Michael Fehr glänzt im Schatten

Anlässlich von Michael Fehrs Lesung im Dunkeln treffen wir den Autor von „Simeliberg“ (2015) zu einem Kurzinterview. Sein Erzählband „Glanz und Schatten“, jüngst im Verlag der gesunde Menschenversand erschienen, hat Suchtpotential und hallt noch lange nach der Lektüre nach. Wir wollten von Michael Fehr wissen, was es für ihn heisst, seine mündlichen Texte auf einmal verschriftlicht zu sehen und worin er die Verbindung seiner Wortkunst zum Blues sieht.

Gerade hast Du im Palais Besenval im Dunkeln vorgelesen (bzw. frei rezitiert). Was bedeutet es für Dich in einem finsteren Saal aufzutreten?

Ich habe anfangs zwanzig in der Blinden Insel, einem Restaurant ähnlich der blinden Kuh gearbeitet. Die Dunkelheit hatte aber auf mein Verhalten keinen besonderen Einfluss. Ich merke aber, dass es mich entspannt, im Dunkeln zu sein. Und ich verspüre Lust, mit Geräuschen zu experimentieren. Die Skalierung von Tönen im Dunkeln ist ja viel feiner, weil die Dunkelheit die auditive Wahrnehmung sensibilisiert. Ich kann dann auch viel selbstverständlicher mit Pausen umgehen. Wenn die Leute aber sehen, habe ich immer das Gefühl, meine Langsamkeit über eine Show etablieren zu müssen.

Deine Sprache ist eine sehr mündliche, eine impulsive Sprache. Schmerzt es Dich nicht ein wenig, Deine Erzählungen als verschriftlichte, festgesetzte Äusserungen in einem Erzählband wiederzufinden?

Nein, eigentlich nicht. Ich habe zu meinen Texten ein Verhältnis wie zu einer Partitur. Dieser Begriff hat sich unterdessen auch etabliert. Es ist ein gutes Bild dafür. Schrift hat für mich Konservenfunktion, sonst keine. Unser Bedürfnis nach Verschriftlichung, ist das Bedürfnis nach Konservierung. Wie zu Goldrausch-Zeiten als einige Abenteurer versucht hatten, eine Goldquelle in Kanada zu erreichen. Da war es das Corned Beef, das ihnen das Leben gerettet hat. Konserve ist also nicht nur schlecht (lacht). Schrift ist genau das, eine Möglichkeit zur Aufbewahrung, aber auch zur Distribution. Ausserdem ist es für Leute, die viel lesen, einfacher die Konstruktion meiner Geschichten nachzuvollziehen, wenn sie ein Buch vor sich haben. Das ist mir auch wichtig, weil manchmal der Verdacht entsteht, dass meine Geschichten aufgrund ihrer Mündlichkeit, simpel wären. Aber die Texte sind komponiert und komplexe Systeme. Das kann man im Schriftlichen besser nachempfinden. Wenn ich die Texte nur mündlich wiedergeben würde, wäre meine Stimme schon ein erster Filter, Interpretation.

Deine Erzählungen kommen ohne ausufernde Formulierungen und seitenlange Beschreibungen aus. Sie sind gerade in ihrer Verknappung Klangkunstwerke. Siehst Du darin die Verbindung Deiner Texte zum Blues?

Vielleicht, ja. Lustigerweise wurde mein erstes Buch „Kurz vor der Erlösung“ als das Gegenteil beschrieben: üppig, opulent… Mich interessiert sicher beides. Was passiert, wenn man in einem überschwänglichen Sinn kompositorisch wird? Üppig sein, ist auch eine Form von Selbstverliebtheit. Keine Üppigkeit ist notwendig, aber vielleicht schön. Später habe ich diese Worte nicht mehr gebraucht, nur noch gedacht. Diskrepanz ergibt sich da, wo ich intellektuell daherrede, aber eigentlich etwas ganz elementares sagen will: Vermitteln will ich ein Gefühl von Essenz, von etwas Purem. Wie viele Wörter brauche ich überhaupt, um meine Essenz zu überbringen? Ein Teil vom Blues ist auch das Unvermögen am Instrument. Mir geht es um eine bestimmte Art des Erzählens. Und diese Bluesmusiker, die den Vorgang des Erzählens sehr sichtbar gemacht haben, hatten oftmals keine andere Möglichkeit mehr. Darin sehe ich meine Verbindung zu ihnen: wenn die Behinderung eines Menschen auf einmal zu einer Tatkraft führt. Für mich sind die Bluesmusiker meine Ahnen.

