtchen an weit entfernte Orte gelangt. Der gesamte Band steht nämlich unter dem Motto „Alle Länder sind Träume“ von Gottfried Benn. Dieser Satz inspirierte Urweider. Eine Nation träume sich selber, ein Herrscher erträume sich sein Reich und der Tourist träume von seinem Ferienziel, erläutert er. Erträumt sich auch der Lyriker etwas von seinen Gedichten? Urweider wolle beim Schreiben vor allem etwas herausfinden. Dabei orientiere er sich mehr am Klang der Worte und an der inneren Logik der Texte. Interpretieren möchte er das Geschriebene lieber nicht.

Für die Interpretation ist dann wohl eher die Leserschaft zuständig. Das gefällt! Aber vielleicht sollten wir uns dafür an einen kühleren Ort begeben. Der Kinosaal hat sich mittlerweile so aufgeheizt, dass Urweider vorschlägt, man müsse hier eher Tropengedichte vortragen. Am Ende der Lesung werden freundlicherweise auch die Seitentüren des Kinos geöffnet, und die Zuschauer atmen einmal tief durch.

Dreisprachiger Ausflug nach Tel Aviv

Drei Leute sitzen bei der Lesung von Assaf Gavrons Roman Achtzehn Hiebe auf der Bühne. Und drei Sprachen klingen den Zuschauern dabei in den Ohren: Englisch, Deutsch und ein klein wenig Hebräisch. Auf Englisch wird das Gespräch mit Gavron geführt, Deutsch liest der Schauspieler Günter Baumann aus dem Roman vor, und mit Hebräisch entführt uns der Autor selbst nach Tel Aviv, den Schauplatz des vorgestellten Buches.

Assaf Gavron ist ein Mann mit vielen Talenten. Er ist Journalist, Videogame-Designer, schreibt Kolumnen als Falafel-Tester, arbeitet als Übersetzer und spielt in einer Band. Ganz nebenbei veröffentlicht er preisgekrönte Bestseller. Für diese Vorschusslorbeeren bedankt sich der Autor mit einem schelmischen Lächeln und meint, dass dies wohl das erste Mal sei, dass er zu 100% richtig vorgestellt wurde. Er liest daraufhin die letzte Seite seines Buches auf Hebräisch vor. Ein fremder, angenehmer Klang, den man ohne Angst vor Spoilern geniessen kann.

Auch Günter Baumanns Lesung kann man entspannt geniessen. Der Schauspieler füllt mit seinem kräftigen Bariton den ganzen Landhaussaal. Leider liest er nur aus dem ersten Kapitel „Taxi zum Friedhof“, in dem die Hauptfiguren eingeführt werden – man hätte ihm noch lange zuhören können.

Eine dieser Hauptfiguren ist Eitan Einoch, Taxifahrer in Tel Aviv. Er liebt es, seinen Gästen Geschichten von den Strassen zu erzählen, in denen sie zu ihm ins Auto steigen. Dabei fällt es ihm leicht, sie einzuschätzen. Er erkennt an ihren Stimmen, wann sie ungefähr geboren wurden, woher sie stammen, ob sie den Holocaust erlebt haben oder nicht. Auch seinen nächsten Fahrgast, eine alte Dame, ordnet er nach seinem Radar ein: eine typische Jeckin. Lotta Perl, so ihr Name, überrascht Eitan jedoch. Sie ist lockerer als erwartet, jünger als geschätzt und gibt unerwarteter Weise reichlich Trinkgeld. Fortan wird er sie täglich zum Friedhof fahren, bis sie eines Tages nicht mehr in sein Taxi steigt und Eitan zum Detektiv wird.

Ein typischer Detektiv-Roman ist Achtzehn Hiebe aber nicht. Eitan als Detektiv ist einer, der Fehler macht, der die Leser fehlinformiert, insgesamt ein unzuverlässiger Erzähler, der den Erkenntnissen, die man als Leser meist schon gemacht hat, zehn Seiten hinterherhinkt. Gavrons Wunsch war es ursprünglich, eine ganz neue Art von Detektiv-Geschichte zu schreiben, wo der Leser die Lösung kennt, der Detektiv hingegen zum Ende die falschen Schlüsse zieht. Das war ihm dann aber doch zu schwer umsetzbar. Die jetzige Form scheint ein Kompromiss zu sein.

