Demokratie – Neubau oder Sanierung?

Die Demokratie zur Kritik freizugeben, ist Teil ihres Wesens. Demokratische Wahlen abschaffen zu wollen, erweckt im Land der Totaldemokraten hingegen Angst um die eigene Identität. David Van Reybrouck, dessen vieldiskutierte Thesen aus „Gegen Wahlen“ als Grundlage der am Samstagabend in Solothurn angesetzten Podiumsdiskussion „Demokratie in der Krise“ dienen, spricht den Wahlen ihren demokratischen Charakter ab und bezeichnet sie als Instrument der Aristokratie. Die Auffassung von der Demokratie in der Krise teilen auch Lukas Bärfuss (Autor) und Ruth Dällenbach (Politische Konsulentin, Präsidentin „Denknetz“); den Weg zur Besserung vermuten sie aber hinter verschiedenen Türen.

Moderator Felix Schneider eröffnet die Diskussion mit der Frage, welche Symptome es für die Krise gebe. Van Reybrouck beginnt Statistiken aufzuzählen, nach welchen Bürger den Grossteil des Vertrauens in Parteien und Politiker verloren hätten – und das auch in Europa. Damit stecke das Wahlverfahren in einer Legitimationskrise, was Dällenbach allerdings sogleich dementiert. Es sei eine Effizienzkrise und die Frage sei eher, wer alles worüber entscheiden darf. Bärfuss folgt ganz anderen Gedankengängen und lokalisiert das Problem in dem obsoleten Konzept des Nationalstaats, da es ja willkürlich sei, den Wahlkreis aufgrund der Nationalität zu ziehen. Die Frage aber bleibt: Wem vertrauen die Bürger noch?

Zwar sieht Bärfuss die Problematik in institutionellen Mittelstufen zwischen Lokalität und Globalität (beispielsweise der Nationalrat stand heftig unter Beschuss), die von der Wirklichkeit überholt worden seien, trotzdem bekennt er sich in vielen Punkten als ausgesprochener Sympathisant Van Reybroucks. Das ungeregelte Zusammenkommen eines Volkes führe immer zu Revolutionen, was Repräsentanten unabdingbar mache. Durch Wahlen sei aber die Angst vor der nächsten Wahl eine gewaltigere Kraft denn die Wirkung der vergangenen. Die Idee funktioniert wie folgt: Das Interesse des Politikers ist es, gewählt zu werden, weshalb er sein Programm den Interessen der Wählerschaft anpasst, insofern diese überhaupt die besten Richter ihrer eigenen Interessen sind. Van Reybroucks Vorschlag ist nun, ein vielfältiges Gremium (Geschlecht, Alter, Soziale Klasse, Wohnort) durch Zufall auszulosen. Besser weniger kompetent und frei, als kompetenter und unfrei.

Dällenbach stemmt sich nun gegen diese Logik mit der Frage, wo die Kraft der Bevölkerung bleibe. Wer Bürgern die Kompetenz zur Wahl abspreche, könne ihnen doch nicht die Kompetenz zur Politik zusprechen. Ja, Lobbyismus und Wahlkampfverfahren müssen kontrolliert und reguliert werden, und ja, das Elektorat müsse ausgeweitet werden. Für all das gebe es aber basisdemokratische Wege, die auf das Engagement der Bürger bauen. Die politische Partizipation sei durch Bildung des Demos, nicht durch Zwang zu erreichen.

Die Veränderung ist nicht gefährlich, aber keine Veränderung ist es. Ob diese das Entscheidungsverfahren an sich oder eine Alternative bedeutet, ist zwar keineswegs eine neue, durchaus aber eine entscheidende Frage. Vor allem die Schweiz muss sich immer wieder bewusst machen, dass die Demokratie als Mittel notwendigen Änderungen offenstehen muss und darf sie nicht zum Zweck überhöhen.

Lukas Bärfuss und David Van Reybrouck treffen sich am 30. Mai im Schauspielhaus Zürich zu einer weiteren Diskussion zum Thema.

Page 99

Matthias Zschokke und Zora del Buono sitzen sich heute gegenüber bzw. nebeneinander im Dialog, dem offenen Format, in dem zwei Autoren – die sich vorher nicht kennen – ohne Moderation ein Gespräch führen. Voraussetzung ist, dass die beiden das jeweils neueste Buch des anderen gelesen haben. (Zschokke und del Buono hatten sich vorher erst einmal getroffen, und zwar bei einem kulturellen Anlass der Schweizer Botschaft in Berlin, an dem das schweizerdeutsche Wort „Chäsbrägu“ eine Rolle spielte.)