Mit Michael Fehr sprachen Seraphin Schlager und Mirja Keller.

Das ganze Gespräch lesen Sie in Kürze auf buchjahr.ch.

Page 99

Matthias Zschokke und Zora del Buono sitzen sich heute gegenüber bzw. nebeneinander im Dialog, dem offenen Format, in dem zwei Autoren – die sich vorher nicht kennen – ohne Moderation ein Gespräch führen. Voraussetzung ist, dass die beiden das jeweils neueste Buch des anderen gelesen haben. (Zschokke und del Buono hatten sich vorher erst einmal getroffen, und zwar bei einem kulturellen Anlass der Schweizer Botschaft in Berlin, an dem das schweizerdeutsche Wort „Chäsbrägu“ eine Rolle spielte.)

Del Buono beginnt nun, indem sie eine Seite aus Zschokkes neuem Buch „Die Wolken waren gross und weiss und zogen da oben hin“ vorliest und ihn anschliessend zu einem Aspekt befragt, der ihr in seinen Geschichten desöfteren auffällt: Körper, der Ekel vor dem Körper und die Lust am Ekel vor Körpern. Zschokke geht jedoch leider gar nicht auf die Frage ein, sondern eröffnet stattdessen einen längeren Monolog, indem er von seinen vorbereiteten Notizen abliest und von etwas ganz Anderem spricht.

Unter anderem erzählt er von dem „Page 99“-Test, den der englische Literaturkritiker Ford Madox erfunden hat (im deutschsprachigen Raum hat ihn mittlerweile das „Tell“-Magazin übernommen) und der besagt, dass man die Seite 99 eines – zur Lektüre beabsichtigten –  Buches aufschlagen und diese lesen soll, da sich dort (im Gegensatz zur ersten Seite oder dem Buchrücken) die wahre Qualität eines Buches eröffne. Zschokke bemerkt, dass dieser Test bei del Buonos Buch „Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt“ wunderbar funktioniert, man den Charakter des Buches wunderbar einschätzen könne – während der Test bei seinem eigenen Buch versage.

Das Gespräch kommt dadurch sehr schnell auf die Struktur eines Buches und den Plotaufbau eines Romans. Del Buono – als ausgebildete Architektin – geht stets mit sehr viel Augenmass an das Schreiben heran; man „brauche ja schliesslich auch einen Plan, um ein Haus zu bauen“. Zschokke bewundert ihre präzise Schreibarbeit; er selber starte von einem Grundplot, drifte dann aber plötzlich ab, was zur Folge hat, dass er im Nachhinein oft kürzen muss. Del Buono hingegen kürzt nie, sie habe noch nie einen Absatz von dem, was sie geschrieben hat, gestrichen. Stattdessen schreibe sie von Anfang an schon sehr reduziert, ganz nach dem Motto „Form follows function“.

Gekürzt werden musste auch das Gespräch der beiden, die offenbar noch lange hätten weiterdiskutieren können. Bevor die Moderatorin die Veranstaltung beendete, musste del Buono allerdings unbedingt noch das anscheinend tollste Wort in Zschokkes Roman vorlesen: „Durchgangssyndromverwirrung“.

„Hier geschieht etwas.“

Der Plan der Veranstalter lautet so:

Skriptor – Textwerkstatt: Autorinnen und Autoren kommen zur Textarbeit zusammen und diskutieren unveröffentlichte Texte. Dabei wird sichtbar, was sich neben der solitären Schreibarbeit zusätzlich hinter einem literarischen Text verbergen kann: eine Grosszahl an Entscheidungen, die im Gespräch reflektiert und gefällt werden. Zum Schluss kann sich das Publikum einbringen.

Die Szene am Samstagnachmittag, Gluthitze, gestaltet sich wie folgt: Ein unveröffentlichter Text von Barbara Schibli, Korobeiniki. Es diskutieren Martina Clavadetscher und Flurin Jecker, deren Erstlinge in diesem Jahr erschienen sind, Francesco Micieli, Jeckers Ex-Mentor am Literaturinstitut Biel, Ulrike Ulrich und Daniela Bär. Donat Blum moderiert.

In Schieblis Text treffen wir auf eine russische Frau, die doppelsichtig ist. Das eine Auge schielt, „es ist verfault“. Ein Kommissar, vor dem sie sich fürchtet, ihn aber auch verführen will, führt eine Studie durch und macht Kreuze.

