Michael Fehr glänzt im Schatten

Anlässlich von Michael Fehrs Lesung im Dunkeln treffen wir den Autor von „Simeliberg“ (2015) zu einem Kurzinterview. Sein Erzählband „Glanz und Schatten“, jüngst im Verlag der gesunde Menschenversand erschienen, hat Suchtpotential und hallt noch lange nach der Lektüre nach. Wir wollten von Michael Fehr wissen, was es für ihn heisst, seine mündlichen Texte auf einmal verschriftlicht zu sehen und worin er die Verbindung seiner Wortkunst zum Blues sieht.

Gerade hast Du im Palais Besenval im Dunkeln vorgelesen (bzw. frei rezitiert). Was bedeutet es für Dich in einem finsteren Saal aufzutreten?

Ich habe anfangs zwanzig in der Blinden Insel, einem Restaurant ähnlich der blinden Kuh gearbeitet. Die Dunkelheit hatte aber auf mein Verhalten keinen besonderen Einfluss. Ich merke aber, dass es mich entspannt, im Dunkeln zu sein. Und ich verspüre Lust, mit Geräuschen zu experimentieren. Die Skalierung von Tönen im Dunkeln ist ja viel feiner, weil die Dunkelheit die auditive Wahrnehmung sensibilisiert. Ich kann dann auch viel selbstverständlicher mit Pausen umgehen. Wenn die Leute aber sehen, habe ich immer das Gefühl, meine Langsamkeit über eine Show etablieren zu müssen.

Deine Sprache ist eine sehr mündliche, eine impulsive Sprache. Schmerzt es Dich nicht ein wenig, Deine Erzählungen als verschriftlichte, festgesetzte Äusserungen in einem Erzählband wiederzufinden?

Nein, eigentlich nicht. Ich habe zu meinen Texten ein Verhältnis wie zu einer Partitur. Dieser Begriff hat sich unterdessen auch etabliert. Es ist ein gutes Bild dafür. Schrift hat für mich Konservenfunktion, sonst keine. Unser Bedürfnis nach Verschriftlichung, ist das Bedürfnis nach Konservierung. Wie zu Goldrausch-Zeiten als einige Abenteurer versucht hatten, eine Goldquelle in Kanada zu erreichen. Da war es das Corned Beef, das ihnen das Leben gerettet hat. Konserve ist also nicht nur schlecht (lacht). Schrift ist genau das, eine Möglichkeit zur Aufbewahrung, aber auch zur Distribution. Ausserdem ist es für Leute, die viel lesen, einfacher die Konstruktion meiner Geschichten nachzuvollziehen, wenn sie ein Buch vor sich haben. Das ist mir auch wichtig, weil manchmal der Verdacht entsteht, dass meine Geschichten aufgrund ihrer Mündlichkeit, simpel wären. Aber die Texte sind komponiert und komplexe Systeme. Das kann man im Schriftlichen besser nachempfinden. Wenn ich die Texte nur mündlich wiedergeben würde, wäre meine Stimme schon ein erster Filter, Interpretation.

Deine Erzählungen kommen ohne ausufernde Formulierungen und seitenlange Beschreibungen aus. Sie sind gerade in ihrer Verknappung Klangkunstwerke. Siehst Du darin die Verbindung Deiner Texte zum Blues?

Vielleicht, ja. Lustigerweise wurde mein erstes Buch „Kurz vor der Erlösung“ als das Gegenteil beschrieben: üppig, opulent… Mich interessiert sicher beides. Was passiert, wenn man in einem überschwänglichen Sinn kompositorisch wird? Üppig sein, ist auch eine Form von Selbstverliebtheit. Keine Üppigkeit ist notwendig, aber vielleicht schön. Später habe ich diese Worte nicht mehr gebraucht, nur noch gedacht. Diskrepanz ergibt sich da, wo ich intellektuell daherrede, aber eigentlich etwas ganz elementares sagen will: Vermitteln will ich ein Gefühl von Essenz, von etwas Purem. Wie viele Wörter brauche ich überhaupt, um meine Essenz zu überbringen? Ein Teil vom Blues ist auch das Unvermögen am Instrument. Mir geht es um eine bestimmte Art des Erzählens. Und diese Bluesmusiker, die den Vorgang des Erzählens sehr sichtbar gemacht haben, hatten oftmals keine andere Möglichkeit mehr. Darin sehe ich meine Verbindung zu ihnen: wenn die Behinderung eines Menschen auf einmal zu einer Tatkraft führt. Für mich sind die Bluesmusiker meine Ahnen.