Der Taxifahrer Eitan Einoch taucht nicht zum ersten Mal in einem Buch von Assaf Gavron auf. Deshalb auch die Frage, was zuerst da war: das Anliegen, das historische Thema der Mandatszeit aufzugreifen, oder der Wunsch eine Figur wiederzubeleben? Gavron meint, anfangs wollte er vor allem einen Text schreiben, der Briten und die Israelis verbindet. Seine Eltern emigrierten nach Israel, er hat aber Familie in England, studierte und lebte dort. Diese zwei Seiten haben nach Ausdruck gesucht. Gefunden hat Gavron sie im historischen Aufeinandertreffen von Briten und Israelis während der Völkermandatszeit. Er wollte zurückblicken auf diese Zeit mit Zeitzeugen, die es wohl nicht mehr lange geben wird. Doch da war diese Figur des Einoch, dessen Geschichte damals eher schlecht ausging. Was macht er heute, zehn Jahre später?

Dem Palästina-Konflikt kommt dabei eine bewusst untergeordnete Rolle zu. Gavron wollte nach eigener Aussage gerne etwas Leichteres, Spassigeres schreiben. Etwas, das sich unterscheidet von Romanen wie Auf fremdem Land, wo er sich diesem Thema zwar mit gewohnt leichtem Schreibstil aber auf eher ernste Weise nähert. Die ganzen Konflikte um Israel seien traurig, tragisch, schrecklich. Gleichzeitig seien sie aber eine literarische Goldmine, die für reichlich Stoff sorge. Dass er auch ausserhalb dieses Konfliktes fantastisch schreiben kann, hat Gavron mit seinem Roman Achtzehn Hiebe bewiesen.

 

1:0 für den Tod – von Fussballspielen und ungewöhnlichen Anhaltern

„Kennsch s’Totemügerli ned?“ – „Jo hani mol einisch gläse, cha mi aber nüm erinnere“ – „Dasch da mit dene erfundene Wörter dinne, aaschnäggle und so“. So hört es sich an, wenn sich gefühlte hundert Leute auf engem Raum versammeln und auf Franz Hohler warten. „Dä het sich aber guet ghalte“, findet die Frau neben mir, als der Autor die Bühne betritt. Entgegen den Erwartungen liest er nicht aus seinem neusten Roman Das Päckchen. Er beginnt mit einem Gedicht über das Älterwerden, über Medikamente auf dem Frühstückstisch, das Einnicken über Büchner, Brecht und Shakespeare, aber auch über die Zuversicht, die der Blick seiner neugeborenen Enkelin mit sich bringt. Gegensätze bringt er auch in seinen Kurzgeschichten zum Ausdruck. Diese handeln zum Beispiel vom Fussballspiel zwischen Leben und Tod, das sowohl 0:1 endet als auch im Fazit, dass wir Lebenden wohl alle etwas mehr zusammenhalten müssen. Das Ende seiner Erzählung vom Teufel als Autostopper – tatsächlich ist es Jesus, der den ungewöhnlichen Anhalter mit nach Rom nimmt, da der Papst ja an keinen von ihnen beiden mehr glauben würde – überrascht das Publikum und erntet einige Lacher.