Zentral ist ein Gameboy, auf dem „Tetris“ gespielt wird, jenes in „Gameboy“-Zeiten beliebte Spiel mit herabfallenden Formen, bei dem keine Lücken entstehen dürfen.

Nach der Lesung der Autorin meldet sich zunächst die Zürcher Autorin Ulrike Ulrich zu Wort. Sie rühmt Schiblis Sprachkraft, die „Tetris-Welt“ sei sehr schön kreiert, man löse sich darin auf als Leser, man falle sozusagen mit den Würfeln zusammen. Die Würfel seien aber noch nicht ganz angekommen, dem Text fehle es noch an Festigkeit.

Inwiefern ein solches Mass an Irritation erlaubt sei, wird gefragt, und ob es dem Text diene.

Micieli findet viele Stellen, an denen „etwas geschieht“.

Jecker wünscht sich mehr Glaubhaftigkeit, er glaubt dem Kommissar nicht, glaubt der Lückenlosigkeit nicht, fragt, wo das alles hinführe.

Bär, Ulrich und Micieli unterhalten sich darüber, ob der Text gekürzt oder verlängert werden sollte.

Zum Ende der 90 Minuten, in denen der Kommissar überflüssig geworden, die Wünsche der Autoren geäussert und verschiedene Vorstellungen von der „Substanz“ des Textes entworfen und verworfen worden sind, kann „Tetris“ als Metapher für die Stimmung im Textor-Raum verwendet werden. Irgendwie lückenlos.

En attendant Göldin

Hüt heissts Rap-Showdown – HipHop trifft uf Literaturfestival – Göldin und Big Zis! Nume Göldin’s missing… abr keis Problem, d’Rapperin Big Zis bewiist Flexibilität und improvisiert: Tanz de Räge! Du treisch sLache als Uni-uni-uniform. Big Zis schaffts sbildete und au eher ältere Publikum zfasziniere mit ihrer Rhythmusgwalt, Satzmelodie und Wortvielfalt. Abr ned nur das, sie stellt sich au de Frage usem Publikum wo zerst no zögerlich aber denn immer muetiger chömed.

Chauvinismus im Rap? Das isch hüt ned viel anders wie früener, es git di einte und di andere. Es gaht drum sich zverkaufe mit Videoclips. Grad au Fraue, wo ihre Sex verkaufed unds Befreiig nenned, isch fürd Big Zis en zweischniidigi Sach, aber Manneärsch verkaufed sich halt ned. Mit de Klischees im Hiphop het sie scho vo Afang a gern gspielt und abgrechnet. De Rap het sie azoge – de Sexismus, Chauvinismus und und Neoliberalismus findet sie unmögli. Hüt het sie mit ihrem Rap en eigeti Welt gschaffe wo sie di eigentlich Szene gar nüm so intressiert.

Wie entstönd ihri Text? Schriftlich und ned mündlich zum Erstuune vom Publikum. Und stets mit emne Bispiel a Musigg als Basis, nachher wachst das ganze fast scho organisch zäme. Ihri Text treit sie komplett uswendig vor. Ihres Gedächtnis seg wiene Lagerhalle, alles schön in Regalgstell sortiert. Sie bereuts ned chönne Schlagzüg und Gitarre zspiele, und somit ned komplett unabhängig zsi vo andere, aber grad das Zämespiel machts wertvoll. Für ihri „Limitiertheit“ isch sie au dankbar.

Wie isches für sie Teil vomne etablierte Literaturfestival zsi? En Ritterschlag, isch die ironischi Antwort vo de Big Zis. Endlich seg sie acho i de Hochkultur, sowie ja au de Bob Dylan de Nobelpriis bercho het. Aber die einte wüsseds villech no: dBig Zis isch bereits vor drü Jahr am Solothurner Literaturfestival uftrete.

D’Sympathie vom Publikum het dBig Zis mit ihrer direkte Art und ihrer Ironie scho lang gunne. So lacht sPublikum au, wo sie meint, sie heg doch iz de doppelti Lohn verdient, da de Göldin ja uf sin Teil verzichtet. Zum Abschluss bringt sie no es paar Bispiel us ihrne früenere Raps. Si git debi Acht, ned die zpräsentiere wo si hüt Abig am 6i no zum Beste wird gäh. Und mit es bizeli Glück taucht au de Göldin für die musikalisch literarischi Performance uf.

