Eine Prädatorin

Martina Clavadetschers „Knochenlieder“ zählen zweifellos zu den faszinierendsten Texten dieses Frühjahrs. Weniger Roman (wie der Paratext behauptet) als vielmehr eben „Lieder“, Gesänge: ein Zukunftsepos, das sich in Wortkaskaden durch ein immer seltsamer werdendes 21. Jahrhundert schlängelt. Betörend die Sprache, apokalyptisch die Szenarien, Totalitarismus, digitale Rebellion – so etwas hat zumindest die Deutschschweizer Literatur noch nicht gesehen. In ihrer Naturverbundenheit erinnern die „Knochenlieder“ bisweilen an Dietmar Daths „Abschaffung der Arten“, in ihrem rauschhaften Spiel mit Vers und Form ist Reinhard Jirgls „Nichts von Euch auf Erden“ nicht allzu weit weg; auch Michael Fehr dürfte zur entfernteren Verwandtschaft gehören. Rätsel über Rätsel, es gäbe viel zu fragen.

Leider wird Martina Clavadetscher an diesem Sonntagnachmittag nicht viel gefragt. Noch bleibt sie ein Geheimnis – was nichts Schlechtes ist. Andererseits: Diese Autorin weiss etwas, was wir nicht wissen. Diese Prädatorin, die ihre Dichtung auf Knochenflöten zeugt, aus ihrer Höhle zu locken – das sollte man doch zumindest versuchen. Das Publikum im Stadttheater wartete leider vergeblich darauf. So wird es in allernächster Zukunft dem „Buchjahr“ überlassen bleiben, Clavadetscher in ihrer Heimat Brunnen aufzusuchen und mit ihr gründlich über dieses ungeheure Buch zu sprechen.

Uns schenkte sie immerhin einen der schönsten Bögen, den ein Blog haben kann: Am Freitagmorgen hatten wir mit Urs Faes und David Bowie begonnen; am Sonntag endeten wir – nach einer hypnotisch-schönen Performance, in der Clavadetscher, musikalisch begleitet von der nicht minder grossartigen Isa Wiss ihre Texte mehr sang als las – bei Bowies „Life on Mars“.

Grosse Liebe rechtfertigt alles

Über Tom Kummer wurde in den vergangenen Monaten bereits heftig allerorten diskutiert. Auch seine Einladung zu den Literaturtagen gab unter manchen Besuchern Anlass zur Diskussion. Mancherorts, insbesondere unter Kummers journalistischen Kollegen war mit einer gewissen Regelhaftigkeit die Rede vom „Plagiator“; andere beargwöhnten Kummers Interpretation dessen, was ein Autor so sein kann, so dass man vorab vor allem einen Eindruck gewinnen konnte: Kummer stört. Kummer stört – und abgesehen davon, dass er die Rolle des Störfaktors bestens kennt und entsprechend gut interpretieren kann, konnte seine Präsenz der Gesamtveranstaltung nur gut tun.

Angetreten war Tom Kummer mit „Nina und Tom“, der Bilanz einer Liebe, dem „schonungslosen Bericht auf Kosten“ seiner 2014 verstorbenen Frau, wie es im Abgang des Buches heisst. Dass es sich dabei um einen durchaus komplexen und schon gar nicht unter „more of the same Kummer“ zu verbuchenden Text war schon an dieser und an anderer Stelle nachzulesen; gleichwohl gab es selbstverständlich den Versuch, „Nina und Tom“ erst einmal mit einer Plagiatssoftware zu durchforsten und die Funde dann als spontane Entdeckungen des eigenen Lesegedächtnisses zu inszenieren.

Wie dem auch sei: Kummer las. Zunächst von der ersten Begegnung der Liebenden Anfang der 80er im Club „Otto Zutz“ in Barcelona, dann – nach einem Sprung von 30 Jahren – von den letzten Stunden, der letzten Nacht, dem Morgen, an dem Nina stirbt und von den Bestattungsgehilfen abgeholt wird. Sichtlich berührt durchquert Kummer diese Passagen. Später wird er auf Pablo Hallers Nachfrage, warum er diesen literarischen „Verrat“ begangen habe, antworten, dass „grosse Liebe alles rechtfertige“ und man nimmt ihm ab, dass er es genau so meint, wie er es sagt.

