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Matthias Zschokke und Zora del Buono sitzen sich heute gegenüber bzw. nebeneinander im Dialog, dem offenen Format, in dem zwei Autoren – die sich vorher nicht kennen – ohne Moderation ein Gespräch führen. Voraussetzung ist, dass die beiden das jeweils neueste Buch des anderen gelesen haben. (Zschokke und del Buono hatten sich vorher erst einmal getroffen, und zwar bei einem kulturellen Anlass der Schweizer Botschaft in Berlin, an dem das schweizerdeutsche Wort „Chäsbrägu“ eine Rolle spielte.)

Del Buono beginnt nun, indem sie eine Seite aus Zschokkes neuem Buch „Die Wolken waren gross und weiss und zogen da oben hin“ vorliest und ihn anschliessend zu einem Aspekt befragt, der ihr in seinen Geschichten desöfteren auffällt: Körper, der Ekel vor dem Körper und die Lust am Ekel vor Körpern. Zschokke geht jedoch leider gar nicht auf die Frage ein, sondern eröffnet stattdessen einen längeren Monolog, indem er von seinen vorbereiteten Notizen abliest und von etwas ganz Anderem spricht.

Unter anderem erzählt er von dem „Page 99“-Test, den der englische Literaturkritiker Ford Madox erfunden hat (im deutschsprachigen Raum hat ihn mittlerweile das „Tell“-Magazin übernommen) und der besagt, dass man die Seite 99 eines – zur Lektüre beabsichtigten –  Buches aufschlagen und diese lesen soll, da sich dort (im Gegensatz zur ersten Seite oder dem Buchrücken) die wahre Qualität eines Buches eröffne. Zschokke bemerkt, dass dieser Test bei del Buonos Buch „Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt“ wunderbar funktioniert, man den Charakter des Buches wunderbar einschätzen könne – während der Test bei seinem eigenen Buch versage.

Das Gespräch kommt dadurch sehr schnell auf die Struktur eines Buches und den Plotaufbau eines Romans. Del Buono – als ausgebildete Architektin – geht stets mit sehr viel Augenmass an das Schreiben heran; man „brauche ja schliesslich auch einen Plan, um ein Haus zu bauen“. Zschokke bewundert ihre präzise Schreibarbeit; er selber starte von einem Grundplot, drifte dann aber plötzlich ab, was zur Folge hat, dass er im Nachhinein oft kürzen muss. Del Buono hingegen kürzt nie, sie habe noch nie einen Absatz von dem, was sie geschrieben hat, gestrichen. Stattdessen schreibe sie von Anfang an schon sehr reduziert, ganz nach dem Motto „Form follows function“.

Gekürzt werden musste auch das Gespräch der beiden, die offenbar noch lange hätten weiterdiskutieren können. Bevor die Moderatorin die Veranstaltung beendete, musste del Buono allerdings unbedingt noch das anscheinend tollste Wort in Zschokkes Roman vorlesen: „Durchgangssyndromverwirrung“.

