Das Dorf. Ein Roman

Dass das Genre „Roman“ seinem jüngsten Buch „Dr Chlaueputzer trinkt nume Orangschina“ mehr oder weniger von aussen aufgenötigt worden sei, räumt Ernst Burren unverhohlen ein. Um Rollenmonologe handle es sich eigentlich, sechs Personen aus drei Generationen, gruppiert um einen Brunnentrog, in dem eine rothaarige Frau liegt und schreiend ihren Vater des Missbrauchs bezichtigt. Ist das ein Roman?

Es gibt Gründe, diese Frage zu bejahen, wenn man darauf reflektiert, wessen Roman es sein könnte. Das Subjekt von Burrens (im vergangenen Jahr mit einem der Schweizer Literaturpreise ausgezeichneten) Text, ja: das Subjekt von Burrens Texten überhaupt, ist das Dorf. Die Stimmen all seiner Figuren tragen immer nur zu einer Rede der Gemeinschaft bei, eine Gemeinschaft, die langsam verdämmert und die in den Viten ihrer Mitglieder – zu denen auch die Tiere zählen, deren Leben und Wirken man auch erinnert – auch immer das eigene Leben und Überleben sich vor Augen stellt. Nie ist das sentimentalisch, nirgends ist das Idylle: Der Rückzug auf das Dorf bleibt stets gebrochen durch das Wissen, dass diese Welt kleiner und kleiner wird. Die Demenz frisst die Erinnerungen, die Stadt (und bereits Solothurn ist hier Gegenpol) die Jugend, die Beizen schliessen eine nach der anderen, die Vereine darben dahin. Man lebt hier kurz vor dem Ende.

Und so ist Ernst Burrens Prosa dann auch immer eine Suche nach Refugien für eine bedrohte Lebensform. Ein solches Refugium ist vor allem anderen die Sprache. Die Mundart besitzt hier – und das in bester Gotthelfscher Tradition – tatsächlich einen poetologischen Wert. Weder verdankt sie sich der Anbiederung an ein spezifisches Lesepublikum noch der Begeisterung für Sprachspiel und Verrätselung. Optiert wird für sie aus einer Notlage heraus; der Solothurner Dialekt ist der Ast, an dem sich der Ertrinkende über Wasser hält, mag er noch so brüchig sein – man hat keine Wahl. Wie Burren im Gespräch mit Franco Supino ausführt, ist er 1969, nach einer Lyriklesung im Stadttheater Bern und vor allem inspiriert durch Kurt Martis „Rosa Loui“ (1967) zum Schreiben in Mundart gekommen; zu einer Zeit also, in der eine solche Entscheidung noch widerständig war, in der sie dem Autor aber bereits zwingend erschien. Der Dialekt ist Teil von Burrens Verlustgeschichte, er ist noch übrig und bleibt – aber es ist ein letzter Widerstand.

Was kommt danach? Es gibt in „Dr Chlaueputzer trinkt nume Orangschina“ eine bemerkenswerte Konfrontation der Dorfbewohner mit dem Schicksal der Fliehenden. Man steht da just auf der Grenze, auf der sich der Populismus Bahn bricht: Die autochthonen Originale in ihren ererbten Häusern und Höfen gegen die namenlosen Dutzendmenschen in ihren Zeltstädten. Und die Klugheit von Burrens Text zeigt sich genau hier: Nicht naiv menschelnd, sondern analytisch erkennen seine Insassen, dass sie denjenigen, deren Welt zerbrochen wurde, doch sehr ähneln. Eine ehrliche, keine altruistische Empathie zeigt sich da: Die Fremden sind uns unheimlich, weil sie schon wissen, was wir sind. Die Dörfer stehen noch, sie brennen nicht, aber Wurzeln haben auch sie keine mehr. Noch halten sie sich an den Geschichten fest, an einem Trauma im Brunnentrog, am Staunen über Zirkustiere und Weltreisen, an den Spuren, die ihre vom Abdecker abgeholten Rösser hinterlassen. Und wenn all das vorbei ist, dann bleiben noch Ernst Burrens Bücher.

 

En attendant Göldin

Hüt heissts Rap-Showdown – HipHop trifft uf Literaturfestival – Göldin und Big Zis! Nume Göldin’s missing… abr keis Problem, d’Rapperin Big Zis bewiist Flexibilität und improvisiert: Tanz de Räge! Du treisch sLache als Uni-uni-uniform. Big Zis schaffts sbildete und au eher ältere Publikum zfasziniere mit ihrer Rhythmusgwalt, Satzmelodie und Wortvielfalt. Abr ned nur das, sie stellt sich au de Frage usem Publikum wo zerst no zögerlich aber denn immer muetiger chömed.

Chauvinismus im Rap? Das isch hüt ned viel anders wie früener, es git di einte und di andere. Es gaht drum sich zverkaufe mit Videoclips. Grad au Fraue, wo ihre Sex verkaufed unds Befreiig nenned, isch fürd Big Zis en zweischniidigi Sach, aber Manneärsch verkaufed sich halt ned. Mit de Klischees im Hiphop het sie scho vo Afang a gern gspielt und abgrechnet. De Rap het sie azoge – de Sexismus, Chauvinismus und und Neoliberalismus findet sie unmögli. Hüt het sie mit ihrem Rap en eigeti Welt gschaffe wo sie di eigentlich Szene gar nüm so intressiert.

Wie entstönd ihri Text? Schriftlich und ned mündlich zum Erstuune vom Publikum. Und stets mit emne Bispiel a Musigg als Basis, nachher wachst das ganze fast scho organisch zäme. Ihri Text treit sie komplett uswendig vor. Ihres Gedächtnis seg wiene Lagerhalle, alles schön in Regalgstell sortiert. Sie bereuts ned chönne Schlagzüg und Gitarre zspiele, und somit ned komplett unabhängig zsi vo andere, aber grad das Zämespiel machts wertvoll. Für ihri „Limitiertheit“ isch sie au dankbar.