Erneut sieht sich Kummer, wie er im Gespräch einräumt, vor die Aufgabe gestellt, sich von einem alten Leben lösen zu müssen. So, wie er einst als Schulabbrecher sich in der Burgerbibliothek das Rüstzeug besorgte, um Bern hinter sich zu lassen und erst in Berlin, später dann in Los Angeles zu einem Exponenten des Borderline-Journalismus zu werden – so muss Tom Kummer jetzt, ohne Nina, wieder in Bern von Neuem beginnen, sich neu erfinden. Anderes schreiben und wohl auch anders schreiben. Oder vielleicht auch andere Dinge tun. Gerade hat er den Kunstpreis von Holligen zugesprochen bekommen.

Das Dorf. Ein Roman

Dass das Genre „Roman“ seinem jüngsten Buch „Dr Chlaueputzer trinkt nume Orangschina“ mehr oder weniger von aussen aufgenötigt worden sei, räumt Ernst Burren unverhohlen ein. Um Rollenmonologe handle es sich eigentlich, sechs Personen aus drei Generationen, gruppiert um einen Brunnentrog, in dem eine rothaarige Frau liegt und schreiend ihren Vater des Missbrauchs bezichtigt. Ist das ein Roman?

Es gibt Gründe, diese Frage zu bejahen, wenn man darauf reflektiert, wessen Roman es sein könnte. Das Subjekt von Burrens (im vergangenen Jahr mit einem der Schweizer Literaturpreise ausgezeichneten) Text, ja: das Subjekt von Burrens Texten überhaupt, ist das Dorf. Die Stimmen all seiner Figuren tragen immer nur zu einer Rede der Gemeinschaft bei, eine Gemeinschaft, die langsam verdämmert und die in den Viten ihrer Mitglieder – zu denen auch die Tiere zählen, deren Leben und Wirken man auch erinnert – auch immer das eigene Leben und Überleben sich vor Augen stellt. Nie ist das sentimentalisch, nirgends ist das Idylle: Der Rückzug auf das Dorf bleibt stets gebrochen durch das Wissen, dass diese Welt kleiner und kleiner wird. Die Demenz frisst die Erinnerungen, die Stadt (und bereits Solothurn ist hier Gegenpol) die Jugend, die Beizen schliessen eine nach der anderen, die Vereine darben dahin. Man lebt hier kurz vor dem Ende.

Und so ist Ernst Burrens Prosa dann auch immer eine Suche nach Refugien für eine bedrohte Lebensform. Ein solches Refugium ist vor allem anderen die Sprache. Die Mundart besitzt hier – und das in bester Gotthelfscher Tradition – tatsächlich einen poetologischen Wert. Weder verdankt sie sich der Anbiederung an ein spezifisches Lesepublikum noch der Begeisterung für Sprachspiel und Verrätselung. Optiert wird für sie aus einer Notlage heraus; der Solothurner Dialekt ist der Ast, an dem sich der Ertrinkende über Wasser hält, mag er noch so brüchig sein – man hat keine Wahl. Wie Burren im Gespräch mit Franco Supino ausführt, ist er 1969, nach einer Lyriklesung im Stadttheater Bern und vor allem inspiriert durch Kurt Martis „Rosa Loui“ (1967) zum Schreiben in Mundart gekommen; zu einer Zeit also, in der eine solche Entscheidung noch widerständig war, in der sie dem Autor aber bereits zwingend erschien. Der Dialekt ist Teil von Burrens Verlustgeschichte, er ist noch übrig und bleibt – aber es ist ein letzter Widerstand.

Was kommt danach? Es gibt in „Dr Chlaueputzer trinkt nume Orangschina“ eine bemerkenswerte Konfrontation der Dorfbewohner mit dem Schicksal der Fliehenden. Man steht da just auf der Grenze, auf der sich der Populismus Bahn bricht: Die autochthonen Originale in ihren ererbten Häusern und Höfen gegen die namenlosen Dutzendmenschen in ihren Zeltstädten. Und die Klugheit von Burrens Text zeigt sich genau hier: Nicht naiv menschelnd, sondern analytisch erkennen seine Insassen, dass sie denjenigen, deren Welt zerbrochen wurde, doch sehr ähneln. Eine ehrliche, keine altruistische Empathie zeigt sich da: Die Fremden sind uns unheimlich, weil sie schon wissen, was wir sind. Die Dörfer stehen noch, sie brennen nicht, aber Wurzeln haben auch sie keine mehr. Noch halten sie sich an den Geschichten fest, an einem Trauma im Brunnentrog, am Staunen über Zirkustiere und Weltreisen, an den Spuren, die ihre vom Abdecker abgeholten Rösser hinterlassen. Und wenn all das vorbei ist, dann bleiben noch Ernst Burrens Bücher.