„Der bedrohliche Glanz des Leidenschaftlichen“

„Ich stand vor ihm, konnte nicht mehr sprechen, sah nicht mehr seine Jugend, sondern steckte auf einmal wieder in meiner eigenen, wir waren gleich alt, gleich unerfahren, ich war verstockt und schüchtern, wollte gerade die Hand ausstrecken, da schwang plötzlich der Boden, mir war schwindelig, die Lampe flackerte, jemand kam auf der Brücke auf uns zu, ein Mann, wer war das bloß, einer vom College oder ein townie? Es war weit nach Mitternacht, ich drehte mich weg, wollte nicht erkannt werden, drückte mich an das Geländer, spürte das Holz an meiner Wange, es war absurd.“ Es ist dies eine der Szenen, die Zora del Buono im Landhaussaal an diesem Freitagnachmittag aus ihrem neuen Roman Hinter den Büschen, an eine Hauswand gelehnt (C.H. Beck, 2016) vorliest. In ihrem fünften Roman, der mit dem Anerkennungspreis der Stadt Zürich ausgezeichnet wurde, wagt sich del Buono gleich an zwei Themen, über die man nicht ohne Weiteres reden darf, „weil sie eigentlich nicht sein dürfen“. Schauplatz ist der Campus einer Universität an der Ostküste Amerikas im Sommer 2013. Die 50-jährige Vita Ostan gibt einen siebenwöchigen Journalismuskurs und verliebt sich in Zev Swartz, ihren begabtesten Studenten, der nicht halb so alt ist wie sie. In diesem Sommer enthüllt Edward Snowden, bald weltberühmt, das Ausmass der weltweiten Überwachungs- und Spionagepraktiken amerikanischer Geheimdienste. Noch nie scheint Politik so sehr in die Wohnzimmer der Bevölkerung einzudringen wie jetzt, und sie tut es auch ins Schulzimmer Vita Ostans – und spaltet die Lager: „Edward Snowden ist ein Held“, schliesst Zev sein Referat, den „bedrohlichen Glanz des Leidenschaftlichen“ in seinen Augen. „Edward Snowden ist ein Verräter“, entgegnet eine andere Studentin. Das Ineinandergreifen von Privatem und Öffentlichem inszeniert del Buono in diesem Roman auf raffinierte Weise: Wenn Vita Ostan darauf gefilzt wird, weil sie sich verdächtig gemacht hat, spiegelt sich das Grosse im Kleinen. Del Buono ist an diesem Freitagnachmittag gut gelaunt. Sie erzählt locker, aber engagiert und mit einer beinahe persönlichen Betroffenheit und scheut im Gespräch mit Moderatorin Valeria Heintges nicht vor den heiklen Themen zurück, die sie literarisch verhandelt hat.

In jenem politisch aufgeregten Sommer 2013 war auch die Autorin Zora del Buono in den USA und gab eine Sommerschool in Journalismus. Über Snowden wurde ihres Erachtens viel zu wenig diskutiert. „Wir finden es ja schon selbstverständlich, dass wir überwacht werden.“, meint del Buono und gibt fortan immer weitere autobiographische Parallelen preis: „Ich war empört, dass niemand empört war. Und da gab es einen Studenten, der auch empört war.“

„Ich wollte über uns reden, über die Unmöglichkeit des uns“, lässt Zora del Buono in einer weiteren Passage ihre Protagonistin denken. Doch an deren Statt spricht sie von Vladimir Nabokov und Thomas Mann. Del Buono verarbeitet den Diskurs, in den sich ihr Roman einreiht, gleich mit in ihren Text, obschon in verkehrter Ordnung. Das männlich dominierte Genre vom Klischee der Liebe zwischen einem älteren Professor und einer jungen Studentin mischt del Buono neu auf und bespricht auf unverbrauchte und ehrliche Weise dieses Verlangen und die Unvernunft: „Das was fasziniert, hat mit der eigenen Jugend zu tun, wie man selber war und wie man sein möchte.“

„Die Frau ab 40 wird als sexuelles Wesen gar nicht mehr wahrgenommen. Man sagt, „sie sieht ja noch gut aus für ihr Alter“, anstatt einfach „Sie sieht gut aus.“. Der Körper der Männer hingegen ist seit jeher weniger wichtig als der weibliche. In unserer Gesellschaft ist die Beziehung zwischen einem älteren Mann und einer jüngeren Frau gesellschaftstauglich, andersherum ist es schwierig und wird oft im selben Atemzug mit dem Ödipuskomplex genannt. Dabei: Was ist so schlimm daran? Was verwerflich am Bedürfnis nach etwas Mütterlichkeit?“, fragt del Buono ins Publikum.

Mit Selbstironie, Leidenschaft und sehr viel Ehrlichkeit erzählt Zora del Buono an diesem Nachmittag von den Grenzen des Privaten und Öffentlichen und deren zunehmende Auflösung. Wie weit darf Überwachung gehen? Und um welche Sicherheit handelt es sich, wenn sie der Preis dafür sein soll? Die Lust das Buch zu lesen, hat sich auf jeden Fall eingestellt.