Franz Hohler verbindet aber nicht nur scheinbare Widersprüche mit überraschenden Pointen. Er verweist auch auf Autoren, die ebenfalls in diesem Jahr in Solothurn gastieren. Die Spannweite der Gegenwartsliteratur, wie sie hier präsentiert würde, sei enorm. Sie reiche von Robert Prossers Debütroman über „alles Elend der Welt“ bis hin zu Gion Mathias Caveltys „irrem non-sense-Text“. Diese Seitenblicke münden in die Frage, die heute alle zu beschäftigen scheint: Was ist Literatur? Und vor allem: Was kann Literatur? Hohler beantwortet diese Frage mit seiner nächsten Erzählung: In einem Halbkreis sitzen einige Kinder um eine Dichterin, welche ihnen die Geschichte eines Kindes erzählt, das glaubt, ein Feuer im Garten zu sehen. Ein 3-jähriger Junge rennt daraufhin zum Fenster, um dieses Feuer zu sehen und verpasst dabei den ganzen Rest der Geschichte. Diese Fortsetzung brauchte er aber gar nicht, konnte er sich doch bereits alles vorstellen, die Geschichte füllte seinen Kopf und erwärmte sein Herz. Ob das auf die Literatur im Allgemeinen appliziert werden kann, sei dahingestellt. Dem langen Applaus nach zu urteilen, hat zumindest Hohlers Geschichte beim anwesenden Publikum genau diese Wirkung erzielt.

Text im Entstehen

Das Format der Textwerkstatt wurde vor zwei Jahren aus dem Wunsch einiger Autoren gegründet, ihre Texte nicht nur beim Bier zu besprechen, wie es Moderator Donat Blum ausdrückte, sondern dies auch in einem passenden Rahmen zu tun. Offenbar weckt dieses Anliegen beim Publikum genauso grosses Interesse; die Veranstaltung war derart gut besucht, dass viele Zuschauer schliesslich auf dem Boden sassen oder sich an die Wände lehnten. Es scheint ein Bedürfnis unter den Literaturinteressierten zu bestehen, die Texte nicht bloss in ihrer fertigen Form präsentiert zu bekommen, sondern auch in ihr Entstehen Einblick zu erhalten.

Besprochen wurde ein unveröffentlichter Text von Rebecca Gisler, zu dem sich die anderen Teilnehmenden äussern durften. Mit dabei waren: Judith Keller, Robert Prosser, Adam Schwarz, Noemi Somalvico und Verena Stössinger.

Dem zu Anfang getroffenen Vorsatz nicht als Kritikerrunde aufzutreten, sondern als Schreibende, wurde das Sextett jedoch nicht ganz gerecht. Obwohl sogar scharfe Kritik durchaus wohlwollend und fair vorgebracht wurde, hätten wir uns gewünscht zu erfahren, wie die anderen Autoren und Autorinnen ihre Kritik denn im Text konkret umgesetzt hätten. Vielleicht blieb aber bei der Länge des Textes und der Grösse der Runde schlichtweg keine Zeit dafür.

Etwas verloren wirkte manchmal die Autorin selbst, die sich sehr vieles anhören musste, aber kaum Gelegenheit geboten bekam, darauf einzugehen und ihr Werk mit dem Schreibprozess in Verbindung zu bringen. Gegen Ende wurde dann die Diskussion für das Publikum geöffnet, das von dieser Möglichkeit regen Gebrauch machte und unerschrocken seine Kritik kundtat.

Julia Sjöberg, Sascha Wisniewski

 

 

Die Stille der Verlierer

Was passiert, wenn Woyzeck von der Bühne steigt, am Berner Hauptbahnhof an Sie herantritt und fragt: „hesch mer eh Stotz?“ Diese Frage, die das Verhältnis von sozialer Wirklichkeit und Literatur reflektiert, führt mitten ins Zentrum der Podiumsdiskussion „Die Stimme der Verlierer“. Geladen waren Corina Caduff, Anja Kampmann, Pedro Lenz und David Signer.