 

Autorengefängnis Türkei – zum Zweiten

Die Türkei ist das Land mit den meisten inhaftierten Journalisten und Autoren der Welt.
Die Lage für Schriftsteller und Medienschaffende in der Türkei ist überaus kritisch. Verdeutlicht wurde dies dem Publikum der gestrigen PEN-Gastveranstaltung zur Einführung anhand des Faktums, dass nach dem Putschversuch im letzten Juli 150 Medieninstitutionen geschlossen und über 700 Presseausweise annulliert worden sind. Der PEN ist eine Organisation, die Literatur fördert und die freie Meinungsäusserung verteidigt. Das Versprechen der Veranstaltungsbeschreibung, über die „Wichtigkeit für den Einsatz für die Freiheit des Wortes“ zu diskutieren, wurde aber bedauerlicherweise nicht eingelöst. Durch die Lesung von Ausschnitten aus dem Werk verschiedener AutorInnen wollten die Veranstalter zum Ausdruck bringen, was das Land umtreibe. Den ausgewählten AutorInnen war gemein, dass sie aufgrund ihres Schreibens alle verfolgt oder gar inhaftiert wurden.

Die literarischen Kostproben wurden mit Thomas Sarbacher von einem wunderbaren Leser serviert. Man kennt den in Zürich lebenden Schauspieler wohl am ehesten von seinen Auftritten im „Tatort“; in den vergangenen Jahren hat er sich jedoch auch immer wieder als Vorleser  engagiert. Auch am gestrigen Abend vermochte seine rauchige Stimme den Stoffen die nötige Schwere zu verleihen.

Moderiert wurden die Veranstaltung von Alice Grünefelder und Yusuf Yeşilöz, die die Kurzlesungen jeweils mit (sehr dichten) Kurzbiographien und historischen Kontextualisierungen einleiteten. Leider erschwerte es das enorme Vortragstempo, den Einzelbeiträgen zu folgen, sofern man nicht schon zuvor mit den AutorInnen und ihrem Werk näher vertraut gewesen war.

Darüber, wie Schreibende mit der gegenwärtigen politischen Lage umgehen oder wie ihre Arbeitsrealität aussieht, erfuhr man also leider nichts. Die Veranstaltung regte aber auf jeden Fall die Neugierde an und machte Lust auf mehr – sei es auf Vertiefungen ins Historische, ins Politische oder eben direkt ins Literarische.

Amsél – Wiedersehen in Tanger

Dass Amséls photographisches Talent ihr schriftstellerisches noch überragt, zeigt sich bereits in den wenigen vorgelesenen Zeilen. Starke und sprechende Bilder einer in Fleisch und Erde wiederkehrenden Welt im letzten Licht des Ramadan stehen bisweilen peinlich unverhüllten didaktischen Eskapaden gegenüber: islamische Theologie, Etymologien, Kulturwissenschaftliches und natürlich dürfen auch die grossen Zusammenhänge zur Weltgeschichte in den Nebensätzen nicht fehlen. Es ja nicht ungewöhnlich, dass Erstlingswerke sich schwer tun der Versuchung zu widerstehen, die Welt zu erklären, anstatt sie zu zeigen und zu schaffen. Und es stellt sich natürlich immer wieder die Frage, ob Ersteres überhaupt in den Aufgabenbereich eines Schriftstellers gehört, schliesslich stehen aus anderen Disziplinen reichlich phantasielose und analytische Denker dafür zur Verfügung. Nichtsdestotrotz – Amsél hat auch etwas zu bieten.