Mit Michael Fehr sprachen Seraphin Schlager und Mirja Keller.

Das ganze Gespräch lesen Sie in Kürze auf buchjahr.ch.

Die Stunde der kurzen Form – ein Porträt

Am Freitagabend wurde im Landhaus die „Stunde der kurzen Form“ ausgetragen. Acht AutorInnen haben sich an dieses sprachliche Experiment gewagt und zwischen zwei Vortragsarten gewählt: Dem japanischen PechaKucha, in welchem 20 Bilder à jeweils 20 Sekunden besprochen werden müssen oder Power Point Karaoke, bei welchem zu vorgegebenen Bilder frei assoziiert wird. Für alle, die gestern nicht mit von der Partie waren, weil sie an der Aare die letzten Sonnenstrahlen bei einem Aperol Spritz genossen (wer kann es ihnen verübeln) oder der zeitgleichen Performance des Autorenkollektivs L’AJAR beiwohnten, hier ein Porträt der Darbietenden:

Valerio Moser und Remo Rickenbacher – Die Cabaretisten
Die beiden Slam-Poeten stellten sich in ihrer PechaKucha-Darbietung die Frage, ob sich ihre Kunst eigentlich Literatur nennen darf. In einer satirischen Zusammenstellung präsentierten sie ihre Eindrücke von den letzten Solothurner Literaturtage: „Literaten“, das sind bescheidene, schlanke, ältere Herren in karierten Hemden, die auf der Bühne nur Wasser trinken, ihr Publikum grau meliert und artig. Slam-Poeten dagegen: untrainierte, Trivialliteratur verschlingende, Whisky bevorzugende, Klischees verbreitende Typen, deren Fangemeinde sich kaum auf den Stühlen halten kann. Doch genug der Stereotypen: So viele Worte in so kurzer Zeit runterzulaiern und trotz der vielen Bilder einen roten Faden durchzuziehen ist eine Kunst für sich! Gut getaktete, mitreissende Unterhaltung.

Katja Alves – Die Selbstironische
Was passiert, wenn sich eine Kinderbuchautorin (ein bisschen zu viel) der Ironie bedient, konnte man an Katja Alves PechaKucha sehen. In einer mehr oder weniger ernst gemeinten Präsentation ihres Lebens als Kinderbuchautorin parodiert sich die gebürtige Portugiesin auf humorvolle, sympathische Art selbst. Leider wollte die Technik nicht ganz so, wie sie sollte.

Gerhard Meister – Der Zauderer
Der Berner Lyriker war der einzige, der sich nebst Daniela Dill an die Impro-Darbietung der Power Point Karaoke wagte. Dafür sei ihm hier schon einmal Respekt gezollt. Seine spontane Präsentation zum Thema Arbeit vermochte jedoch nicht ganz zu überzeugen. Meister bevorzugte es, die 20 Sekunden pro Bild mehrheitlich wartend zu bestreiten. Kann man machen.

Amsél – Die Ethnologin
Die Fotografin und Autorin versuchte sich an einer ethnologisch angehauchten Zusammenstellung interkultureller Partnerschaften, die aus verschiedenen Erdteilen kommend, dennoch zusammengefunden haben. Dabei fand sie schöne Parallelen zwischen nomadisch veranlagten Menschen und Zugvögeln.

Tom Kummer – Der Autofiktionale
Kummers PechaKucha-Performance bewegte sich in der Grauzone von Wirklichkeit und Fiktion. In nur wenigen Minuten lieferte er eine dichte, stimmige Zusammenfassung der grossen Liebe von „Nina & Tom“, ohne eine Antwort auf die Frage nach dem Geheimnis ihrer Verbindung zu finden. Mit dem Tod von Nina beendete er seinen verstörenden und zugleich bewegenden Wortschwall.

