Vom Leben in einem Spalt

Ein wenig nervös erscheint Flurin Jecker zur Lesung seines Debütromans „Lanz“ in der Säulenhalle. Er: 26-jährig; das Publikum mehrheitlich doppelt so alt; der Roman ein Buch über einen pubertierenden Jungen. Ob diese Kombination funktionieren kann? Sie kann! Lanz‘ Jugendsprache, in der die Fliegen und Kühe herumlatschen und alles ULTRA dramatisch und ULTRA schlecht ist, zieht einem sofort in die Untiefen eines Teenager-Universums. Das Publikum lacht und denkt dabei wohl auch an die eigene verkorkste Jugendzeit zurück. Auch Flurin Jecker erlaubt sich bei einigen Passagen zu lachen, nun wissend, dass er das Publikum in der Tasche hat. Einziger Kritikpunkt, wenn man Lanz hört, ist, dass seine Gedankensprünge von Erzählungen über die Kindheit wieder zurück zur Realität nicht immer ganz klar sind. Ob es daran liegt, dass er in Blogform schreibt, und ein Blog eben zum Selberlesen gedacht ist?

Moderatorin Karin Schneuwly möchte denn auch von Jecker wissen, was ihn denn so an diesem Teenie-Alter fasziniert habe, dass er gleich seine Abschlussarbeit des Schweizerischen Literatur-Instituts in Biel darüber geschrieben habe. Jecker meint, er habe einfach begonnen zu schreiben. Irgendwann habe er dann gemerkt, dass seine Hauptfigur ziemlich viel zu sagen hätte, und dass diese eben noch sehr jung sei.

In diesem Alter verlässt man seine Kindheit, man verliert die Geborgenheit und enge Verbindung zu den Eltern, aber hat nichts womit man diese Lücke füllen kann. Man geht ja immer noch zur Schule; aber man lebt wie in einem Spalt – das Alte ist vorbei, das Neue aber noch nicht da.

In der anschliessenden Signierstunde zeigt sich, dass Flurin Jecker ein sympathischer junger Autor ist, der noch immer von seinem eigenen Erfolg überrascht und überwältigt ist und sich deshalb über jeden einzelnen freut, der seinen „Lanz“ mit einer persönlichen Widmung nach Hause tragen möchte.

 

Messerscharfe Mundakrobatik

Drei Performer mit je einem eigenen Stil, die sich aber alle in der Mundart-Szene bewegen. Eine Rapperin, die energiegeladen nach Reimen sucht, um Grenzen aufzubrechen; ein junger Texter, der sich den Schaden der Neophyten in der Schweiz zu Nutzen macht für seinen literarischen Werdegang; und eine Autorin, die das Sprachenwirrwarr mag, von sich aber behauptet, die Sprachen nicht gut zu beherrschen – das war SRF Schnabelweid «spoken word», live aus der Cantina del Vino in Solothurn. Moderatorin Monika Schärer stellte gezielt Fragen und Mundart-Redaktor Markus Gasser versuchte die Gäste Big Zis, Emanuel Bundi und Ariane von Graffenried sprachlich aus der Reserve zu locken, worauf sich diese aber nicht immer einliessen.

Big Zis’ Performance war geprägt von den klaren Rhythmen und wechselnder Stimmlage und beeindruckte durch schnelle Reime und Wortwiederholungen. Gasser meint dazu: «In diesen Wörtern kann man sich treiben lassen, sie sind mehr als nur Spielerei, denn es sind ernste Themen, die angesprochen werden.» Der Text lebt genau von diesen Bewegungen und Veränderungen und nicht vom einzelnen Wort. «Ich mag es gar nicht, wenn man diese Sachen so genau auseinandernimmt, denn dann bleibt nicht mehr viel übrig», ergänzt sie lachend. Dies hat leider auch zur Folge, dass der Zuschauer nicht jede Anspielung nachvollziehen kann, da das Tempo der vermittelten Gedanken unglaublich schnell ist. In dem Moment, indem sie von der beschwerlichen Planung des neuen Albums spricht, fliegt eine Taube aus dem hinteren Barraum zielstrebig durch die offene Tür nach draussen. Ob dies wohl die Muse war, scherzt Schärer.

Bundis Text in nicht ganz reinem Berndeutsch, wie Gasser betont, nimmt den Zuhörer mit zu einer Begegnung mit Zipfel, der im Zivildienst Neophyten zupft mit Asylanten, die dadurch lernen, wie mit Eindringlingen umgegangen wird. Was erstmal ernsthaft klingt, wird durch Bundis Performance zu einem amüsanten Erlebnis. Laut Gasser bleibt denn auch die Frage offen, wer denn jetzt wem wodurch schade und ob man darin einen gewissen Rechtspopulismus lesen könne. Bundi umschifft die Frage und betont das Positive: «Die Neophyten sind nützlich für meinen literarischen Werdegang, PUNKT.» Was wieder für einige Lacher sorgt.