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Die Stunde der kurzen Form – ein Porträt

Am Freitagabend wurde im Landhaus die „Stunde der kurzen Form“ ausgetragen. Acht AutorInnen haben sich an dieses sprachliche Experiment gewagt und zwischen zwei Vortragsarten gewählt: Dem japanischen PechaKucha, in welchem 20 Bilder à jeweils 20 Sekunden besprochen werden müssen oder Power Point Karaoke, bei welchem zu vorgegebenen Bilder frei assoziiert wird. Für alle, die gestern nicht mit von der Partie waren, weil sie an der Aare die letzten Sonnenstrahlen bei einem Aperol Spritz genossen (wer kann es ihnen verübeln) oder der zeitgleichen Performance des Autorenkollektivs L’AJAR beiwohnten, hier ein Porträt der Darbietenden:

Valerio Moser und Remo Rickenbacher – Die Cabaretisten
Die beiden Slam-Poeten stellten sich in ihrer PechaKucha-Darbietung die Frage, ob sich ihre Kunst eigentlich Literatur nennen darf. In einer satirischen Zusammenstellung präsentierten sie ihre Eindrücke von den letzten Solothurner Literaturtage: „Literaten“, das sind bescheidene, schlanke, ältere Herren in karierten Hemden, die auf der Bühne nur Wasser trinken, ihr Publikum grau meliert und artig. Slam-Poeten dagegen: untrainierte, Trivialliteratur verschlingende, Whisky bevorzugende, Klischees verbreitende Typen, deren Fangemeinde sich kaum auf den Stühlen halten kann. Doch genug der Stereotypen: So viele Worte in so kurzer Zeit runterzulaiern und trotz der vielen Bilder einen roten Faden durchzuziehen ist eine Kunst für sich! Gut getaktete, mitreissende Unterhaltung.

Katja Alves – Die Selbstironische
Was passiert, wenn sich eine Kinderbuchautorin (ein bisschen zu viel) der Ironie bedient, konnte man an Katja Alves PechaKucha sehen. In einer mehr oder weniger ernst gemeinten Präsentation ihres Lebens als Kinderbuchautorin parodiert sich die gebürtige Portugiesin auf humorvolle, sympathische Art selbst. Leider wollte die Technik nicht ganz so, wie sie sollte.

Gerhard Meister – Der Zauderer
Der Berner Lyriker war der einzige, der sich nebst Daniela Dill an die Impro-Darbietung der Power Point Karaoke wagte. Dafür sei ihm hier schon einmal Respekt gezollt. Seine spontane Präsentation zum Thema Arbeit vermochte jedoch nicht ganz zu überzeugen. Meister bevorzugte es, die 20 Sekunden pro Bild mehrheitlich wartend zu bestreiten. Kann man machen.

Amsél – Die Ethnologin
Die Fotografin und Autorin versuchte sich an einer ethnologisch angehauchten Zusammenstellung interkultureller Partnerschaften, die aus verschiedenen Erdteilen kommend, dennoch zusammengefunden haben. Dabei fand sie schöne Parallelen zwischen nomadisch veranlagten Menschen und Zugvögeln.

Tom Kummer – Der Autofiktionale
Kummers PechaKucha-Performance bewegte sich in der Grauzone von Wirklichkeit und Fiktion. In nur wenigen Minuten lieferte er eine dichte, stimmige Zusammenfassung der grossen Liebe von „Nina & Tom“, ohne eine Antwort auf die Frage nach dem Geheimnis ihrer Verbindung zu finden. Mit dem Tod von Nina beendete er seinen verstörenden und zugleich bewegenden Wortschwall.

Daniela Dill – Die Spontane
Gekonnt bringt Daniela Dill ihre Power Point Karaoke-Show über die Bühne. Die ihr unbekannten Bilder zum Thema Glamour verdichtet sie geschickt zu einer improvisierten Kurzgeschichte über Marie-Antoinette von Wittgenstein, eine Adlige, die mittellos in einer Pariser Dienstwohnung ihr Leben als Angestellte fristet. Dass Daniela Dill eine virtuose Slam Poetin ist, hat sie mit dieser spontanen Darbietung unter Beweis gestellt.

Franzobel – Der Ignorante
Der Wiener Schriftsteller las während seines Auftritts in scheinbar stoischer Ruhe aus seinem viel besprochenen Roman „Das Floss der Medusa“ vor. Die hinter seinem Rücken erscheinenden Bilder, verschiedene Darstellungen des Übersee-Unglücks, beachtete er dabei kaum. Bild-Ton-Korrespondenz geht anders.