Daniela Dill – Die Spontane
Gekonnt bringt Daniela Dill ihre Power Point Karaoke-Show über die Bühne. Die ihr unbekannten Bilder zum Thema Glamour verdichtet sie geschickt zu einer improvisierten Kurzgeschichte über Marie-Antoinette von Wittgenstein, eine Adlige, die mittellos in einer Pariser Dienstwohnung ihr Leben als Angestellte fristet. Dass Daniela Dill eine virtuose Slam Poetin ist, hat sie mit dieser spontanen Darbietung unter Beweis gestellt.

Franzobel – Der Ignorante
Der Wiener Schriftsteller las während seines Auftritts in scheinbar stoischer Ruhe aus seinem viel besprochenen Roman „Das Floss der Medusa“ vor. Die hinter seinem Rücken erscheinenden Bilder, verschiedene Darstellungen des Übersee-Unglücks, beachtete er dabei kaum. Bild-Ton-Korrespondenz geht anders.

 

Vom Leben in einem Spalt

Ein wenig nervös erscheint Flurin Jecker zur Lesung seines Debütromans „Lanz“ in der Säulenhalle. Er: 26-jährig; das Publikum mehrheitlich doppelt so alt; der Roman ein Buch über einen pubertierenden Jungen. Ob diese Kombination funktionieren kann? Sie kann! Lanz‘ Jugendsprache, in der die Fliegen und Kühe herumlatschen und alles ULTRA dramatisch und ULTRA schlecht ist, zieht einem sofort in die Untiefen eines Teenager-Universums. Das Publikum lacht und denkt dabei wohl auch an die eigene verkorkste Jugendzeit zurück. Auch Flurin Jecker erlaubt sich bei einigen Passagen zu lachen, nun wissend, dass er das Publikum in der Tasche hat. Einziger Kritikpunkt, wenn man Lanz hört, ist, dass seine Gedankensprünge von Erzählungen über die Kindheit wieder zurück zur Realität nicht immer ganz klar sind. Ob es daran liegt, dass er in Blogform schreibt, und ein Blog eben zum Selberlesen gedacht ist?

Moderatorin Karin Schneuwly möchte denn auch von Jecker wissen, was ihn denn so an diesem Teenie-Alter fasziniert habe, dass er gleich seine Abschlussarbeit des Schweizerischen Literatur-Instituts in Biel darüber geschrieben habe. Jecker meint, er habe einfach begonnen zu schreiben. Irgendwann habe er dann gemerkt, dass seine Hauptfigur ziemlich viel zu sagen hätte, und dass diese eben noch sehr jung sei.

In diesem Alter verlässt man seine Kindheit, man verliert die Geborgenheit und enge Verbindung zu den Eltern, aber hat nichts womit man diese Lücke füllen kann. Man geht ja immer noch zur Schule; aber man lebt wie in einem Spalt – das Alte ist vorbei, das Neue aber noch nicht da.

In der anschliessenden Signierstunde zeigt sich, dass Flurin Jecker ein sympathischer junger Autor ist, der noch immer von seinem eigenen Erfolg überrascht und überwältigt ist und sich deshalb über jeden einzelnen freut, der seinen „Lanz“ mit einer persönlichen Widmung nach Hause tragen möchte.

 

Flurin Jecker sagt siebenmal Nein

Obwohl er zum ersten Mal an den Solothurner Literaturtagen aus seinem Debütroman «Lanz» liest, lässt sich der 26-jährige Flurin Jecker in keine Schubladen stecken. Auf beinahe jede Frage der Moderatorin Karin Schneuwly antwortet er mit einem bestimmten „Nein“ und lässt diese am Schluss etwas ratlos zurück. Im Protokoll liest sich das etwa so:

Ist dein Debutroman «Lanz» eine stille Verneigung vor Büchners «Lenz»?

Nein, ich habe dabei gar nicht an dieses Buch gedacht. Natürlich hatte ich beim Schreiben auch andere Literatur im Kopf, aber als eine Hommage ist «Lanz» nicht zu lesen.