Der Moderator Lucas Gisi eröffnete das Podium mit der Formulierung eines Zweifels: „Wen meinen wir eigentlich, wenn wir von Verlierern reden?“ Caduff machte den Anfang mit einer weiteren Frage: Wer beschäftigt sich eigentlich mit den Verlierern? Dies sind vor allem SozialarbeiterInnen, PolitikerInnen und eben auch AutorInnen. Verlierer seien Menschen, die auf verschiedenen Ebenen Kränkungen erleben: Am Arbeitsplatz, aufgrund ihres Aussehens, ihres Geschlechts oder ihrer Herkunft. Es seien jedoch hauptsächlich die ökonomischen Verhältnisse einer Person, die darüber entscheiden, ob diese zu den Verlierern zählt oder nicht. Die Grundlage jeder Kränkung bilde das Bedürfnis nach Anerkennung, dessen Mechanismen in kulturellen, psychologischen wie auch ökonomischen Kontexten greife, fügte Gisi an. Sowohl Anerkennung als auch Kränkung verlangen nach einem Anderen und prägen Selbst- wie Fremdbild. David Signer warf ein, dass auch die Kategorie „Verlierer“ eine Fremdzuschreibung ist, die vom Selbstbild divergieren kann. In Dakar beispielsweise erzählte ihm ein Mann mit stolzer Brust, im Marketing tätig zu sein. Tatsächlich aber schnallte er sich lediglich einen Bauchladen um die Hüfte. Interessanterweise würden sich die SchweizerInnen, die in globalökonomischer Hinsicht zu den Bessergestellten gezählt werden können, oft als Opfer wahrnehmen. Der Begriff des Verlierers lässt sich somit nicht objektivieren, sondern variiert in Abhängigkeit von der jeweiligen Perspektive.

Kann die Literatur also einen genuin eigenen Blick auf die Verliererfigur anbieten? Lenz sieht seine Aufgabe als Schriftsteller darin, das Selbstverständnis von Verliererfiguren narrativ zu artikulieren. Die Verlierer wollen, dass man ihr Leben beschönige, so Lenz. Signer widersprach dem vehement. In der Idealisierung von Verliererfiguren liege eine grosse Gefahr, die Literatur allein auf maximale Rührung, Effekthascherei und Publikumswirkung auszurichten. Erwartungen zu bedienen, sei unredlich. „Hilfswerksprosa“, die Menschen in ihrem Gutmenschtum suhlen lasse, sei definitiv keine erstrebenswerte Literaturform. Diese ziele auf eine heuchlerische Form des Mitleids, die mehr Selbstbeweihräucherung als ehrliche Empathie sei. Ausserdem verberge eine solche pseudo-empathische Idealisierung von Verliererfiguren deren eigentliche Ausbeutung für ökonomische Zwecke.

Es stellte sich heraus, dass Funktion und Anspruch der Literatur eng verknüpft sind. Anja Kampmann plädierte für Empathie und Ernsthaftigkeit in der literarischen Auseinandersetzung mit Figuren am Rande der Gesellschaft. Man müsse diese Wirklichkeit erfahrbar machen, ohne diese zu idealisieren oder zu verurteilen, was die Reflexion der eigenen Position und eine klischeefreie Darstellung fordert. Je weiter die Lebenswelten auseinanderlägen, umso grösser sei die Verpflichtung, genau hinzuschauen, ergänzte Signer. Ausserdem, schloss Caduff, liege das eigentliche Potential der Literatur darin, die soziale Wirklichkeit durch ein Reservoir an Geschichten, die wir in die Welt hinaustragen, wirksam verändern zu können.

In einem Punkt waren sich die AutorInnen einig: Um diese darstellerischen Ansprüche umzusetzen, ist die Herausbildung einer differenzierten Vorstellungskraft vonnöten. Die Öffentlichkeit müsse den Literaten ein ausreichend ausgeprägtes Empathievermögen zutrauen. Wenn man nicht über den Tellerrand schaue, habe man am Schluss nur noch einen faden Brei von Autobiographien und Memoiren. Als Medium der Fiktion zeichnet sich die Literatur durch die Möglichkeit aus, Sprache nicht nur nachzuahmen, sondern auch erfinden zu können. Durch Variation von Klangfarbe, Rhythmus und Akzentsetzung kann die Literatur dem Verlierer tatsächlich eine eigentümliche Stimme geben. So wird die ästhetische Form notwendigerweise zur Erzählung und fügt der Darstellung etwas hinzu, das mimetischen Abbildungsverfahren entgeht.

Literatur, das ist ein feines Austarieren von Verfehlen und Erfassen der sozialen Wirklichkeit. Gelingt diese Gratwanderung nur dann, wenn die Erfahrung der Literaturschaffenden sich mit ihrem Erzählten deckt? Der Schriftsteller als Verlierer – ein altbekannter Topos. Doch das Künstlerprekariat, führte Caduff aus, unterscheide sich grundlegend von anderen Prekariatsformen: Ersteres sei frei gewählt, letzteres nicht. Da runzeln wir die Stirn. Wird hier nicht ausgeblendet, dass das prekäre Schriftstellerdasein eine Folge sozioökonomischer Verhältnisse ist und keine naturgegebene Notwendigkeit darstellt?