Del Buono beginnt nun, indem sie eine Seite aus Zschokkes neuem Buch „Die Wolken waren gross und weiss und zogen da oben hin“ vorliest und ihn anschliessend zu einem Aspekt befragt, der ihr in seinen Geschichten desöfteren auffällt: Körper, der Ekel vor dem Körper und die Lust am Ekel vor Körpern. Zschokke geht jedoch leider gar nicht auf die Frage ein, sondern eröffnet stattdessen einen längeren Monolog, indem er von seinen vorbereiteten Notizen abliest und von etwas ganz Anderem spricht.

Unter anderem erzählt er von dem „Page 99“-Test, den der englische Literaturkritiker Ford Madox erfunden hat (im deutschsprachigen Raum hat ihn mittlerweile das „Tell“-Magazin übernommen) und der besagt, dass man die Seite 99 eines – zur Lektüre beabsichtigten –  Buches aufschlagen und diese lesen soll, da sich dort (im Gegensatz zur ersten Seite oder dem Buchrücken) die wahre Qualität eines Buches eröffne. Zschokke bemerkt, dass dieser Test bei del Buonos Buch „Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt“ wunderbar funktioniert, man den Charakter des Buches wunderbar einschätzen könne – während der Test bei seinem eigenen Buch versage.

Das Gespräch kommt dadurch sehr schnell auf die Struktur eines Buches und den Plotaufbau eines Romans. Del Buono – als ausgebildete Architektin – geht stets mit sehr viel Augenmass an das Schreiben heran; man „brauche ja schliesslich auch einen Plan, um ein Haus zu bauen“. Zschokke bewundert ihre präzise Schreibarbeit; er selber starte von einem Grundplot, drifte dann aber plötzlich ab, was zur Folge hat, dass er im Nachhinein oft kürzen muss. Del Buono hingegen kürzt nie, sie habe noch nie einen Absatz von dem, was sie geschrieben hat, gestrichen. Stattdessen schreibe sie von Anfang an schon sehr reduziert, ganz nach dem Motto „Form follows function“.

Gekürzt werden musste auch das Gespräch der beiden, die offenbar noch lange hätten weiterdiskutieren können. Bevor die Moderatorin die Veranstaltung beendete, musste del Buono allerdings unbedingt noch das anscheinend tollste Wort in Zschokkes Roman vorlesen: „Durchgangssyndromverwirrung“.

Das Unsichtbare sichtbar machen

Barbara Piatti, Andreas Simmen und Tim Krohn diskutierten unter der Moderation von Verena Stössinger bei der Podiumsdiskussion zur heissen Mittagsstunde am letzten Tag der Solothurner Literaturtage über das Thema „Schweiz schreiben“. Dabei ging es um die Literaturgeographie, eine jüngere Richtung der Literaturwissenschaften, die einen Bezug zwischen Be- und Erschriebenem und der geografischen Wirklichkeit schaffen möchte. Da stellt sich die Frage, wie aussagekräftig eine solche Wissenschaft sein kann. Und wie lässt sich überhaupt eine Topografie der Schweiz sichtbar machen?

Piatti – die an der ETH das Forschungsprojekt „Ein literarischer Atlas Europas“ leitete – beginnt die Diskussion mit einem Input über dieses neue Forschungsfeld. Es geht bei der Literaturkartographie darum, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Dabei wird versucht, das zu zeigen, was nicht konkret vor Ort gesehen und erlebt werden kann. Dazu gehören alle unsichtbaren kulturellen Bestandteile eines Ortes, die zu seiner Charakterisierung beitragen, aber ohne Wissen davon unsichtbar bleiben. Die reale Landschaft und die literarische Erzählung sollen also deutbar gemacht werden. Piatti möchte die literarischen Schauplätze kartieren, indem literarische Texte auf Karten verortet werden und dadurch einen literarischen Atlas Europas schaffen. Interessant sind dabei die Ballungszentren, die „Hotspots“, an denen sich die Literatur in der Schweiz konzentriert. Dazu gehören vor allem die Innerschweiz, der Genfersee, Graubünden und das Berneroberland.

