Meine Gewalt

Ob es ein unglücklicher Zufall oder symptomatisch gewesen ist, dass die Ehrung Mariella Mehrs nicht nur im Uferbau-Kino, sondern auch im Schatten der Verleihung des Solothurner Literaturpreises anberaumt wurde, ist nicht mehr zu entscheiden. Festzuhalten bleibt indessen, dass trotz der ungünstigen Platzierung viele, sehr viele gekommen sind, um der Hommage, die Corina Caduff, Christa Baumberger und Nina Debrunner vorbereitet hatten, beizuwohnen. In Anwesenheit der Geehrten begann Günter Baumann mit den ersten Zeilen aus Mehrs 2002 erschienenem Roman Angeklagt:

Ich bin im Zustand der Gnade. Ich töte. Ich bin.

Gehören diese Worte im Roman der sicherheitsverwahrten Brandstifterin und Mörderin Kari Selb, so stellen sie an diesem Morgen doch bereits die Weichen: Im Folgenden wird über Gewalt geredet werden müssen. Das ist für sich genommen nicht so schwer, denn der Opferdiskurs, wie ihn jüngst Svenja Goltermann so instruktiv wie gründlich durchleuchtet hat, ist allgegenwärtig und – das klingt seltsam und ist es auch – besitzt auch eine auffällige Publikumsattraktion. Solange man die Rede über Gewalt so kodiert, dass sie in uns die Befriedigung erfüllt, im Lesen, Hören und Sehen selbst Opfer gewesen zu sein, stört diese Rede nicht.

Mariella Mehr ist sich zeit ihres schriftstellerischen Lebens der Problematik dieser Kodierung bewusst gewesen, handelt es sich dabei doch um ein Leben, das durch den marginalisierenden Blick auf das Opfer bestimmt gewesen ist. Nahezu unmöglich bleibt es Mehr, Dichterin – und sonst nichts – zu sein. Ihre Biographie legt sich wie Blei auf die Wahrnehmung ihrer literarischen Produktion. Immer ist sie zuerst das Mädchen, das die Aktion «Kinder der Landstrasse» seinen Eltern entrissen und letztlich in eine jahrzehntelange Tortur geschickt hat, dann ist sie die Jenische – und irgendwann dann ist sie auch noch Autorin. Das ist nicht nur peinlich, sondern im Horizont von Mehrs Poetologie auch vollkommen falsch. Nirgends stellen ihre Texte das Erleiden pathetisch aus, nie betteln sie um Empathie. Es sind Geschichten auf dem Weg zur Tat, zum Sein im Schlag. An einer wichtigen Stelle des Gesprächs schaltet sich Mehr – ohne Mikrophon nur schwer verständlich, aber gerade hierin umso wirksamer – spontan ein: Die «Auseinandersetzung mit Gewalt sei immer eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Gewaltpotential», und das ist ganz und gar nicht pädagogisch gemeint. Vielmehr erhellt Mehrs Einwurf ein Konzept der Souveränität einer Frau, die sich weigert, das Opfer zu sein (oder zu bleiben), das die Welt aus ihr machen möchte. Den Zustand der Gnade erreicht diese Literatur gerade in der Gnadenlosigkeit.

Überzeugen kann man sich von dieser in der Schweizer Gegenwartsliteratur einzigartigen Furiosität seit dem vergangenen Jahr wieder anhand zweier im Limmat Verlag erschienener Bände, von denen der eine Mehrs Trilogie der Gewalt (Daskind [1995], Brandzauber [1998] und Angeklagt [2002]), der andere – unter dem Titel Widerworte von Christa Baumberger und Nina Debrunner herausgegeben – Mehrs journalistisches Werk, ihre Gedichte und Reden vorstellt. Insbesondere die Rezensionen, überhaupt: ihre lesende Biographie kommt hier erstmals eindrucksvoll zum Vorschein und ist mehr als ein Zeitdokument. Ein ganz eigenes, in seiner Metaphorik originelles wie hellsichtiges Verständnis von Literatur zeigt sich hier – als Beispiel sei hier die hingebungsvolle wie kämpferische Auseinandersetzung mit Hermann Burgers Die künstliche Mutter genannt.