Die Flucht des Protagonisten Lanz aus der Projektwoche aufs Land ist ja schon fast eine politische Haltung, im Sinne von: geht von der Schule weg und findet euch…

Nein, das ist nicht politisch. Vor allem ist es harmlos. [Lanz packt einen Tag vor Ferienbeginn seine Sachen ohne seinen Eltern ein Wort zu sagen und fährt mit dem Zug ins Bündnerland zu seinen Verwandten.] Meine These ist eben gerade, dass die Jugendlichen nicht immer schlimme Sachen tun wollen, wie etwa ein Auto klauen, wie das alle erwarten würden. Lanz findet sein Glück in altmodischen Sachen, wie Gespräche oder die Verbundenheit mit der Natur – in dem er mit seinen Cousins etwa Maulwurfhügel sucht. Dadurch findet er wieder zu sich selbst.

Idealisierst du damit nicht das Land gegenüber der Stadt?

Diese Gefahr besteht, aber ich glaube es geht bei dieser Flucht viel mehr darum, dass Lanz nicht mehr nur in seinem Kopf lebt. Und dass er zu einem Ort voller Kindheitserinnerungen zurückkehrt. Das könnte auch in der Stadt geschehen.

Das Hauptthema der Jugendlichen ist ja Sex…

Nein, dem würde ich widersprechen. Ich bin ja jetzt 26 Jahre alt und die Faszination dafür hat immer noch nicht aufgehört. Deshalb sollte Lanz nicht darauf reduziert werden. Er will ja auch nicht eine vögeln, sondern viel lieber mit einem Mädchen schreiben.

Handelt es sich dabei etwa um eine Ödipusgeschichte?

Nein, die Versöhnung von Lanz mit seiner Mutter findet statt, weil er am Ende der Geschichte seine Lebendigkeit wieder findet und deshalb die Verbindung zu ihr wieder sucht.

Ist das Buch als eine stille Kritik der Überreizung der Jugendlichen durch die sozialen Medien zu lesen?

Nein, im Gegenteil. Es geht ja vor allem ums Schreiben, was ja völlig «reizunterflutend» ist. Meine These ist, dass Lanz diese Reize eben nicht braucht und vor dieser Überflutung eher flüchtet.

Das Buch hat ja eine ganz eigene Sprache. Hast du zu diesem Zweck 14-jährige beim Sprechen beobachtet?

Nein, überhaupt nicht. Viele haben mit zwar diesen Tipp gegeben, aber das hat mich überhaupt nicht interessiert. Das wäre ja auch unsinnig, da sich Sprache immer so schnell weiterentwickelt. Um dies einzufangen ist der Literaturbetrieb ja viel zu langsam. Die Sprache sollte nicht einer spezifischen Zeit, sondern der Hauptfigur des Romans treu bleiben. Kein Jugendlicher heute würde etwa das das Wort «ultra» benutzen, aber Lanz nehme ich das ab.

Sechs Figuren suchen eine Autorin

In der Westschweiz schon lange kein Geheimtipp mehr, im Osten hingegen noch fast ungesehen, hatte die „Association de jeunes auteur-e-s romandes et romands“ – kurz: L’AJAR – gestern abend ihren ersten eindrücklichen Auftritt in Solothurn.

Im Zentrum der Performance stand die fiktive Autorin Esther Montandon, eine der „meistgelesenen Autorinnen des 20. Jahrhunderts“, die auch das von L’Ajar herausgegebene „Vivre près des tilleuls“ verfasst hat und der die sechs Akteure gestern im Kino Uferbau ihre Stimmen liehen. Es war eine ganz eigene Art der Autorfiktion, die sich da abzeichnete: Nach und nach reicherte L’Ajar die knappe Lebensbeschreibung der Montandon mit Parenthesen an, bis da auf einmal eine ganze Erzählung vor den Zuschauern stand. Aus der Überzeugung des kollektiven Schreibens erwuchs so reziprok wieder Autorschaft – nur um dann in einer zweiten Performance wieder zu zerfallen. Die literarische Arbeit in der Community wurde auf einmal als ein Zersetzungsprozess im Wordprozess sichtbar, immer wieder wurde der an die Wand projizierte Text umgeschrieben, bis er auf jene vier Zeilen heruntergekürzt war, die das vierundvierzigste Kapitel von „Vivre près des tilleuls“ bilden:

Personne ne m’avait expliqué le vide au creux des entrailles, le vrombissement dans le cerveau, le tremblement des mains. Qu’on me rende ma fille quelques années, quelques jours. Elle me manque.

