Das Unsichtbare sichtbar machen

Barbara Piatti, Andreas Simmen und Tim Krohn diskutierten unter der Moderation von Verena Stössinger bei der Podiumsdiskussion zur heissen Mittagsstunde am letzten Tag der Solothurner Literaturtage über das Thema „Schweiz schreiben“. Dabei ging es um die Literaturgeographie, eine jüngere Richtung der Literaturwissenschaften, die einen Bezug zwischen Be- und Erschriebenem und der geografischen Wirklichkeit schaffen möchte. Da stellt sich die Frage, wie aussagekräftig eine solche Wissenschaft sein kann. Und wie lässt sich überhaupt eine Topografie der Schweiz sichtbar machen?

Piatti – die an der ETH das Forschungsprojekt „Ein literarischer Atlas Europas“ leitete – beginnt die Diskussion mit einem Input über dieses neue Forschungsfeld. Es geht bei der Literaturkartographie darum, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Dabei wird versucht, das zu zeigen, was nicht konkret vor Ort gesehen und erlebt werden kann. Dazu gehören alle unsichtbaren kulturellen Bestandteile eines Ortes, die zu seiner Charakterisierung beitragen, aber ohne Wissen davon unsichtbar bleiben. Die reale Landschaft und die literarische Erzählung sollen also deutbar gemacht werden. Piatti möchte die literarischen Schauplätze kartieren, indem literarische Texte auf Karten verortet werden und dadurch einen literarischen Atlas Europas schaffen. Interessant sind dabei die Ballungszentren, die „Hotspots“, an denen sich die Literatur in der Schweiz konzentriert. Dazu gehören vor allem die Innerschweiz, der Genfersee, Graubünden und das Berneroberland.

Piatti betreibt die Literaturgeographie zurzeit auch auf eine spielerische Art. So hat sie mit drei anderen Frauen (Christiane Franke, Yvonne Rogenmoser und Christina Ljungerg) den Verlag imaginary wanderings press gegründet, der literarische und kulturelle Landschaften zugänglich macht. Über eine Box mit verschiedenen Modulen wird ein Zugang zu unterschiedlichen Landschaften eröffnet (so können z.B. mit einer Papiertaschenlampe Geschichten im „Dunkeln des Gotthards“ gelesen werden).

Die Innerschweiz ist europaweit die literarisch am dichtesten beschriebene Naturlandschaft. So ist auch Luzern in imaginary wanderings press nr. 1 vertreten, gestaltet als edle Theaterkulisse – haben doch schon Keller und Tolstoi betont, dass, wenn man in Luzern ankomme, sich wie in einer Loge fühle. Die Verfasserin dieser Zeilen, gebürtige Luzernerin, kann dem natürlich nur zustimmen, hat sie doch selbst vor einigen Jahren ein Buch über den Luzerner Hausberg, den Pilatus, verfasst. Als literarischer Reiseführer durch die Innerschweiz empfiehlt sich dennoch eher Piattis jüngstes Buch „Es lächelt der See – Literarische Wanderungen in der Zentralschweiz“ oder sich an die von Ursula Bauer und Jürg Frischknecht im Rotpunktverlag veröffentlichten Wanderführer halten. Letztere werden immer auch von einer ganz bestimmten raumphilosophischen Haltung getragen: Das Wandern soll tatsächlich die Landschaften als einen von Menschen mitgestalteten Lebensraum sichtbar und begreifbar machen.
Um Menschen geht es auch bei Krohn, der auf die Frage „Was wollen sie mit diesen Landschaften in ihren Geschichten erreichen?“ unumwunden zugibt, dass er sich so viel jeweils gar nicht überlegt, und er primär von den Menschen ausgeht – und von der Frage, wie die Landschaften auf sie einwirken.
Zum Schluss liest Krohn noch einen Auszug aus seinem 2015 erschienenen Buch „Nachts in Vals“ vor. Die eindrücklichen Bewegungen in der Landschaft und die intertextuellen Bezüge eröffnen einen mehrdimensionalen Raum, was schon Umberto Eco als „die Enzyklopädie des Lesens und des Lesers“ beschrieben hat und damit die „Filterfunktion der Literatur“, die Wahrnehmung einer Landschaft durch einen literarisch subjektiven Filter adressiert.

Ganz zum Schluss kommt das Gespräch noch auf das grassierende Phänomen des Literaturtourismus. Piatti betont, dass wir an einem Ort das Unmögliche par excellence suchen. Auf literarischen Spuren zu reisen geht daher oft mit einer Enttäuschung einher. Die Landschaft kann dabei jedoch das Portal in eine fiktive Welt sein, sozusagen der einzige Aspekt der Geschichte – im Gegensatz zu den Figuren und Handlungen –, der sich ein Stück weit erschliessen lässt und an dem sich das Imaginäre und das für uns Erkennbare zu vermengen beginnen.

A long way down

Feierabend, das Pressebüro schliesst für heute die Pforten. Morgen früh um 10 geht es weiter, dann u.a. mit einem ausführlichen Gespräch mit Michael Fehr, der Preisverleihung an Terézia Mora und dem weiten, weiten Feld „Schweiz schreiben“.

Auf weitem Feld findet sich übrigens auch wieder, wer der gern gemachten Angabe folgt, das Stadion liege etwa fünfzehn Minuten von der Altstadt („einfach die Aare runter“) entfernt. Nach besagter Viertelstunde trafen zumindest wir auf eine freundliche Hündelerin, die uns bei strammem Schritt zwanzig weitere Minuten prophezeite. Innerhalb derer wir mit dem Solothurner Freibad den einzigen Ort passierten, der noch bevölkerter war als die Altstadt. Und kurz vor deren Ablauf wir immerhin eine staubige Kreuzung erreichten. Als der Dunst des vorbeifahrenden Rollators sich gelegt hatte, eine Art Fata Morgana im Juraschatten. Masten, Zäune, niedrige Baracken. Vielleicht ein Stadion? Oder doch eine Hühnerfarm? Was auch immer es war, es war weit weg. 34 Grad in der Sonne, 35 Minuten zurück. Zu Tim Krohns Lesung kamen wir gerade noch pünktlich, Carlo Spillers Geschicke mit der Autoren-Nati mussten wir im Buchjahr-Blog verfolgen. Auf Google, später, sah das Ganze dann doch kürzer aus. Nur „einfach die Aare runter“ lag dabei nicht drin. Fair enough, um es einmal mit Tom Kummer zu sagen. Der übrigens morgen noch in Solothurn zu hören sein wird. Sofern er nicht mit Göldin im Freibad schwänzt.