Wenn die Gefahr der unfreiwilligen Remarginalisierung Mariella Mehrs auch diesen Morgen einmal heimsuchte (in jenem kurzen Moment, in dem ihre Lyrik unmerklich zur Versprachlichung erlebter «Heimatlosigkeit» heruntergebrochen wurde), so gilt es den Veranstalterinnen dennoch vorbehaltlos und nachdrücklich für diese überfällige Hommage zu danken.

Am 16. Juni wird Mariella Mehr in Glarus/Ennenda der Anna-Göldi-Menschenrechtspreis verliehen werden.

Uetz ist schuld

+++ Das Unwetter der vergangenen Nacht wurde nachweislich durch Christian Uetz verursacht, der unbedingt um 22.30 Uhr auf der Aussenbühne seinen «Engel der Illusion» noch einmal zum Besten geben musste. (Unten: Archivaufnahmen vom Freitag.)

Uetz

Noch vor Beendigung der Strafpredigt zeichneten sich der Aare abwärts die ersten Blitze ab, kaum hatte Uetz die Bühne verlassen, wurde der Landhausquai dann von Stürmen heimgesucht, Regen setzte ein, der Glacéstand musste vorzeitig schliessen. Beifällige Anerkennung für die Performance kamen von Patti Basler („Gut, aber ich war schon besser“) und Judith Keller („Ja nu: Angeri sägeds angersch. De Levinas zum Byschpiel“). Damit aber nicht genug. Gerade hatten sich die Böen wieder gelegt und die Umstehenden sich zum Ausklang in die Stehbar No. 19 verzogen, um den letzten Runden von Urweiders Flaschendrehen beizuwohnen, sah sich Uetz genötigt – man war kaum angekommen – sich schnellstmöglich in die Runde der Drehenden zu mischen, um seine Stimme ein weiteres Mal zu erheben. Ariane von Graffenried ahnte auf der Gasse bereits augenrollend „Itzt chunnts de grad wider“ – et voilà, der Donner folgte ihm. ++++

Was bei Dir so läuft

Das Übersetzungsatelier im Gemeinderatssaal wartete am Freitag mit einem eingespielten Tag-Team auf: Die alten WG-Genossen Pedro Lenz und Raphael Urweider, die mittlerweile jeder für sich erfolgreiche literarische Wege gegangen sind, verbindet eine sehr spezielle Übersetzungspraxis, nämlich die von Lenz‘ Oberaargauer Mundart ins Schriftdeutsche. Urweider hat diese Quadratur des Kreises nun bereits zum zweiten Mal zu bewältigen versucht; nach Der Goalie bin ig, aus dem bei Urweider Der Keeper bin ich wurde, wurde in diesem Jahr Di schöni Fanny in die Hochsprache transferiert.

Wie es sich für ein Übersetzungsatelier gehört, lag das Augenmerk vor allem auf den besonderen Schwierigkeiten, die solche Projekte mit sich bringen. Auf den ersten Blick wurden diese vor allem in der «allzu grossen Nähe» der Sprachen, also in einem scheinbaren Mangel an echten Differenzen ausgemacht, die auf den zweiten Blick dann eben doch umso stärker zutage treten. Sowohl Lenz als auch Urweider wussten den Abstand zwischen den Sprachen sehr routiniert wie kenntnisreich zu analysieren und zu kommentieren.