Der Vortrag des programmatischen Schlusstextes blieb dann leider etwas hinter den vorigen Darbietungen zurück, allein das Timing der gesprochenen Einzelsequenzen war bewundernswert. Und so blieb dann am Ende dasjenige über, was Esther Montandon uns zu verstehen aufgetragen hat: „la fiction n’est absolument pas le contraire du réel.“

P.S.: Wer L’Ajar gestern verpasst hat, kann das Versäumnis am Sonntag um 14 Uhr – erneut im Kino Unterbau – nachholen. Dann allerdings gibt es „Lecture“.

Messerscharfe Mundakrobatik

Drei Performer mit je einem eigenen Stil, die sich aber alle in der Mundart-Szene bewegen. Eine Rapperin, die energiegeladen nach Reimen sucht, um Grenzen aufzubrechen; ein junger Texter, der sich den Schaden der Neophyten in der Schweiz zu Nutzen macht für seinen literarischen Werdegang; und eine Autorin, die das Sprachenwirrwarr mag, von sich aber behauptet, die Sprachen nicht gut zu beherrschen – das war SRF Schnabelweid «spoken word», live aus der Cantina del Vino in Solothurn. Moderatorin Monika Schärer stellte gezielt Fragen und Mundart-Redaktor Markus Gasser versuchte die Gäste Big Zis, Emanuel Bundi und Ariane von Graffenried sprachlich aus der Reserve zu locken, worauf sich diese aber nicht immer einliessen.

Big Zis’ Performance war geprägt von den klaren Rhythmen und wechselnder Stimmlage und beeindruckte durch schnelle Reime und Wortwiederholungen. Gasser meint dazu: «In diesen Wörtern kann man sich treiben lassen, sie sind mehr als nur Spielerei, denn es sind ernste Themen, die angesprochen werden.» Der Text lebt genau von diesen Bewegungen und Veränderungen und nicht vom einzelnen Wort. «Ich mag es gar nicht, wenn man diese Sachen so genau auseinandernimmt, denn dann bleibt nicht mehr viel übrig», ergänzt sie lachend. Dies hat leider auch zur Folge, dass der Zuschauer nicht jede Anspielung nachvollziehen kann, da das Tempo der vermittelten Gedanken unglaublich schnell ist. In dem Moment, indem sie von der beschwerlichen Planung des neuen Albums spricht, fliegt eine Taube aus dem hinteren Barraum zielstrebig durch die offene Tür nach draussen. Ob dies wohl die Muse war, scherzt Schärer.

Bundis Text in nicht ganz reinem Berndeutsch, wie Gasser betont, nimmt den Zuhörer mit zu einer Begegnung mit Zipfel, der im Zivildienst Neophyten zupft mit Asylanten, die dadurch lernen, wie mit Eindringlingen umgegangen wird. Was erstmal ernsthaft klingt, wird durch Bundis Performance zu einem amüsanten Erlebnis. Laut Gasser bleibt denn auch die Frage offen, wer denn jetzt wem wodurch schade und ob man darin einen gewissen Rechtspopulismus lesen könne. Bundi umschifft die Frage und betont das Positive: «Die Neophyten sind nützlich für meinen literarischen Werdegang, PUNKT.» Was wieder für einige Lacher sorgt.

Weiter über den Schweizer Tellerrand wagt sich Ariane von Graffenried hinaus. Sie trägt Texte vor, die von Fernweh und fremden Welten durchdrungen sind, und die durch wortgewandte Wendungen in Deutsch, Mundart, Französisch und Italienisch imponieren. Ihr gefalle der Klang der verschiedenen Sprachen, durch die auch immer wieder neue Reimmuster entstehen. Durch die Globalisierung vermische sich alles neu. Gasser deutet darauf hin, dass verschiedene Traditionen in ihren Texten vorkommen, z.B. Sätze von Mani Matter. Dürfe man Tradition in Häppchen servieren? «Man darf alles», ist von Graffenrieds eindeutige Antwort darauf.