Piatti betreibt die Literaturgeographie zurzeit auch auf eine spielerische Art. So hat sie mit drei anderen Frauen (Christiane Franke, Yvonne Rogenmoser und Christina Ljungerg) den Verlag imaginary wanderings press gegründet, der literarische und kulturelle Landschaften zugänglich macht. Über eine Box mit verschiedenen Modulen wird ein Zugang zu unterschiedlichen Landschaften eröffnet (so können z.B. mit einer Papiertaschenlampe Geschichten im „Dunkeln des Gotthards“ gelesen werden).

Die Innerschweiz ist europaweit die literarisch am dichtesten beschriebene Naturlandschaft. So ist auch Luzern in imaginary wanderings press nr. 1 vertreten, gestaltet als edle Theaterkulisse – haben doch schon Keller und Tolstoi betont, dass, wenn man in Luzern ankomme, sich wie in einer Loge fühle. Die Verfasserin dieser Zeilen, gebürtige Luzernerin, kann dem natürlich nur zustimmen, hat sie doch selbst vor einigen Jahren ein Buch über den Luzerner Hausberg, den Pilatus, verfasst. Als literarischer Reiseführer durch die Innerschweiz empfiehlt sich dennoch eher Piattis jüngstes Buch „Es lächelt der See – Literarische Wanderungen in der Zentralschweiz“ oder sich an die von Ursula Bauer und Jürg Frischknecht im Rotpunktverlag veröffentlichten Wanderführer halten. Letztere werden immer auch von einer ganz bestimmten raumphilosophischen Haltung getragen: Das Wandern soll tatsächlich die Landschaften als einen von Menschen mitgestalteten Lebensraum sichtbar und begreifbar machen.
Um Menschen geht es auch bei Krohn, der auf die Frage „Was wollen sie mit diesen Landschaften in ihren Geschichten erreichen?“ unumwunden zugibt, dass er sich so viel jeweils gar nicht überlegt, und er primär von den Menschen ausgeht – und von der Frage, wie die Landschaften auf sie einwirken.
Zum Schluss liest Krohn noch einen Auszug aus seinem 2015 erschienenen Buch „Nachts in Vals“ vor. Die eindrücklichen Bewegungen in der Landschaft und die intertextuellen Bezüge eröffnen einen mehrdimensionalen Raum, was schon Umberto Eco als „die Enzyklopädie des Lesens und des Lesers“ beschrieben hat und damit die „Filterfunktion der Literatur“, die Wahrnehmung einer Landschaft durch einen literarisch subjektiven Filter adressiert.

Ganz zum Schluss kommt das Gespräch noch auf das grassierende Phänomen des Literaturtourismus. Piatti betont, dass wir an einem Ort das Unmögliche par excellence suchen. Auf literarischen Spuren zu reisen geht daher oft mit einer Enttäuschung einher. Die Landschaft kann dabei jedoch das Portal in eine fiktive Welt sein, sozusagen der einzige Aspekt der Geschichte – im Gegensatz zu den Figuren und Handlungen –, der sich ein Stück weit erschliessen lässt und an dem sich das Imaginäre und das für uns Erkennbare zu vermengen beginnen.

Autorengefängnis Türkei – zum Ersten

Rot prangern zwei identische Plakate hinter den zwei Experten und dem Vorleser Thomas Sarbacher:

FÜR DIE LITERATUR.

FÜR DIE FREIHEIT DES WORTES.

FÜR AUTORINNEN UND AUTOREN.

Adi Blum als Vorstandsmitglied des Deutschschweizer PEN-Zentrum setzt die Veranstaltung in einen bedrückenden Rahmen. Fotos sind verboten. Thomas Sarbacher trägt keine Texte von Schweizer Autoren vor, sondern Übersetzungen aus ehemals fremder Sprache: Türkisch. Vielen Autoren dort wird die Arbeit verwehrt, viele leben unfrei, andere überleben. Immer mehr in der Türkei. Alice Grünfelder und Yusuf Yeşilöz als Experten fügen jedem Text biografische Eckpunkte der Autoren hinzu.

Beginnt Sarbacher vorzutragen, ziehen sich diese biografischen Fetzen zusammen mit den Textausschnitten zwar nie zu einem Menschen, doch aber zu Luftspiegelungen von Gesichtern zusammen und hinter Worten, hinter denen fremde Worte standen, schimmern Gesichter. In die Texte sind Gräueltaten gebunden. Zwangsexil, Völkermord in Armenien; traumatische Erlebnisse ziehen als Faden durch die Stoffe, die als Abbild von vergangenen Bewegungen Geschichte aufarbeiten.