Unterscheiden liessen sich zunächst grammatikalisch-idiomatische, strukturell-narrative und poetische Probleme. Da ist zunächst der dann doch eher triviale Aspekt des Vokabulars und die berndeutsche Adoration der unübersetzbaren Ausdrücke, als deren Stellvertreter etwa der «Stürmisiech» herhalten durfte, von dem es mental dann doch ein eher weiter Weg zum «Schwafler» ist, der ja auch in Jonas Lüschers Kraft fröhliche Urstände feiern durfte. Dass das «Schwafeln» nun gerade eigentlich nicht das ist, was Leute auszeichnet, die in Bern einander des Stürmens bezichtigen, liegt auf der Hand; und so ist auch Lenz‘ Jackpot ja eher kein Grosssprecher, der in die eigene Beredsamkeit verliebt ist, sondern jemand, der da, wo ihm seine eigene Leere entgegenfällt, die Worte hineinstopft. In der hochdeutschen Version sieht man diesen Typus schlichtweg nicht und damit gilt es umzugehen.

Eine weitere Hürde stellte, wie Raphael Urweider ausführte, der durch den Text transportierte Zeithorizont dar. Unmöglich ist es, den Präsens/Perfekt-Modus der Mundart in das ausdifferenzierte Tempussystem des Hochdeutschen zu überführen. Auch hier sind das keine Petitessen, denn während die Mundart eher ein dämmerndes, vielleicht auch halluzinierendes Sprechen ist, in dem alles, was geschehen ist, sowohl abgeschlossen wie noch verhandelbar ist (was man sich erst einmal bewusst machen muss, denn daraus resultiert ein wesentlich entspannteres Verhältnis zu den Dingen), ordnet die Hochsprache rigoros die unabänderlichen von den noch zu verhindernden Ereignissen. Den Bewusstseinszustand der Mundart erreicht das Hochdeutsche somit nie – und umgekehrt; und für Texte, deren Protagonisten – man denke auch an den Goalie – sich unentwegt über ihre Bewusstseinsstände definieren, stellt das eine beachtliche Hypothek dar.

Man kann diese scheinbar oberflächlichen, tatsächlich aber in die Tiefen der erzählten Welten reichenden Differenzen fortspinnen: Sie zeigen sich etwa auch in der Kluft zwischen Mundart und Hochsprache, die Lenz‘ Texte selbst mit Bedeutung aufladen und die sich in der Übersetzung nicht mehr semantisieren lässt. (Wie es auch für das Französische gilt, das für ein deutsches Publikum nur partiell mitverwertet werden kann.) Wie stark sich scheinbar nur kulturell-lexematische Ersetzungen auf basale Strukturen wie die Charakterkonstitution auswirken, bemerkt in der Diskussion Franco Supino: Wenn Lenz‘ Jackpot auf einmal das Lied vom «Vogulisi» in seinen Monolog verwebt, welches einem deutschen Leser unbekannt sein dürfte, dann wird in Urweiders Fassung daraus das doch eher an ältlichen Jugendjargon erinnernde «Hätte, hätte, Fahrradkette». Dem Aussagesinn des betreffenden Absatzes schadet das nur bedingt, denn es geht darum, die das eigentliche Ereignis umkreisende Rede lapidar abzuschliessen, was bei Lenz mit einem Hinweis auf das nicht besuchte Berner Oberland, bei Urweider mit der Aussage «Fahrrad fahre ich sowieso nicht» erfolgt. Allerdings geht es in der Passage weniger um den Aussagesinn als um die Performance der Abschweifung, für die sich der Protagonist auch sogleich entschuldigt: eine Abschweifung, die man ihm jedoch nur in der Mundartfassung anlasten kann, weil sich aus der Fahrradkette eben kein Lied machen lässt.