Auf die Schlussfrage, was die drei denn von Trauffer und seiner Art der Mundart-Performance in «Heiterefahne» halten, überschlagen sich die Antworten. Big Zis findet es problematisch, die eigene Heimat derart zu idealisieren; von Graffenried bezeichnet Trauffers Musik als folkloristischen Schlager, der nicht zu vergleichen ist mit dem, was sie machen; und Bundi plädiert dafür, den Fans diese Illusion der schönen Heimat zu belassen. Hätte Monika Schärer die Diskussion nicht unterbrochen, wäre sie wohl noch deutlich explosiver geworden. Sie schliesst auch mit den Worten: Wir sind nun in einem kleinen Tümpel der spoken-word-Welt geschwadert und haben spannende Einblicke in das Schaffen der Performer erhalten. Und sie hat Recht, dies war ein Ausschnitt, der aufzeigt, wieviel es noch zu diskutieren und entdecken gibt, wie beispielsweise die musikalisch literarische Performance von Big Zis mit Göldin und Narcisse  am Samstag oder die Kurzlesung von Emanuel Bundi am Sonntag 

Simone Ullmann & Pia Weidmann

Von Dystopien und Scheinheiligen

Die Cantina del Vino, eine charmante Weinbar gleich an der Aare, ist seit kurzem  auch ein Radiostudio: Hier werden in den nächsten Tagen Live-Beiträge von SRF 2 übertragen. Heute Abend zu Gast: Martina Clavadetscher, Schriftstellerin und Kolumnistin und Michael Angele, stellvertretender Chefredakteur von „Der Freitag“.

„Gutes Wetter und Literatur schliessen sich nicht aus“, so die Einstiegsworte von Moderatorin Luzia Stettler, die auf die überfüllte und frischluftarme Cantina del Vino anspielt. Die Hitze tut der gespannten Stimmung im SRF-Provisorium aber keinen Abbruch: Der Kurzlesung von Martina Clavadetscher aus ihrem soeben erschienenen Roman „Knochenlieder“ wird gebannt gelauscht, auch wenn die Autorin düstere und verstörende Zukunftsvisionen zeichnet. „Knochenlieder“ erzählt die Geschichte zweier Familien, die zunächst als Aussteiger in einem Wald leben, deren Kinder aber die Welt sehen wollen und aus dem sicheren Hafen ausbrechen. Die Welt „draussen“ ist jedoch ein erbarmungsloser Überwachungsstaat, der die Menschen nach ihren Passierscheinen beurteilt und stark an George Orwells 1984 erinnert. Ist diese Dystopie möglicherweise bald Realität? Clavadetscher verneint – zaudernd. Die heutige Welt sei bloss ihr literarischer Nährboden gewesen. Aber: „Es ist wichtig, dass wir unsere Probleme reflektieren und dass man den Finger auf aktuelle Wunden legt“, so Clavadetscher. Darin sehe sie auch die Stärke und das Potential von Literatur.

Eine nicht weniger düstere Zukunft – zumindest für alle Freunde des gedruckten Worts – imaginiert Michael Angele in seinem essayistischen Buch „Der letzte Zeitungsleser“. Typographisch wie ein Zeitungsartikel gestaltet, stilisiert Angele darin das Zeitungslesen zur Lebensform. Ist die Veröffentlichung eines wehmütigen Abgesangs auf das bedruckte Papier als Informationsquelle nicht etwas scheinheilig, wenn man  als zeitgemässer Zeitungsredakteur, selbst im digitalen Zeitalter angekommen, einen Online-Auftritt mitbetreibt, hakt Luzia Stettler nach. Und trifft damit ins Schwarze. Michael Angele muss ihr etwas zähneknirschend recht geben. Aber: „Gelesen wird ja immer“, so Angele. Wenn auch die Papierform in der Zeitungsbranche zunehmend marginalisiert wird, so erfreuen sich Bücher nach wie vor grosser Beliebtheit. Michael Angele hat für seinen Nachruf vorausschauend ein Medium von längerer Dauer gewählt. Ob da ein gewisser Zynismus mitschwingt, sei einmal dahingestellt.