Wie isches für sie Teil vomne etablierte Literaturfestival zsi? En Ritterschlag, isch die ironischi Antwort vo de Big Zis. Endlich seg sie acho i de Hochkultur, sowie ja au de Bob Dylan de Nobelpriis bercho het. Aber die einte wüsseds villech no: dBig Zis isch bereits vor drü Jahr am Solothurner Literaturfestival uftrete.

D’Sympathie vom Publikum het dBig Zis mit ihrer direkte Art und ihrer Ironie scho lang gunne. So lacht sPublikum au, wo sie meint, sie heg doch iz de doppelti Lohn verdient, da de Göldin ja uf sin Teil verzichtet. Zum Abschluss bringt sie no es paar Bispiel us ihrne früenere Raps. Si git debi Acht, ned die zpräsentiere wo si hüt Abig am 6i no zum Beste wird gäh. Und mit es bizeli Glück taucht au de Göldin für die musikalisch literarischi Performance uf.

 

Messerscharfe Mundakrobatik

Drei Performer mit je einem eigenen Stil, die sich aber alle in der Mundart-Szene bewegen. Eine Rapperin, die energiegeladen nach Reimen sucht, um Grenzen aufzubrechen; ein junger Texter, der sich den Schaden der Neophyten in der Schweiz zu Nutzen macht für seinen literarischen Werdegang; und eine Autorin, die das Sprachenwirrwarr mag, von sich aber behauptet, die Sprachen nicht gut zu beherrschen – das war SRF Schnabelweid «spoken word», live aus der Cantina del Vino in Solothurn. Moderatorin Monika Schärer stellte gezielt Fragen und Mundart-Redaktor Markus Gasser versuchte die Gäste Big Zis, Emanuel Bundi und Ariane von Graffenried sprachlich aus der Reserve zu locken, worauf sich diese aber nicht immer einliessen.

Big Zis’ Performance war geprägt von den klaren Rhythmen und wechselnder Stimmlage und beeindruckte durch schnelle Reime und Wortwiederholungen. Gasser meint dazu: «In diesen Wörtern kann man sich treiben lassen, sie sind mehr als nur Spielerei, denn es sind ernste Themen, die angesprochen werden.» Der Text lebt genau von diesen Bewegungen und Veränderungen und nicht vom einzelnen Wort. «Ich mag es gar nicht, wenn man diese Sachen so genau auseinandernimmt, denn dann bleibt nicht mehr viel übrig», ergänzt sie lachend. Dies hat leider auch zur Folge, dass der Zuschauer nicht jede Anspielung nachvollziehen kann, da das Tempo der vermittelten Gedanken unglaublich schnell ist. In dem Moment, indem sie von der beschwerlichen Planung des neuen Albums spricht, fliegt eine Taube aus dem hinteren Barraum zielstrebig durch die offene Tür nach draussen. Ob dies wohl die Muse war, scherzt Schärer.

Bundis Text in nicht ganz reinem Berndeutsch, wie Gasser betont, nimmt den Zuhörer mit zu einer Begegnung mit Zipfel, der im Zivildienst Neophyten zupft mit Asylanten, die dadurch lernen, wie mit Eindringlingen umgegangen wird. Was erstmal ernsthaft klingt, wird durch Bundis Performance zu einem amüsanten Erlebnis. Laut Gasser bleibt denn auch die Frage offen, wer denn jetzt wem wodurch schade und ob man darin einen gewissen Rechtspopulismus lesen könne. Bundi umschifft die Frage und betont das Positive: «Die Neophyten sind nützlich für meinen literarischen Werdegang, PUNKT.» Was wieder für einige Lacher sorgt.

Weiter über den Schweizer Tellerrand wagt sich Ariane von Graffenried hinaus. Sie trägt Texte vor, die von Fernweh und fremden Welten durchdrungen sind, und die durch wortgewandte Wendungen in Deutsch, Mundart, Französisch und Italienisch imponieren. Ihr gefalle der Klang der verschiedenen Sprachen, durch die auch immer wieder neue Reimmuster entstehen. Durch die Globalisierung vermische sich alles neu. Gasser deutet darauf hin, dass verschiedene Traditionen in ihren Texten vorkommen, z.B. Sätze von Mani Matter. Dürfe man Tradition in Häppchen servieren? «Man darf alles», ist von Graffenrieds eindeutige Antwort darauf.

Auf die Schlussfrage, was die drei denn von Trauffer und seiner Art der Mundart-Performance in «Heiterefahne» halten, überschlagen sich die Antworten. Big Zis findet es problematisch, die eigene Heimat derart zu idealisieren; von Graffenried bezeichnet Trauffers Musik als folkloristischen Schlager, der nicht zu vergleichen ist mit dem, was sie machen; und Bundi plädiert dafür, den Fans diese Illusion der schönen Heimat zu belassen. Hätte Monika Schärer die Diskussion nicht unterbrochen, wäre sie wohl noch deutlich explosiver geworden. Sie schliesst auch mit den Worten: Wir sind nun in einem kleinen Tümpel der spoken-word-Welt geschwadert und haben spannende Einblicke in das Schaffen der Performer erhalten. Und sie hat Recht, dies war ein Ausschnitt, der aufzeigt, wieviel es noch zu diskutieren und entdecken gibt, wie beispielsweise die musikalisch literarische Performance von Big Zis mit Göldin und Narcisse  am Samstag oder die Kurzlesung von Emanuel Bundi am Sonntag 

Simone Ullmann & Pia Weidmann