Es war Corina Caduff, der es zum Schluss der Veranstaltung gelang, die Reflexion um eine entscheidende Dimension zu erweitern. Wem steht die Deutungshoheit über Gewinner- oder Verlierersein überhaupt zu? Unweigerlich wurde damit die Legitimation dieser Podiumsdiskussion infrage gestellt und geriet somit selbst unter Verdacht, Verlierer für andere Zwecke zu instrumentalisieren. Leider bildete dieses Verdachtsmoment auch den Schlusspunkt der Veranstaltung. Dabei müsste gerade hier weitergedacht werden, führt diese Selbstreflexion doch direkt an die Wurzel der Soloturner Literaturtage selbst: Wieso kann „der Verlierer“ an diesem Podium nicht selbst für sich sprechen und bleibt ein Abwesender? Welche Formen müssten Kulturveranstaltungen wie diese Literaturtage annehmen, um die Woyzecks der Welt anzusprechen? In genau diesen Fragen zeigt sich das Potential und die Notwendigkeit der Literaturkritik.

Fabienne Suter, Shantala Hummler, Simon Härtner

Uetz ist schuld

+++ Das Unwetter der vergangenen Nacht wurde nachweislich durch Christian Uetz verursacht, der unbedingt um 22.30 Uhr auf der Aussenbühne seinen «Engel der Illusion» noch einmal zum Besten geben musste. (Unten: Archivaufnahmen vom Freitag.)

Uetz

Noch vor Beendigung der Strafpredigt zeichneten sich der Aare abwärts die ersten Blitze ab, kaum hatte Uetz die Bühne verlassen, wurde der Landhausquai dann von Stürmen heimgesucht, Regen setzte ein, der Glacéstand musste vorzeitig schliessen. Beifällige Anerkennung für die Performance kamen von Patti Basler („Gut, aber ich war schon besser“) und Judith Keller („Ja nu: Angeri sägeds angersch. De Levinas zum Byschpiel“). Damit aber nicht genug. Gerade hatten sich die Böen wieder gelegt und die Umstehenden sich zum Ausklang in die Stehbar No. 19 verzogen, um den letzten Runden von Urweiders Flaschendrehen beizuwohnen, sah sich Uetz genötigt – man war kaum angekommen – sich schnellstmöglich in die Runde der Drehenden zu mischen, um seine Stimme ein weiteres Mal zu erheben. Ariane von Graffenried ahnte auf der Gasse bereits augenrollend „Itzt chunnts de grad wider“ – et voilà, der Donner folgte ihm. ++++

Finde die Zukunft III

Finde den Unterschied

Vorher

Nachher

Die langerwartete Chatbotausstellung des Zukunftsateliers ist endlich besuchsbereit! Das Warten hat ein Ende. Zu finden ist sie im Foyer des Landhauses und besteht aus einem Tisch und zwei Laptops.

Wir waren da – unser Fazit: „Isch guet gmeint xi!“

Spannende Gesprächspartner findet man jedoch in den analogen Formaten des Zukunftsateliers, die zu überzeugen wussten.

Artiom Christen, Shantala Hummler

„Ich hab kein einziges Wort davon geschrieben und trotzdem ist es mein Text“ – Peter Stamm und seine Übersetzer.

Wer meint, schon alles über den vielbesprochenen und allseits bekannten Peter Stamm zu wissen, hätte heute dabei sein sollen. In der bis zum letzten Platz gefüllten Säulenhalle des Solothurner Landhauses stand für einmal nicht der Autor im Mittelpunkt des Geschehens, sondern seine Übersetzer und Übersetzerinnen.

