Dem Dokument ist nicht zu trauen

Im Landeshaus diskutieren der Literaturprofessor und unlängst als Prosaautor hervorgetretene Christian Kiening und die Autorin Alice Grünfelder über das Dokumentarische in der Literatur. Eigentlich müsste es ja das Dokumentarische im Literarischen heissen, sagt der Moderator, denn was wäre von der Literatur noch übrig, würde das Dokumentarische fehlen?

Grünfelder und Kiening haben Passagen aus dem Buch der bzw. des anderen ausgewählt, die sie  gegenseitig vorlesen und diskutieren. Eine sehr nette Idee, die auch andernorts schon versucht wurde, und die hier auch prächtig aufgeht: Beide vermitteln dem Publikum nicht nur einen guten Einblick in ihr Werk, sondern gehen auch konkret und kundig auf das Werk des Gegenübers ein.

Dokumentarische Literatur bemüht sich idealerweise, auch Widersprüchlichkeiten darzustellen – wenn etwa die vermeintliche Authentizität der Dokumente gar nicht dem entspricht, was Betroffene sehen, oder woran sie sich bruchstückhaft erinnern. Wie sehr Wahrnehmen und Denken von Kienings Grossvater etwa von seinen Bibel- und Rilkelektüren beeinflusst waren, das stellt kein noch so authentisches amtliches Dokument so recht scharf. Diesem Anteil, den die Imagination schon dort hat, wo man beginnt eine Geschichte für die eigene Erfahrung zu erzählen, kann erzählende Literatur vielleicht besser gerecht werden, als das klassische Sachbuch. Vielleicht, so kristallisiert sich heraus, ist das Entscheidende nicht, was gewesen ist, sondern wie man es sich erzählt.

Eine regelrechte Mogelpackung sei ihr Roman, sagt Alice Grünfelder, gerade weil es um die Möglichkeiten, Grenzen und Schnittstellen von Sachliteratur und Erzählfiktion geht. Ein Roman erreiche nun eben mehr Leute als ein Sachbuch zum gleichen Thema. Es geht immerhin auch um einen Themenkomplex – jüngere chinesische Geschichte – , der vielen hierzulande gänzlich unbekannt ist.

Der Versuch, dokumentarisch zu werden, führt dazu, dass man imaginativ die Lücken zwischen den Dokumenten füllen muss. Gerade wenn man versucht authentisch zu sein, wird auch die Imagination freigesetzt, so lautet dementsprechend eine dialektische Pointe, die im Verlauf des Gesprächs immer mehr Kontur gewinnt.

Darf Literatur missbraucht werden, um politisch-gesellschaftliche Inhalte zu kommunizieren? Und schliesslich ein generelles Misstrauen gegenüber der Fiktion: Besänftigt die Literatur nicht, wenn sie politisch Dringliches in das Gewand der Fiktion kleidet?

Das ist viel und dicht. Doch auch ganz ungeachtet der diskutierten Inhalte freut man sich hier aber auch darüber, wie sorgfältig und interessiert die beiden an den fremden Texten entlangdenken.

Dem Dokumentarischen ist nicht einfach zu trauen, dabei sind sich beide Parteien einig. Doch Kiening betont, dass man nicht einfach resignieren soll, weil man nie wissen kann, wie etwas tatsächlich vor sich gegangen ist. Dokumente zeigten nämlich auch eine Realität auf. Sie zeigen, wie man über etwas gedacht hat, das geschehen ist. Es sei vielleicht nicht wichtig, herauszufinden wie es wirklich war, sondern anzusehen, wie man sich etwas erzählt.

Drei Bühnen für den Nachwuchs

Drei Gewinnerinnen

Der Saal im Landeshaus füllt sich. Auf der Bühne sitzen die drei Gewinnerinnen des Schreibwettbewerbs „OpenNet“ der Solothurner Literaturtage, flankiert von zwei Moderatorinnen. „Allegro“, sagt Bettina Vital. Die Eröffnungsworte sind Rätoromanisch, denn erstmals ist ein rätoromanischer Text unter den Gewinnern. Die beiden anderen, die aus den 140 Einsendungen ausgewählt wurden, sind deutschsprachige Texte. Die Gewinnerinnen Flurina Badel, Mara Meier und Marta Piras präsentieren in einer Lesung und im Gespräch mit der Jury ihre Gewinnertexte. Diese führen das in der Gedankenwelt eines Schulmädchens, dann in eine vom Krieg erschütterte Dystopie und schliesslich in die Wohnung von jemandem, der sich für den dritten Weltkrieg rüstet.

In der Eröffnungsrede betont die Moderatorin, dass es ein Hauptanliegen der Literaturtage sei, den Nachwuchs zu fördern. Diesen Vorsatz ist auch in anderen Veranstaltungen zu sehen.