 

Von wegen Frohsinnsmanko

Ein erstes Highlight: Das Gespräch zwischen Ulrich Blumenbach und Thomas Schlachter – zwei der versiertesten Übersetzer unserer Tage – im (leider nur spärlich gefüllten) Stadttheater. In den Blick rückten insbesondere die Schwierigkeiten bei der Übersetzung von Komik: Thomas Schlachter präzisierte am Beispiel der Prosa P.G. Wodehouse‘, wie weit eine Übersetzung bisweilen gehen muss, um einen sich aus der Umständlichkeit erhebenden Komikstil adäquat nachahmen zu können. Das Original muss so lange beobachtet werden, so Schlachter, bis sich in der deutschen Übertragung die Wörter aneinander zu reiben beginnen. Die Tendenz zur Kompositbildung weist das Deutsche dabei als eine für diese Form der Komik in besonderem Masse geeignete Sprache aus. Nicht zuletzt Max Goldts Prosa fusst auf Legionen von oxymoralen und zuvor nie gesehenen Komposita und auch Schlachter, der sich ganz offen in die stilistische Seelenverwandtschaft Goldts und Gernhardts einreiht, verwandelt mal eben Wodehouse‘ „that I was definitely short on chirpiness“ in „dass ich an einem Frohsinnsmanko litt“.

Die Freiheit, die sich ein Übersetzer leisten kann und muss, zeigt sich dann auch konkret im Licht jener Komik, die ein Text über seine Figuren hinwegspielt, wenn er diese etwa Zitate, die der literarisch halbwegs Interessierte sofort zuordnen kann, nicht als solche zu erkennen vermag. Der Horizont, der in die andere Sprache mit hinüber genommen werden muss, ist der des Lesepublikums – und der Horizont eines englischen Lesepublikums ist zweifellos ein anderer als der eines deutschen. Der Bildungsspeicher, der im Falle der Bibel oder Shakespeares noch international genutzt werden kann, versagt bereits bei einem Gedicht Alfred Lord Tennysons – und hier muss dann ein Äquivalent gefunden werden, das sowohl bildlich als auch von der kulturellen Relevanz dem im Original zitierten Text entspricht. Und voilà: Schlachter entscheidet sich für Uhlands „Maientau“.

Zur Übertragbarkeit von Lyrik einiges zu sagen hatte dann auch Ulrich Blumenbach, der – nachdem er bislang nahezu ausschliesslich als Prosa-Übersetzer (u.a. von David Foster Wallace‘ „Infinite Jest“) in Erscheinung getreten war, just zu den Literaturtagen einen Band mit aus dem amerikanischen Englisch übersetzten Gedichten Dorothy Parkers vorgelegt hat. Der Abstand zwischen der Formsprache zeitgenössischer Lyrik und der noch am Reim orientierten Dichtung Dorothy Parkers sorgt dabei für einen arbeitsintensiven Anachronismus: Parkers Gedichte lesen sich bei Blumenbach, wie Schlachter erfreut feststellt, wie die Lyrik der „Neuen Sachlichkeit“. Und auch hierin liegt eine komische Substruktur: Nicht nur einmal sorgt die Formstrenge für einen Clash zwischen metrischer Seriosität und inhaltlicher Banalität – man deklamiere die Zeile „Sie nährte mich ballaststoffreich“. Wie Wodehouse, so zeichnet auch Parkers Dichtung sich vor allem durch Stilregisterbrüche und sich hinterrücks, von Zeile zu Zeile anschleichende Pointen aus. (Dort, wo sie sich vom Scherzgedicht abwendet, wird gleichwohl sofort ihre Verhaftung im Sentimentalitätsgedicht des 19. Jahrhunderts sichtbar.)

Ein kluger, unterhaltsamer, reflexionsreicher Dialog war das – und gerne hätte man den beiden noch länger zugehört. Jeder für sich wird aber noch in Solothurn seine Bühne bekommen: Ulrich Blumenbach heute um 17.00 Uhr, Thomas Schlachter morgen um 14.00 – jeweils im Landhaus. Hingehen.

„Eine Art Metaidee von Erinnerung“ – Henriette Vàsàrhelyi im Gespräch

Vor ihrer ersten Solothurn-Lesung am Freitag nahm sich Henriette Vàsàrhelyi Zeit, um mit Buchjahr-Redaktorin Salomé Meier über ihren zweiten Roman „Seit ich fort bin“, das grosse Thema literarischen Erinnerns und ihre Pläne für das Wochenende zu sprechen.

Liebe Frau Vàsàrhelyi, waren Sie schon mal an den Solothurner Literaturtagen?

Ja, ich war schon mal hier, auch als Gasthörerin. 2014 war ich mit meinem ersten Roman „immeer“ hier.