Vier Peter Stamm-Spezialisten aus Russland, Slowenien, Kuba und Schweden unterhielten sich unter der sehr guten Moderation von Angelila Salvisberg über die Herausforderungen ihres Handwerks. So bereiten Maija Zorkaja die scheinbar einfachen Passagen Schwierigkeiten. Wenn also Thomas und Astrid in Weit über das Land zusammen ein Glas Wein trinken, dann bedeutet dies in der wörtlichen Übersetzung ins Russische, dass sie tatsächlich zu zweit nur ein Glas trinken. Korrigiert man nun aber den Inhalt, stimmt der Rhythmus nicht mehr. Ein schmaler Grat zwischen Sinn und Klang.

Anibal Campos muss hingegen Acht geben, nicht ins Pathos zu verfallen, das sich spanischsprachige Leser aus ihrer literarischen Tradition gewöhnt sind. Schliesslich erinnert sich der slowenische Übersetzer Slavo Šerc an ein besonders schwieriges Wortspiel und Jörn Lindskog wollte den von Stamm selbstgewählten Titeln gerecht werden.

Vielleicht war das Gespräch auch deshalb so angenehm zu hören, weil Stamm mit seinen Übersetzern und Übersetzerinnen auch ein freundschaftliches Verhältnis verbindet. Diese schätzen seine Hilfsbereitschaft, aber auch, dass er sie einfach ihre Arbeit machen lässt.

Aufschlussreich war auch zu erfahren, von wem Peter Stamm in den jeweiligen Ländern überhaupt gelesen wird. Während es in Spanien hauptsächlich die Intellektuellen sind, scheint er in den übrigen Ländern einen breiteren Anklang zu finden.

Als die Zeit um war, schien das Thema noch lange nicht ausdiskutiert. Zufrieden waren wir – und auch das Publikum –  mit dem Einblick allemal.

Julia Sjöberg, Sascha Wisniewski

De janvier à Janvier, fais ce qu’il te plaît

Six mois que Janvier n’avait reçu aucun dossier. Première étape avant qu’ils ne suppriment son poste, il en était persuadé. Pourtant, les semaines avaient passé, et ce qui n’était à l’origine qu’une hypothèse improbable s’était alors imposé comme une évidence : ils l’avaient tout simplement oublié.
« Janvier » était une nouvelle du recueil Une autre vie parfaite. En faire un roman s’est imposé à son auteur, Julien Bouissoux, comme une réponse à l’appel à la vie de son personnage, c’est ce qu’il nous confie lorsque nous le rencontrons sur une terrasse, en aparté du programme soleurois. Ce clairmontois d’origine vit à Berne avec sa famille et apprécie la quiétude que lui offre cet environnement linguistique, des mots qui lui échappent, laissant de la place à la rêverie.

Nous l’interrogeons sur les noms de ses personnages, Janvier et Jean-Chrysostome, qui nous ont laissé-e-s songeur-se-s. Vendredi ou la vie sauvage ? Une référence biblique ? Rien de tout ça ! L’auteur lève le mystère : «Ça sonnait juste. Et puis Jean-Chrysostome, c’est drôle avant d’être biblique.» La simplicité de la réponse étonne et touche, tout comme les anecdotes qu’il nous livre au cours de l’heure qui file en sa compagnie. On imagine sans peine Julien Bouissoux feuilleter dans son bureau les who’s who récupérés lors d’un tri à la bibliothèque de l’Université de Neuchâtel, pour le plaisir.

Au fil de la conversation, des mots reviennent qui tous fleurissent les champs de la liberté, de la sincérité et de l’humilité. Pour lui, impossible de concevoir l’écriture et la lecture sans eux. Et sans une certaine matérialité. Des deux livres de papier posés sur la table, il explique qu’ils le rassurent. Savoir que son fichier de travail vit maintenant une existence indépendante et démultipliée c’est presque une éternité, certainement une sérénité.

Il est pour lui capital de ne pas jouer avec son lecteur, mais il n’hésite pas à nous renvoyer la balle. Il glisse quelques questions à notre attention, transformant l’entretien en échange, et lorsqu’on lui propose de choisir la photo d’illustration de cet article, il s’empare tout naturellement de l’appareil et nous photographie.

Emma Schneider, Charlotte Hebeisen, Julien Philippoz