 

Lesedramen

„Wie einer lebt im Jahr 2016, in Berlin, und wie dieser jemand zufällig ich ist“ – so lautet nach eigenem Bekunden die Vorgabe für Matthias Zschokkes aktuellen, von der Kritik zu Recht sehr wohlwollend aufgenommenen Roman „Die Wolken waren groß und weiß und zogen da oben hin“. Aus dem scheinbar Zufälligen, Alltäglichen poetische Prosa zu gewinnen, gehört zu Zschokkes seit mehr als drei Jahrzehnten unter Beweis gestellten Gaben. Entsprechend gross ist das Interesse, Zschokke füllt den Saal. Mit einer Prosa, die gerade die grosse Geste zu meiden sucht und sich, wie der aktuelle Roman auch thematisch macht, eher im scheinbar absichtslosen Parlando oder gar Kneipengespräch heimisch fühlt. Entsprechend schnell sucht Zschokke nach einem von allerlei Kleintier und Publikumslachern bevölkerten ersten Leseteil den Weg aus dem Moderatorengespräch. „Ich glaub, ich les am besten weiter“, unterbricht der gewohnt lakonisch auftretende Autor seinen Exkurs über die nicht unbedingt verkaufsfördernd ausstaffierten Todeswünsche seiner Figuren. Einige einleitende Worte zu dem im Roman aufgebotenen Theaterstück lässt er sich dennoch nicht nehmen. Dramen habe er immer gern gelesen und bedaure, dass diese Praxis offenbar am Aussterben sei. Thomas Bernhards prosanahe Stücke dienen denn auch seiner erfolglos um ein eigenes Drama ringenden Figur als Vorbild. Das freilich nicht ganz erreicht wird. Vielmehr erscheint ihr das eigene Sprechen „als eine Art Blähung, viel Reden bläht mich auf, darum hasse ich mich, wenn ich zu viel rede.“ Während die Figur noch räsoniert, ob den entweichenden Gasen mit einem Streichholz beizukommen sei und die eigene Bewegungslosigkeit beschwört, während um sie herum neue Geschäfte kommen und wieder verschwinden, wird es den ersten Zuhörerinnen und Zuhörern zu viel des Guten. Was keineswegs gegen Zschokkes perfekt gearbeitete, nur scheinbar absichtslos ergehende Prosa spricht. Die man einmal live erlebt haben sollte, um desto entschiedener ihre unerhörten Qualitäten als Lesedrama schätzen zu können. Dessen Ort eben nicht die ganze grosse Bühne ist.

Feierabend

Kein Blog ohne Katze.

Ausserhalb der Altstadt war es an diesem sonnigen ersten Tag der 39. Solothurner Literaturtage menschenleer. Auf der Ausfallstrasse nur eine humpelnde Katze.

Das Pressebüro schliesst. Der Samstag beginnt mit einem Rückblick auf einen ereignisreichen Abend, unter anderem mit Matthias Zschokke, Spoken Word, Lukas Bärfuss und Flurin Jecker.

Live weiter geht es dann morgen ab 10.00, auf dem Programm stehen u.a. Julia Weber, Pascale Kramer, Tim Krohn, demokratische Krisen, Autorengefängnisse – und der Match der Autoren-Nati gegen Raketen Solothurn.