Sie erzählen von fremden Böden, fremden Bäumen, fremdem Land, fremden Ufern, fremden Ängsten und trotz allem vertrauten Wünschen. Eine Lesung, die mit nicht bloss sprachlich entfernten Schicksalen verbindet.

Gelesen wurden unter anderem Texte von Yasar Kemal, Asli Erdogan, Necmiye Alpay und Mehmed Uzun.

Bildnachweis: Maxine Young/Programmheft

„Hier geschieht etwas.“

Der Plan der Veranstalter lautet so:

Skriptor – Textwerkstatt: Autorinnen und Autoren kommen zur Textarbeit zusammen und diskutieren unveröffentlichte Texte. Dabei wird sichtbar, was sich neben der solitären Schreibarbeit zusätzlich hinter einem literarischen Text verbergen kann: eine Grosszahl an Entscheidungen, die im Gespräch reflektiert und gefällt werden. Zum Schluss kann sich das Publikum einbringen.

Die Szene am Samstagnachmittag, Gluthitze, gestaltet sich wie folgt: Ein unveröffentlichter Text von Barbara Schibli, Korobeiniki. Es diskutieren Martina Clavadetscher und Flurin Jecker, deren Erstlinge in diesem Jahr erschienen sind, Francesco Micieli, Jeckers Ex-Mentor am Literaturinstitut Biel, Ulrike Ulrich und Daniela Bär. Donat Blum moderiert.

In Schieblis Text treffen wir auf eine russische Frau, die doppelsichtig ist. Das eine Auge schielt, „es ist verfault“. Ein Kommissar, vor dem sie sich fürchtet, ihn aber auch verführen will, führt eine Studie durch und macht Kreuze.

Zentral ist ein Gameboy, auf dem „Tetris“ gespielt wird, jenes in „Gameboy“-Zeiten beliebte Spiel mit herabfallenden Formen, bei dem keine Lücken entstehen dürfen.

Nach der Lesung der Autorin meldet sich zunächst die Zürcher Autorin Ulrike Ulrich zu Wort. Sie rühmt Schiblis Sprachkraft, die „Tetris-Welt“ sei sehr schön kreiert, man löse sich darin auf als Leser, man falle sozusagen mit den Würfeln zusammen. Die Würfel seien aber noch nicht ganz angekommen, dem Text fehle es noch an Festigkeit.

Inwiefern ein solches Mass an Irritation erlaubt sei, wird gefragt, und ob es dem Text diene.

Micieli findet viele Stellen, an denen „etwas geschieht“.

Jecker wünscht sich mehr Glaubhaftigkeit, er glaubt dem Kommissar nicht, glaubt der Lückenlosigkeit nicht, fragt, wo das alles hinführe.

Bär, Ulrich und Micieli unterhalten sich darüber, ob der Text gekürzt oder verlängert werden sollte.

Zum Ende der 90 Minuten, in denen der Kommissar überflüssig geworden, die Wünsche der Autoren geäussert und verschiedene Vorstellungen von der „Substanz“ des Textes entworfen und verworfen worden sind, kann „Tetris“ als Metapher für die Stimmung im Textor-Raum verwendet werden. Irgendwie lückenlos.

Im Sog der Blogs

Wie verhält sich das Bloggen zum herkömmlichen Schreiben? Wird das Feuilleton in der Blogosphäre enden? Mit diesen Leitfragen eröffnete Buchjahr-Herausgeber Philipp Theisohn das Zukunftsatelier unter dem Titel «Blog oder Kritik?» mit der Kulturjournalistin Sieglinde Geisel.

Als Gründungsmitglied des Blogs «tell» erzählt Geisel zu Beginn euphorisch von den vielen Vorzügen des Bloggens: Der spielerische Umgang mit dem Schreiben muss dabei im Gegensatz zu traditionellen Medien nicht einer Veranstaltung gerecht werden und darf sehr subjektiv sein. Als jahrelange NZZ-Redaktorin aus der Welt der statischen Printmedien kommend, geniesst Geisel nach anfänglicher Scheu heute die Freiheit, welche ihr das Bloggen eröffnet. Es macht Formate wie den Page-99-Test, Long Reads mit Multimedia oder auch mal eine tiefschürfende Übersetzungskritik möglich, die in den Zeitungen meistens keinen Raum finden. Auch die Möglichkeit zum Mitreden und die Überwindung der Grenzen zwischen Kritikerin und Leser sieht sie als eine der vielen Vorzüge des Mediums. Ihr Blog «Tell» geht dabei so weit, dass einige Leserkommentare auch in Rücksprache mit dem Verfasser redigiert und als Debattenbeitrag veröffentlicht werden.

