„Hier geschieht etwas.“

Der Plan der Veranstalter lautet so:

Skriptor – Textwerkstatt: Autorinnen und Autoren kommen zur Textarbeit zusammen und diskutieren unveröffentlichte Texte. Dabei wird sichtbar, was sich neben der solitären Schreibarbeit zusätzlich hinter einem literarischen Text verbergen kann: eine Grosszahl an Entscheidungen, die im Gespräch reflektiert und gefällt werden. Zum Schluss kann sich das Publikum einbringen.

Die Szene am Samstagnachmittag, Gluthitze, gestaltet sich wie folgt: Ein unveröffentlichter Text von Barbara Schibli, Korobeiniki. Es diskutieren Martina Clavadetscher und Flurin Jecker, deren Erstlinge in diesem Jahr erschienen sind, Francesco Micieli, Jeckers Ex-Mentor am Literaturinstitut Biel, Ulrike Ulrich und Daniela Bär. Donat Blum moderiert.

In Schieblis Text treffen wir auf eine russische Frau, die doppelsichtig ist. Das eine Auge schielt, „es ist verfault“. Ein Kommissar, vor dem sie sich fürchtet, ihn aber auch verführen will, führt eine Studie durch und macht Kreuze.

Zentral ist ein Gameboy, auf dem „Tetris“ gespielt wird, jenes in „Gameboy“-Zeiten beliebte Spiel mit herabfallenden Formen, bei dem keine Lücken entstehen dürfen.

Nach der Lesung der Autorin meldet sich zunächst die Zürcher Autorin Ulrike Ulrich zu Wort. Sie rühmt Schiblis Sprachkraft, die „Tetris-Welt“ sei sehr schön kreiert, man löse sich darin auf als Leser, man falle sozusagen mit den Würfeln zusammen. Die Würfel seien aber noch nicht ganz angekommen, dem Text fehle es noch an Festigkeit.

Inwiefern ein solches Mass an Irritation erlaubt sei, wird gefragt, und ob es dem Text diene.

Micieli findet viele Stellen, an denen „etwas geschieht“.

Jecker wünscht sich mehr Glaubhaftigkeit, er glaubt dem Kommissar nicht, glaubt der Lückenlosigkeit nicht, fragt, wo das alles hinführe.

Bär, Ulrich und Micieli unterhalten sich darüber, ob der Text gekürzt oder verlängert werden sollte.

Zum Ende der 90 Minuten, in denen der Kommissar überflüssig geworden, die Wünsche der Autoren geäussert und verschiedene Vorstellungen von der „Substanz“ des Textes entworfen und verworfen worden sind, kann „Tetris“ als Metapher für die Stimmung im Textor-Raum verwendet werden. Irgendwie lückenlos.

„Einer welken Blume gleich“

Intim, bitterernst und doch humorvoll – so wird Francesco Micielis Erzählung „Hundert Tage mit einer Grossmutter“ in Solothurn angekündigt. Die Angst des Autors, am frühen Morgen allein in der Säulenhalle zu stehen, hat sich nicht erfüllt. Die Reihen sind gut besetzt. Zu hören gibt es die Geschichte von Mario.  Der junge Mann verbringt die letzten Tage seiner Grossmutter mit ihr, kümmert sich liebevoll um sie und träumt mit ihr von vergangenen Zeiten. Immer wieder fühlt er sich in seine Kindheit zurückversetzt, als sich die Grossmutter um ihn sorgte. Jetzt liegt es an ihm, sich um sie zu kümmern. Einer welken Blume gleich liegt die Grossmutter da, im Sterben wie ein junger Vogel und doch noch lebend.

Wenn Mario ihr „Blowing in the Wind“ auf der Gitarre vorspielt, seufzt sie und schwelgt sanft lächelnd in Erinnerungen.

Obwohl die Erzählung von einem ernsten Thema handelt, muss das Publikum bei einigen Passagen auch einmal schmunzeln. Denn die Grossmutter hat trotz alltäglicher Mühen und Bettlägrigkeit ihren Humor nicht verloren. Es scheint, als hülfen Mario und sie sich gegenseitig, mit der Thematik des Sterbens klar zu kommen. Francesco Micielis rauhe Stimme verleiht der Lesung den nötigen Ernst. Ab und zu stolpert er über seine eigenen Sätze und bemerkt humorvoll:

„Ich brauche eine neue Brille.“

Micielis Angst, mit seiner Lesung auf wenig Interesse zu stossen, hat sich als unbegründet erwiesen. Das Thema der sterbenden Grossmutter scheint viele zu bewegen. Auch mich. Am Ende gehen viele Bücher über den Büchertisch. Eines landet auch bei mir.