„Der bedrohliche Glanz des Leidenschaftlichen“

„Ich stand vor ihm, konnte nicht mehr sprechen, sah nicht mehr seine Jugend, sondern steckte auf einmal wieder in meiner eigenen, wir waren gleich alt, gleich unerfahren, ich war verstockt und schüchtern, wollte gerade die Hand ausstrecken, da schwang plötzlich der Boden, mir war schwindelig, die Lampe flackerte, jemand kam auf der Brücke auf uns zu, ein Mann, wer war das bloß, einer vom College oder ein townie? Es war weit nach Mitternacht, ich drehte mich weg, wollte nicht erkannt werden, drückte mich an das Geländer, spürte das Holz an meiner Wange, es war absurd.“ Es ist dies eine der Szenen, die Zora del Buono im Landhaussaal an diesem Freitagnachmittag aus ihrem neuen Roman Hinter den Büschen, an eine Hauswand gelehnt (C.H. Beck, 2016) vorliest. In ihrem fünften Roman, der mit dem Anerkennungspreis der Stadt Zürich ausgezeichnet wurde, wagt sich del Buono gleich an zwei Themen, über die man nicht ohne Weiteres reden darf, „weil sie eigentlich nicht sein dürfen“. Schauplatz ist der Campus einer Universität an der Ostküste Amerikas im Sommer 2013. Die 50-jährige Vita Ostan gibt einen siebenwöchigen Journalismuskurs und verliebt sich in Zev Swartz, ihren begabtesten Studenten, der nicht halb so alt ist wie sie. In diesem Sommer enthüllt Edward Snowden, bald weltberühmt, das Ausmass der weltweiten Überwachungs- und Spionagepraktiken amerikanischer Geheimdienste. Noch nie scheint Politik so sehr in die Wohnzimmer der Bevölkerung einzudringen wie jetzt, und sie tut es auch ins Schulzimmer Vita Ostans – und spaltet die Lager: „Edward Snowden ist ein Held“, schliesst Zev sein Referat, den „bedrohlichen Glanz des Leidenschaftlichen“ in seinen Augen. „Edward Snowden ist ein Verräter“, entgegnet eine andere Studentin. Das Ineinandergreifen von Privatem und Öffentlichem inszeniert del Buono in diesem Roman auf raffinierte Weise: Wenn Vita Ostan darauf gefilzt wird, weil sie sich verdächtig gemacht hat, spiegelt sich das Grosse im Kleinen. Del Buono ist an diesem Freitagnachmittag gut gelaunt. Sie erzählt locker, aber engagiert und mit einer beinahe persönlichen Betroffenheit und scheut im Gespräch mit Moderatorin Valeria Heintges nicht vor den heiklen Themen zurück, die sie literarisch verhandelt hat.

In jenem politisch aufgeregten Sommer 2013 war auch die Autorin Zora del Buono in den USA und gab eine Sommerschool in Journalismus. Über Snowden wurde ihres Erachtens viel zu wenig diskutiert. „Wir finden es ja schon selbstverständlich, dass wir überwacht werden.“, meint del Buono und gibt fortan immer weitere autobiographische Parallelen preis: „Ich war empört, dass niemand empört war. Und da gab es einen Studenten, der auch empört war.“

„Ich wollte über uns reden, über die Unmöglichkeit des uns“, lässt Zora del Buono in einer weiteren Passage ihre Protagonistin denken. Doch an deren Statt spricht sie von Vladimir Nabokov und Thomas Mann. Del Buono verarbeitet den Diskurs, in den sich ihr Roman einreiht, gleich mit in ihren Text, obschon in verkehrter Ordnung. Das männlich dominierte Genre vom Klischee der Liebe zwischen einem älteren Professor und einer jungen Studentin mischt del Buono neu auf und bespricht auf unverbrauchte und ehrliche Weise dieses Verlangen und die Unvernunft: „Das was fasziniert, hat mit der eigenen Jugend zu tun, wie man selber war und wie man sein möchte.“

„Die Frau ab 40 wird als sexuelles Wesen gar nicht mehr wahrgenommen. Man sagt, „sie sieht ja noch gut aus für ihr Alter“, anstatt einfach „Sie sieht gut aus.“. Der Körper der Männer hingegen ist seit jeher weniger wichtig als der weibliche. In unserer Gesellschaft ist die Beziehung zwischen einem älteren Mann und einer jüngeren Frau gesellschaftstauglich, andersherum ist es schwierig und wird oft im selben Atemzug mit dem Ödipuskomplex genannt. Dabei: Was ist so schlimm daran? Was verwerflich am Bedürfnis nach etwas Mütterlichkeit?“, fragt del Buono ins Publikum.

Mit Selbstironie, Leidenschaft und sehr viel Ehrlichkeit erzählt Zora del Buono an diesem Nachmittag von den Grenzen des Privaten und Öffentlichen und deren zunehmende Auflösung. Wie weit darf Überwachung gehen? Und um welche Sicherheit handelt es sich, wenn sie der Preis dafür sein soll? Die Lust das Buch zu lesen, hat sich auf jeden Fall eingestellt.