Der Haken an den scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten dieses neuen Mediums liegt in der fehlenden Entlöhnung der sechsköpfigen Onlineredaktion. Ein Finanzkonzept hat der Blog noch nicht. Möglichkeiten wie Paywall oder Crowdfunding gegen signierte  Bücher werden geprüft. Geisel schwebt auch ein soziales Angebot vor, bei dem man für private Lesungen oder einen Blick hinter die Kulissen einen gewissen Betrag bezahlt. All dies schwebt jedoch noch in den Wolken, begründet wird dieser profitarme Zustand mit der aktuellen Umbruchphase, in der sich der Journalismus befindet.

Gerade dieser Umbruch macht das Verhältnis von Print- und digitalen Medien zu einem Schlachtfeld der Meinungen. So sei jede neue Technologie auch eine Herrschaftsform, mit der umzugehen zuerst gelernt werden muss. Printformate mit Online-Angeboten zu ergänzen, anstatt zu konkurrenzieren, erfordere viel Kreativität und neue Ideen. All diesen Unsicherheiten und Schwierigkeiten möchte Geisel entgegenwirken und mit ihrem Blog gute Laune in die Medienwelt bringen. Die Frage stellt sich nur, wie lange diese Laune ohne Honorar anhalten wird.

 

Das Leben ist verrückt!

Zwei Autoren, die sich vorher nicht kennen, lesen das Werk des anderen und tauschen aus – soweit das Konzept von „Im Dialog“.  Ein Risiko, wie Urs Faes betont, schliesslich sind Autoren aufmerksame und kritische Leser und nicht zuletzt auch Rivalen. Das Gespräch zwischen Faes und Kathy Zarnegin verläuft jedoch harmonisch.

Die Diskussion kommt bald auf die übliche Leserfrage: Wie autobiographisch  sind ihre Werke? Weder Faes noch Zarnegin negieren das autobiographische Fundament. Beide schreiben aufgrund von Beobachtungen an sich selbst und ihrem Umfeld. Doch diese Eindrücke werden versprachlicht, werden exemplarisch, damit der Leser sie nachvollziehen kann. Zarnegin spricht gar davon, den Leser an die Leine zu nehmen. Sie meint damit, den Rhythmus so zu gestalten, dass die Leseraufmerksamkeit fokussiert bleibt.

Wie sehr übertreiben Autoren? Fazit; gar nicht. Im Gegenteil, sie untertreiben massiv, um ihre Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren. So meint Zarnegin: Ein Mann, der auf ein Dekolleté starrt, ist ja eine Kleinigkeit. Faes kann nur hinzufügen: Die Wirklichkeit ist so verrückt, dass man eher zurücknimmt. Die Wahrhaftigkeit des Erzählten sei jedoch zentral. Es geht dabei nicht um Fakten, sondern um die präzise Erzeugung eines Bildes im Kopf. Dabei soll jedoch auch ein Leerraum bestehen bleiben, denn der mündige Leser selbst ausfüllt mit seinen eigenen Erfahrungen.

Eine besondere Herausforderung sieht gerade Faes im Verhältnis von Leben und Schreiben. Verpasst man über dem Schreiben das Leben? Zarnegin empfindet es nicht so: Wir haben das Glück verschiedene Leben haben zu können, mehrere. Beide haben jedoch Mühe mit den Übergängen, mit dem Anfangen. So putzt Zarnegin vorher die Badewanne, statt gleich mit Schreiben zu beginnen, während Faes auf stur schaltet. Er kann auch mehrere Stunden einfach dasitzen und auf das Startwort warten.

Nachdem im Kontext von Übertreibungen die Männerfiguren in Zarnegins Buch „Chaya“ angesprochen wurden, springt das Thema später auf die Frauenfiguren bei Faes. Zarnegin empfindet das Buch „Halt auf Verlangen“ als eine Widmung an die Frauen, die das Leben repräsentieren. Faes will da stärker differenzieren: Seine Frauen seien an das Leben gebunden, selbstbewusst und pragmatisch im Alltag.

Doch wie so oft, wenn das Gespräch richtig in Schwung kommt, ist das Ende bereits vor der Tür. Wer den beiden Autoren weiterfolgen möchte, kann Urs Faes heute um 16:00 Uhr im Palais Besenval hören und Kathy Zarnegin liest am Sonntag Nachmittag aus ihrem Romandebüt „Chaya“.