Junge Diskussionskultur

Im Format Skriptor hingegen diskutieren junge oder im Literaturbetrieb gerade erst angekommene Autorinnen und Autoren neben etablierten über unveröffentlichte Texte. Das Vorhaben, auch die neue Generation zu erreichen und junge Leute die Freude am Schreiben und an der Literatur näher zu bringen, scheint zu wirken – wenn ich mich umblicke, ist der Altersdurchschnitt jünger als bei den anderen Lesungen.

Andrang an der „offenen Bühne“

Den Förderpreis „OpenNet“ der Literaturtage gibt es in dieser Form seit 2001. Davor gab es den „offenen Block“, in dem jedermann und jede Frau etwas Selbstgeschriebenes vortragen konnte. Vor zwei Jahren hat sich dafür die „offene Bühne“ herausgebildet, ein Wagon mit Schreibtisch und Mikrofon. Auf dem Klosterplatz können Autorinnen und Autoren ihre Texte öffentlich präsentieren. Auch einmal in Solothurn lesen, das wollen viele. Die Betreuerinnen der „offenen Bühne“, Nadia Brügger und Sara Wegmann, sagen, der Andrang sei hoch. Vor allem am Freitag und Samstag, als schönes Wetter war und die Leute an der Aussenbühne vorbeiflanierten und einfach mal stehen blieben. So mussten sie auch schon Leute abweisen, weil es zeitlich nicht mehr reichte. Die Schreibenden, die den Sprung auf die Bühne gewagt haben, reichten von der Schülerin bis zum Rentner. Vor allem Lyrik sei vorgetragen worden, aber auch Kurzprosa und Erzählungen. Nicht nur bei den Lesenden, auch beim Publikum ist das Format beliebt. Die Leute diskutieren meist noch lange über die gehörten Texte, meint Nadia Brügger. So ist nicht auszuschliessen, dass schon bald auf den Hauptbühnen von Solothurn die eine oder der andere Schreibende davon berichtet, wie sie oder er einst die ersten Schritte in die literarische Öffentlichkeit auf einer dieser drei Bühnen gewagt hat.

Der Geschichtenerzähler

Auf dem Zeitplan vor der Aussenbühne beim Landhausquai ist Robert Prosser mit seinem Roman Phantome angekündigt. Das Rednerpult jedoch ist leer. Das Publikum wird langsam nervös, hektisch spricht eine Mitarbeiterin der Literaturtage ins Telefon: „Robert, du hättest jetzt eine Lesung.“ Kein guter Start für den österreichischen Autor? Keineswegs, das Warten lohnt sich! Denn das Buch, das auf dem Tisch des Aussenpodiums liegt, bleibt zu: Der Autor rezitiert zwanzig Minuten lang aus seinem Roman. Auswendig. Robert Prosser spricht rhythmisch mit hartem, rollenden R. Seine Hände kreisen vor dem Gesicht, sie betonen jedes Wort.

In seinem Buch schildert Prosser den Jugoslawienkrieg und dessen Folgen in der heutigen Zeit. Sein Blick ist erhoben, er schaut direkt ins Publikum und erzählt vom verbotenen serbischen Dreifingergruss, vom Begräbnis eines dreifarbigen Pferdes, das vergiftet worden ist und der rechten Hand eines Cousins. Diese wurde in einem Massengrab in der Nähe von Srebrenica gefunden und sei ein Platzhalter geworden für die ganze Person.

Der Roman ist dreigeteilt: den ersten und letzten Teil bilden Monologe von einem Graffitikünstler und einem Kriegszeitzeugen. Unterbrochen werden sie von einem Bericht von Krieg, von Flucht und dem Aufbruch in ein neues Leben in Wien.

Nach zwanzig Minuten ohne einmal zu stottern oder aus dem Takt zu fallen, klatscht das Publikum den verdienten Beifall, der lange anhält. In den abflachenden Applaus hinein merkt Prosser noch an: „Ich habe zwei Namen verwechselt. Doch da ich zu Beginn den falschen nannte, wollte ich nicht mehr wechseln, um sie nicht zu verwirren. Nur dass Sie beim Lesen des Romans nicht überrascht sind.“ Den Roman lesen – das kann man nur jedem empfehlen.

Olivia Meier, Maya Olah

Unser Team in Solothurn: Maya Olah

Maya Olah interessiert sich, wie man in der Literatur über historische Begebenheiten oder Politik schreiben kann, ohne dass es journalistisch wird. Wo verläuft die Grenze zwischen der Literatur und dem dokumentarischen Schreiben? Zurzeit vertont sie ihr erstes Hörspiel und verfolgt deswegen die auditiven Veranstaltungen. Sie hat 2016 den Schreibwettbewerb der Solothurner Literaturtage gewonnen und möchte die aktuellen Gewinnertexte hören. Maya studiert deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft und Ethnologie in Zürich.