Wie sieht Ihr Programm dieses Wochenende aus?

Ich habe jetzt nachher eine kurze Lesung und am Sonntag eine Lesung mit Valeria Heintges und dann mache ich bei der Skriptor Textwerkstatt mit, wir besprechen ein Text von Lucien Haug. Ansonsten habe ich mir auch ein Programm gemacht für Lesungen, zu denen ich gerne gehen würde. Leute, die ich jetzt noch nicht gehört habe anzuhören. Und ich hoffe, dass ich auch paar Leute treffe.

In einer der Anfangsszenen Ihres neuen Romans „Seit ich fort bin“ erzählt die Protagonistin Mirjam von einem Einbruch in ihrer Wohnung, bei dem weniger Wertsachen als Dinge von ideellem Wert gestohlen werden. Fotos, die Festplatte. Mirjam erschrickt und geht darauf ins Badezimmer und betrachtet sich selbst im Spiegel. Als später der Polizist nach ihrem Namen fragt, dauert es einen Moment, bis er ihr einfällt. Inwiefern sind Erinnerungen nicht etwas, das wir haben, sondern auch sind?

Ich glaube, dass wir natürlich sehr unsere Erinnerungen sind. Aber dass diese sich verändern, und damit meine ich nicht nur, dass die einzelne Veränderung, also eine bestimmte Erinnerung sich verändert, sondern dass wir auch immer wieder uns fokussieren auf unterschiedliche Lebensphasen in der Erinnerung, dass manches mehr in einen toten Winkel rutscht, was vielleicht, ja noch nicht so lange zurückliegt, aber auch nicht gerade erst war, irgendwas dazwischen, habe ich das Gefühl liegt oft im Dunkeln. Oft ist es bestimmt auch die Relevanz eines Geschehnisses, die darüber bestimmt, ob wir uns daran erinnern und wie. Aber ich glaube, es gehört trotzdem auch sehr viel weniger Einflussnahme dazu, als man sich gerne einbildet. Es begegnet mir auch sehr stark, gerade in der Rezeption des Buches: Wenn ich daran denke, im Unterschied zu dem, was mir fremde Menschen über den Text sagen und dann jeweils wie damit umgegangen wird, umso besser mich die Leute kennen und den Text. Das ist teilweise sehr irritierend, wie sich auch darin widerspiegelt, wie Erinnerung wahrgenommen wird, die sich doch irgendwo immer an Fakten langhangelt und an der eigenen Wahrnehmung und dem eigenen Sumpf, aus dem man auf andere schaut.

Wo liegt denn der Unterschied in den Rezeptionen von Leuten, die Sie kennen und Leuten, die Sie nicht kennen?

Also das kann man jetzt nicht so sagen, das ist sehr fliessend. Aber es interessiert mich natürlich eigentlich theoretisch, weil das interessant ist, dass gerade Leute, denen ich z.B. das Buch gewidmet habe – dazu muss ich vielleicht sagen, ja es ist jetzt nicht die Geschichte, wie sie war; es ist Literatur –, die sind dann vielleicht ein bisschen enttäuscht. Während andersherum, umso fremder ich den Leuten bin, desto autobiographischer wird das Buch gelesen. Das ist für mich selber sehr interessant und da spüre ich dann auch solche Momente – das fand ich sehr gut gestern in der Eröffnungsrede – dass man dieses Autobiographische immer versucht, fast wie so’n Ekel, irgendwie versucht von sich wegzuschieben.

Sie haben es bereits angesprochen: Ihr Roman wird oft autobiographisch ausgelegt. Sieht man da vielleicht auch die Verbindung zu „immeer“, Ihrem ersten Roman?

Es ist ja nicht falsch, das autobiographisch zu sehen, auch, aber ich erzähl halt in erster Linie eine Geschichte, und das Autobiographische ist oft vielmehr die Atmosphäre, oder im Text kann man vielleicht auch sagen, es fängt sehr autobiographisch an und verliert sich dann aber in Fiktion. Das ist für mich eine Art Metaidee von Erinnerung. Es gibt die Erinnerung, wenn man die aber abgleicht, gerade auch die anderen Menschen, dann sieht man wie viel Fiktion bei jedem Einzelnen in der Erinnerung verankert ist.

Das vollständige Interview, in dem es u.a. um die Verbindung von individueller und kollektiver Erinnerung im Diskursfeld „DDR“ geht, erscheint in den nächsten Wochen auf buchjahr.ch