Die Ohnmacht des Moderators

Wo sind die Grenzen der Erzählbarkeit? Wie beeinflussen Geschichten und Fake-News die Medienberichterstattung? Was passiert, wenn sich Literaten plötzlich des journalistischen Handwerkszeugs bedienen, um ihre Geschichten zu erzählen – und was im umgekehrten Fall?

Diese vielversprechenden Fragen haben sich Olga Grjasnowa, Jonas Lüscher und der Journalist Peter Voegeli unter Moderation von Hans Ulrich Probst in einem mit Spannung erwarteten Podiumsgespräch über «Die Macht der Geschichten» vorgenommen. Leider war das Gespräch nicht wirklich ein Gespräch; der Moderator versäumte es, Kohärenz zu stiften und arbeitete eher einen Fragenkatalog ab. Das führte zu unangenehmen Pausen, zeitweilig unterbrochen von dem Geräusch, das beim Aufeinandertreffen von Jonas Lüschers Bart und dem Mikrofon entstand. Trotz der thematischen Mäander, die sich zu keinem Fluss vereinen wollten, wollen wir versuchen, einige wichtige Punkte festzuhalten.

Grjasnowas Antworten bewegten sich oft im Umfeld des Wahrscheinlichkeitsproblems in der Nachfolge Kleists: Sie sah sich durch den harten Stoff ihres letzten Buchs  vor das Dilemma gestellt, dass die Begebenheiten, die sie erzählen will, enorm drastisch sind, und darum von den Lesern tendenziell für unwahrscheinlich gehalten werden. Dadurch wird sie gezwungen, die Geschehnisse im und um den Syrienkrieg abzuschwächen, was aber wiederum dazu führt, dass die Begebenheiten plötzlich zu harmlos erscheinen und gerade darum unwahrscheinlich wirken. In diesem Zusammenhang spricht sie auch von einer Art «Schizophrenie», da auf diese Weise aus den beiden Bereichen Imagination und Recherche immense Volumen an Stoff zusammengebracht werden müssen, und man darob leicht die Übersicht verlieren kann, ob jetzt die Fiktion auf der Recherche aufbaut, oder umgekehrt.

Für Jonas Lüscher ergibt sich eine kritische Grenze da, wo die Fiktionalität aufhört. Er habe gegenüber seinen komplett erfundenen Figuren keine Skrupel, aber wenn er reale Menschen in seinen Texten behandeln will, wächst die Hemmung stark. Er werde schlecht damit fertig, aus dem Schicksal einer realen Person etwas zu machen, das er sich nachher doch wieder ausgedacht habe.

Für den Journalisten Voegeli sind Skrupel und Wahrscheinlichkeit ebenfalls wichtig, er plädiert aber aus Sicht der journalistischen «Geschichte» oder Reportage auf ein Festhalten an den Fakten. Die Medien seien Kinder der Aufklärung, sagt er, darum verstehe er seinen Job nicht als den eines Lehrers, der den Leuten beibringt, wie sie zu denken haben, sondern als den eines Vermittlers. Er beschwört ein Revival des investigativen Journalismus und will über die Welt berichten, wie sie wirklich ist.

Diese noch halbwegs konzisen Äusserungen fielen fast ausnahmslos zu Beginn des Gesprächs, das sich im Anschluss ziemlich beliebig zwischen der leidigen Fake-News-Diskussion, der Nötigkeit oder Unnötigkeit einer Unterscheidung zwischen Literatur und Journalismus und schliesslich auch noch einigen Spitzen gegen unser kapitalistisches Gesellschaftssystem bewegte.

Erkenntnis der Stunde: Jonas Lüscher behauptet, er interessiere sich mit seiner Literatur für die Stellen, wo es schmuddelig, übelriechend und vielleicht auch pornographisch ist. In seinem letzten Buch kann man das aber höchstens beschränkt wiederfinden. Und er macht – seiner eigenen Aussage zufolge – zu Beginn eines neuen Textes keine grosse Auslegeordnung von Ideen, die hernach geordnet und vertextet werden. «Ich beginne mit dem ersten Satz, und dann schreibe ich einfach immer weiter. Das kommt alles im Kopf zusammen durch das langsame Vorwärtsschreiben.»
Was im Schreiben funktioniert, so die auch von vielen frühzeitig abwandernden Zuhörerinnen und Zuhörern geteilte Einsicht, lässt sich im öffentlichen Gespräch offenbar nicht ganz so leicht realisieren.