Weiter über den Schweizer Tellerrand wagt sich Ariane von Graffenried hinaus. Sie trägt Texte vor, die von Fernweh und fremden Welten durchdrungen sind, und die durch wortgewandte Wendungen in Deutsch, Mundart, Französisch und Italienisch imponieren. Ihr gefalle der Klang der verschiedenen Sprachen, durch die auch immer wieder neue Reimmuster entstehen. Durch die Globalisierung vermische sich alles neu. Gasser deutet darauf hin, dass verschiedene Traditionen in ihren Texten vorkommen, z.B. Sätze von Mani Matter. Dürfe man Tradition in Häppchen servieren? «Man darf alles», ist von Graffenrieds eindeutige Antwort darauf.

Auf die Schlussfrage, was die drei denn von Trauffer und seiner Art der Mundart-Performance in «Heiterefahne» halten, überschlagen sich die Antworten. Big Zis findet es problematisch, die eigene Heimat derart zu idealisieren; von Graffenried bezeichnet Trauffers Musik als folkloristischen Schlager, der nicht zu vergleichen ist mit dem, was sie machen; und Bundi plädiert dafür, den Fans diese Illusion der schönen Heimat zu belassen. Hätte Monika Schärer die Diskussion nicht unterbrochen, wäre sie wohl noch deutlich explosiver geworden. Sie schliesst auch mit den Worten: Wir sind nun in einem kleinen Tümpel der spoken-word-Welt geschwadert und haben spannende Einblicke in das Schaffen der Performer erhalten. Und sie hat Recht, dies war ein Ausschnitt, der aufzeigt, wieviel es noch zu diskutieren und entdecken gibt, wie beispielsweise die musikalisch literarische Performance von Big Zis mit Göldin und Narcisse  am Samstag oder die Kurzlesung von Emanuel Bundi am Sonntag 

Simone Ullmann & Pia Weidmann

Kinder machen mit!

Was macht man als Eltern, wenn das Kind nicht einschlafen kann? Eine Geschichte könnte helfen. Dana Grigorcea liefert mit ihrem Bilderbuch „Mond aus!“ eine Einschlafgeschichte mit Charakter. Der Wolf, der nicht einschlafen kann, wird mit scharfen Zähnen dargestellt, die Bilder sind düster in dunklen Farben gemalt. Eher ungewöhnlich für ein Kinderbuch. Eine ganze Reihe von Verlagen lehnte erstmal ab, wie die Autorin freimütig erzählt. Aber den Kindern scheint es zu gefallen. Das beweisen die Anekdoten, welche die Autorin immer wieder in ihre Erzählung einfliessen lässt und damit das Publikum zum Lachen bringt. Denn Kinder sind ein ganz anderes Publikum als Erwachsene. Kinder fiebern mit und sind Teil der Geschichte. Wenn in der Geschichte ein Frosch quakt und den Wolf dadurch am Schlafen hindert, beginnen auch die Kinder zu quaken.

Mit dem Bilderbuch sollen die Kinder zur Empathientwicklung angeregt werden, aber in erster Linie soll es sie natürlich zum Schlafen bringen, denn auch der Wolf findet am Schluss einen Weg, um einzuschlafen. Und wenn der Wolf schläft, dabei aber die Grillen immer noch wach sind, dann soll das nichts anderes bedeuten, als, dass die Eltern auch wach sein dürfen, wenn das Kind schläft.

„Einer welken Blume gleich“

Intim, bitterernst und doch humorvoll – so wird Francesco Micielis Erzählung „Hundert Tage mit einer Grossmutter“ in Solothurn angekündigt. Die Angst des Autors, am frühen Morgen allein in der Säulenhalle zu stehen, hat sich nicht erfüllt. Die Reihen sind gut besetzt. Zu hören gibt es die Geschichte von Mario.  Der junge Mann verbringt die letzten Tage seiner Grossmutter mit ihr, kümmert sich liebevoll um sie und träumt mit ihr von vergangenen Zeiten. Immer wieder fühlt er sich in seine Kindheit zurückversetzt, als sich die Grossmutter um ihn sorgte. Jetzt liegt es an ihm, sich um sie zu kümmern. Einer welken Blume gleich liegt die Grossmutter da, im Sterben wie ein junger Vogel und doch noch lebend.

Wenn Mario ihr „Blowing in the Wind“ auf der Gitarre vorspielt, seufzt sie und schwelgt sanft lächelnd in Erinnerungen.

Obwohl die Erzählung von einem ernsten Thema handelt, muss das Publikum bei einigen Passagen auch einmal schmunzeln. Denn die Grossmutter hat trotz alltäglicher Mühen und Bettlägrigkeit ihren Humor nicht verloren. Es scheint, als hülfen Mario und sie sich gegenseitig, mit der Thematik des Sterbens klar zu kommen. Francesco Micielis rauhe Stimme verleiht der Lesung den nötigen Ernst. Ab und zu stolpert er über seine eigenen Sätze und bemerkt humorvoll:

„Ich brauche eine neue Brille.“

Micielis Angst, mit seiner Lesung auf wenig Interesse zu stossen, hat sich als unbegründet erwiesen. Das Thema der sterbenden Grossmutter scheint viele zu bewegen. Auch mich. Am Ende gehen viele Bücher über den Büchertisch. Eines landet auch bei mir.