Grundsätzlich bleibt zu konstatieren – auch wenn es nie ausgesprochen wurde -, dass man es hier eigentlich mit einem ontologischen Problem zu tun hat, das sich stilistisch äussert. Die Mundart scheint immer «zuviel» zu sein: Immer wieder kürzen und streichen müsse man bei den Wortwiederholungen, dem gedoppelten «ig», den Füllseln, der Emphase des Sprachstroms, führte Urweider aus. Dass das keinesfalls nur eine Stilfrage ist, sondern an den Kern des Problems rührt, liess sich erahnen, wenn man Original und Übersetzung nebeneinander hielt: Die Mundart erwies sich in ihrer Inszenierung eigentlich immer als Zitat, als eine Montage und Kombination von Sentenzen. Im Grunde bewegt man sich dort immer in einem style indirect libre, der die Sprecherinstanzen von vornherein verunklärt. Stets reden sie im Modus von anderen, rezitieren, wiederholen sich selber und kommentieren das Wiederholte durch weitere Wiederholungen, machen Vergangenes präsent, Fremdes sich zu eigen und das Eigene fremd. Das Nachdenken darüber, «was by Dir so louft», führt da immer schon den Gedanken an einen möglichen, lustvollen Wechsel der Identität, des Lebens, der Schallplatte mit sich, eine gefährliche Neugier, die einen am Ärmel in die Maschine zieht. «Was bei Dir so läuft» – das ist hingegen der Sound eines Milieus, das seinen Ort in den bundesdeutschen 90ern hat und in dem dieser Satz vor allem eine pubertäre Coolness, mithin das Gegenteil von Empathie ausdrückte. Die Meisterschaft von Pedro Lenz besteht genau genommen darin, dass er aus diesem Materialspiel heraus immer wieder Trouvailles, Effekte des Neuen zu zaubern vermag. Das Hochdeutsche kann ihm in diesen Momenten nicht folgen – sondern wirkt in seinen Bemühungen dann äuä scho cheesy.

Gefiederte Delphine

Ein Läufer sei der Lyriker, meint Moderator Florian Vetsch, und ja: Man sieht das Levin Westermann bei der morgendlichen Lesung auch durchaus an. Überpräsent sind die leuchtenden Laufschuhe unter dem Tisch, aber es gibt hier keinen Bruch zwischen Körper und Wort. Das Laufen nämlich, so stellt sich im Gespräch heraus, ist die Grundlage von Westermanns Lyrik. Im Laufen, am Fuss des Jura, filtern sich ihm die Textstellen heraus, die im Gedächtnis bleiben, die fremden wie die eigenen; im Durchgang durch die Natur zeigt sich dem Lyriker die Zeit als formatives Element. (Und durch diesen Duchgang angeheizt wurde es metaphorisch dann doch einmal wild, als Vetsch in Westermanns «Exerzitien der Krähen» «gefiederte Delphine» zu entdecken hoffte.)

Die divergenten Konzeptionen von Zeit – zehn an der Zahl – bilden das Gerüst des Tschechow-Zyklus, den Westermann in Solothurn liest und der sich in seinem Gedichtband 3511 Zwetajewa findet, den das «Buchjahr» im vergangenen Jahr bereits extensiv besprochen hat. Zeit ist ihm der Prüfstein des Literarischen; Literatur, so führt er aus, vermag «die Grenzen der Zeit in einem Gespräch zu überschreiten» – ganz konkret die Grenzen zwischen einem in Biel ansässigen Autor der Gegenwart und einer 1941 in Jelabuga in den Freitod gegangenen Lyrikerin, deren Sätze den Kern des dritten Teils des Buches bilden. Dass die Kritik bemängelte, neben Zwetjewas Prosa kämen «die daran angelagerten Textpartien des Autors kaum zur Geltung», will Westermann so nicht gelten lassen. Für ihn ist Dichtung keine Frage von Erfindung, sondern eben von «Verdichtung»: Die vergangenen Stimmen mit der eigenen zu verweben, darum geht es – und eben hierin wird die Lyrik dann eben auch zur Trauerrede, zum Dokument eines die Zeit überdauernden Bewusstseins. Der Gehalt von Westermanns Texten ist, schön ist das formuliert, der des «Palimpsestes»: unsere eigene kurzlebige Existenz vor dem Hintergrund einer Landschaft, die immer gleich bleibt.