 

Vom Leben in einem Spalt

Ein wenig nervös erscheint Flurin Jecker zur Lesung seines Debütromans „Lanz“ in der Säulenhalle. Er: 26-jährig; das Publikum mehrheitlich doppelt so alt; der Roman ein Buch über einen pubertierenden Jungen. Ob diese Kombination funktionieren kann? Sie kann! Lanz‘ Jugendsprache, in der die Fliegen und Kühe herumlatschen und alles ULTRA dramatisch und ULTRA schlecht ist, zieht einem sofort in die Untiefen eines Teenager-Universums. Das Publikum lacht und denkt dabei wohl auch an die eigene verkorkste Jugendzeit zurück. Auch Flurin Jecker erlaubt sich bei einigen Passagen zu lachen, nun wissend, dass er das Publikum in der Tasche hat. Einziger Kritikpunkt, wenn man Lanz hört, ist, dass seine Gedankensprünge von Erzählungen über die Kindheit wieder zurück zur Realität nicht immer ganz klar sind. Ob es daran liegt, dass er in Blogform schreibt, und ein Blog eben zum Selberlesen gedacht ist?

Moderatorin Karin Schneuwly möchte denn auch von Jecker wissen, was ihn denn so an diesem Teenie-Alter fasziniert habe, dass er gleich seine Abschlussarbeit des Schweizerischen Literatur-Instituts in Biel darüber geschrieben habe. Jecker meint, er habe einfach begonnen zu schreiben. Irgendwann habe er dann gemerkt, dass seine Hauptfigur ziemlich viel zu sagen hätte, und dass diese eben noch sehr jung sei.

In diesem Alter verlässt man seine Kindheit, man verliert die Geborgenheit und enge Verbindung zu den Eltern, aber hat nichts womit man diese Lücke füllen kann. Man geht ja immer noch zur Schule; aber man lebt wie in einem Spalt – das Alte ist vorbei, das Neue aber noch nicht da.

In der anschliessenden Signierstunde zeigt sich, dass Flurin Jecker ein sympathischer junger Autor ist, der noch immer von seinem eigenen Erfolg überrascht und überwältigt ist und sich deshalb über jeden einzelnen freut, der seinen „Lanz“ mit einer persönlichen Widmung nach Hause tragen möchte.

 

Ein Pfirsich zum Liebkosen

Ilma Rakusa ist nicht nur Dichterin, Erzählerin und Essayistin, sondern in der jüngeren Vergangenheit vor allem als literarische Übersetzerin hervorgetreten. 15 Jahre sind seit ihrer letzten Veröffentlichung von Gedichten vergangen.  Als Lyrikerin zurückgemeldet hat sie sich mit dem Gedichtband „Impressum: Langsames Licht“ trägt, aus dem sie an diesem drückend heissen Samstagvormittag in Solothurn liest. 

Einführend wird Rakusa als Reisende und Weltbürgerin beschrieben. Als sie Gedichte aus dem Kapitel ‚Orte‘ vorliest, wird schnell klar, warum. Denn diese reichen von Osteuropa, über Berlin und einem nordschwedischen Universitätsstädtchen bis nach Japan und Teheran. Ihren scharfen Blick setzt sie an all diesen noch so verschiedenen Orten ein. Unterschiedlich sind aber auch die Formen, die in diesem Band zusammentreffen. Jedem der sieben Kapitel ist ein Haiku vorangestellt, ihnen folgen dann teils längere Gedichte mit fast schon epischem Charakter.

Bei ihrer Lese-Auswahl scheint sich die Autorin für viele Gedichte über Alltägliches entschieden zu haben und diejenigen mit leichterem Ton aus der Sammlung hervorheben zu wollen. Dennoch kamen dem Publikum zu Ohren, wie Leute „aufwärts sterben“, wie Farben Klänge bekommen, wie nach der „Anleitung zu einem anderen Leben“ gefragt wird.

Dass ihr das Klangliche besonders wichtig sei, führt sie im kurzen Gespräch mit Christoph Kuhn aus. Der reine Wohlklang störe sie aber eher. Sie müsse die Harmonie immer wieder brechen, weil es für sie Reibung in den lyrischen Formen brauche. Kurz darauf liest sie von den Liebkosungen eines Pfirsichs sowie dem feinen Streichen über ein Perserkissen und plädiert für mehr Zärtlichkeit in unserer Welt – dem daraufhin schmunzelnden Publikum entgegnet sie verschmitzt: „Na, probieren Sie’s mal aus“.

