Autorengefängnis Türkei – zum Zweiten

Die Türkei ist das Land mit den meisten inhaftierten Journalisten und Autoren der Welt.
Die Lage für Schriftsteller und Medienschaffende in der Türkei ist überaus kritisch. Verdeutlicht wurde dies dem Publikum der gestrigen PEN-Gastveranstaltung zur Einführung anhand des Faktums, dass nach dem Putschversuch im letzten Juli 150 Medieninstitutionen geschlossen und über 700 Presseausweise annulliert worden sind. Der PEN ist eine Organisation, die Literatur fördert und die freie Meinungsäusserung verteidigt. Das Versprechen der Veranstaltungsbeschreibung, über die „Wichtigkeit für den Einsatz für die Freiheit des Wortes“ zu diskutieren, wurde aber bedauerlicherweise nicht eingelöst. Durch die Lesung von Ausschnitten aus dem Werk verschiedener AutorInnen wollten die Veranstalter zum Ausdruck bringen, was das Land umtreibe. Den ausgewählten AutorInnen war gemein, dass sie aufgrund ihres Schreibens alle verfolgt oder gar inhaftiert wurden.

Die literarischen Kostproben wurden mit Thomas Sarbacher von einem wunderbaren Leser serviert. Man kennt den in Zürich lebenden Schauspieler wohl am ehesten von seinen Auftritten im „Tatort“; in den vergangenen Jahren hat er sich jedoch auch immer wieder als Vorleser  engagiert. Auch am gestrigen Abend vermochte seine rauchige Stimme den Stoffen die nötige Schwere zu verleihen.

Moderiert wurden die Veranstaltung von Alice Grünefelder und Yusuf Yeşilöz, die die Kurzlesungen jeweils mit (sehr dichten) Kurzbiographien und historischen Kontextualisierungen einleiteten. Leider erschwerte es das enorme Vortragstempo, den Einzelbeiträgen zu folgen, sofern man nicht schon zuvor mit den AutorInnen und ihrem Werk näher vertraut gewesen war.

Darüber, wie Schreibende mit der gegenwärtigen politischen Lage umgehen oder wie ihre Arbeitsrealität aussieht, erfuhr man also leider nichts. Die Veranstaltung regte aber auf jeden Fall die Neugierde an und machte Lust auf mehr – sei es auf Vertiefungen ins Historische, ins Politische oder eben direkt ins Literarische.

Bürgerrechte für literarische Figuren?

Das Gespräch über Lukas Bärfuss und seinen „Hagard“ fällt zugunsten einer ausgedehnten Lesung eher knapp aus. Das Übliche: die zu grosse Geschichte, die Photonenwogen, das Farbenspiel, die Kämpfe, die niemals tödlich enden. Neues: der Speichelfaden, das Gezücht aus der Kreativbranche, der monumentale Hintern. Mehr als sonst zeigt Bärfuss auch das komische Gesicht seines Textes und demonstriert, dass ein leidenschaftliches Vortragen auch umfangreichen Leseauszügen grossen Anklang im Publikum verschaffen kann – der Mann weiss, wie es auf der Bühne läuft.

Eine kurze Diskussion wirft die vor wenigen Stunden bereits im Podium angerissene Frage wieder auf: Woher nimmt der Autor das Recht, über die von ihm erschaffenen Figuren zu verfügen? Wo Jonas Lüscher keine Skrupel kennt und mit den Kindern seines Geistes tut, was ihm beliebt, äussert Bärfuss moralische Bedenken. Der Autor tritt als Schöpfer in eine Verantwortung. Man bringt seine Figuren in Not und verführt sogar andere Menschen, die Leserschaft, zum Beiwohnen peinlicher Taten, privater Angelegenheiten und intimer Gedanken. Als Bühnenautor, verbildlicht Bärfuss, sei er oftmals vor die Situation gestellt, dass seine Figuren zu solchen aus Fleisch und Blut werden, zu Menschen, die Unangenehmes verkörpern müssen – Unangenehmes, das er erfunden hat, wofür er verantwortlich ist. Man müsse einen guten Grund haben, wenn man jemandem so etwas antut.

Dass fiktive Figuren über reale moralische Rechte verfügen, bleibt sicher zweifelhaft, aber dass sie in der Interaktion mit ihrem Publikum in eine soziale Verantwortung treten und im Gefüge der Gesellschaft oft wie reale Entitäten funktionieren, scheint ein beachtenswerter Gedanke. Nicht zuletzt ist es eine alte Frage: So spricht bereits Kant über die Verrohung des Menschen bei der Misshandlung menschenähnlicher Wesen, und auch in der aristotelischen Poetik finden sich Normen zum Schicksal erfundener Seelen. Diese Fragen werden die Literatur folglich noch über die Saison hinaus zu beschäftigen wissen.