Aufgeweichte Welt

Julia Weber ist mit „Immer ist alles schön“ eines der wichtigsten Bücher des Frühjahrs gelungen. Die teils märchenhaft verfremdete, doch stets genau beobachtete Geschichte von Anais, die sich und ihren kleineren Bruder Bruno durch das heitere bis manische Leben mit einer alkoholkranken Mutter manövriert, ist überzeugend an der Grenze zwischen Wahrnehmen und Erkennen gestaltet. Die Kinderperspektive wird durchgehalten auch dort, wo es wehtut und die Leserinnen und Leser längst verstehen, wo die Kinder noch hoffen. Ob es denn auch eine Version mit Happy End gegeben habe, fragt die bestens vorbereitete Moderatorin nach dem ersten Leseblock. Wider besseres Wissen habe sie stets darauf gehofft, den verletzlichen Kindern eile doch noch jemand zur Hilfe. Sie habe alle Varianten ausprobiert, bekennt Julia Weber, die sich als versierte Vorleserin und reflektierte Gesprächspartnerin präsentiert. Auch schlimmere seien darunter gewesen. Am Ende jedoch habe sich der Plot aus der Sprache entwickelt. Anais‘ Hoffnung, neben der vom Alkoholdunst der Mutter „aufgeweichten Welt“ warte noch eine weitere auf sie, muss der Text enttäuschen. Meisterlich hingegen führt Julia Weber in ihrem Debüt vor, wie von einer solchen aufgeweichten Welt auf stilistisch kompromisslose, aber gerade deshalb empathiefähige Weise erzählt werden kann. Trotz vieler Details ist kein Satz zu viel, kein Stimmungsbild bloss nett arrangiertes Dekor. Das trotz hochkarätiger Parallelveranstaltungen und Mittagszeit vollbesetzte Theater lässt darauf schliessen, dass Julia Webers Können sich bereits herumgesprochen hat. Tant mieux!

Bürgerrechte für literarische Figuren?

Das Gespräch über Lukas Bärfuss und seinen „Hagard“ fällt zugunsten einer ausgedehnten Lesung eher knapp aus. Das Übliche: die zu grosse Geschichte, die Photonenwogen, das Farbenspiel, die Kämpfe, die niemals tödlich enden. Neues: der Speichelfaden, das Gezücht aus der Kreativbranche, der monumentale Hintern. Mehr als sonst zeigt Bärfuss auch das komische Gesicht seines Textes und demonstriert, dass ein leidenschaftliches Vortragen auch umfangreichen Leseauszügen grossen Anklang im Publikum verschaffen kann – der Mann weiss, wie es auf der Bühne läuft.

Eine kurze Diskussion wirft die vor wenigen Stunden bereits im Podium angerissene Frage wieder auf: Woher nimmt der Autor das Recht, über die von ihm erschaffenen Figuren zu verfügen? Wo Jonas Lüscher keine Skrupel kennt und mit den Kindern seines Geistes tut, was ihm beliebt, äussert Bärfuss moralische Bedenken. Der Autor tritt als Schöpfer in eine Verantwortung. Man bringt seine Figuren in Not und verführt sogar andere Menschen, die Leserschaft, zum Beiwohnen peinlicher Taten, privater Angelegenheiten und intimer Gedanken. Als Bühnenautor, verbildlicht Bärfuss, sei er oftmals vor die Situation gestellt, dass seine Figuren zu solchen aus Fleisch und Blut werden, zu Menschen, die Unangenehmes verkörpern müssen – Unangenehmes, das er erfunden hat, wofür er verantwortlich ist. Man müsse einen guten Grund haben, wenn man jemandem so etwas antut.

Dass fiktive Figuren über reale moralische Rechte verfügen, bleibt sicher zweifelhaft, aber dass sie in der Interaktion mit ihrem Publikum in eine soziale Verantwortung treten und im Gefüge der Gesellschaft oft wie reale Entitäten funktionieren, scheint ein beachtenswerter Gedanke. Nicht zuletzt ist es eine alte Frage: So spricht bereits Kant über die Verrohung des Menschen bei der Misshandlung menschenähnlicher Wesen, und auch in der aristotelischen Poetik finden sich Normen zum Schicksal erfundener Seelen. Diese Fragen werden die Literatur folglich noch über die Saison hinaus zu beschäftigen wissen.