Deckel drauf

So, das war es jetzt endgültig. Wir sind froh, dass wir in Solothurn dabei sein konnten und verneigen uns vor den VeranstalterInnen, AutorInnen und vor allem vor unserem Team, das drei Tage lang unermüdlich und mit Hingabe sich für die Literatur aufgeopfert hat.

Bis zum nächsten Jahr, man liest sich.

Christoph Steier und Philipp Theisohn 

Eine Prädatorin

Martina Clavadetschers „Knochenlieder“ zählen zweifellos zu den faszinierendsten Texten dieses Frühjahrs. Weniger Roman (wie der Paratext behauptet) als vielmehr eben „Lieder“, Gesänge: ein Zukunftsepos, das sich in Wortkaskaden durch ein immer seltsamer werdendes 21. Jahrhundert schlängelt. Betörend die Sprache, apokalyptisch die Szenarien, Totalitarismus, digitale Rebellion – so etwas hat zumindest die Deutschschweizer Literatur noch nicht gesehen. In ihrer Naturverbundenheit erinnern die „Knochenlieder“ bisweilen an Dietmar Daths „Abschaffung der Arten“, in ihrem rauschhaften Spiel mit Vers und Form ist Reinhard Jirgls „Nichts von Euch auf Erden“ nicht allzu weit weg; auch Michael Fehr dürfte zur entfernteren Verwandtschaft gehören. Rätsel über Rätsel, es gäbe viel zu fragen.

Leider wird Martina Clavadetscher an diesem Sonntagnachmittag nicht viel gefragt. Noch bleibt sie ein Geheimnis – was nichts Schlechtes ist. Andererseits: Diese Autorin weiss etwas, was wir nicht wissen. Diese Prädatorin, die ihre Dichtung auf Knochenflöten zeugt, aus ihrer Höhle zu locken – das sollte man doch zumindest versuchen. Das Publikum im Stadttheater wartete leider vergeblich darauf. So wird es in allernächster Zukunft dem „Buchjahr“ überlassen bleiben, Clavadetscher in ihrer Heimat Brunnen aufzusuchen und mit ihr gründlich über dieses ungeheure Buch zu sprechen.

Uns schenkte sie immerhin einen der schönsten Bögen, den ein Blog haben kann: Am Freitagmorgen hatten wir mit Urs Faes und David Bowie begonnen; am Sonntag endeten wir – nach einer hypnotisch-schönen Performance, in der Clavadetscher, musikalisch begleitet von der nicht minder grossartigen Isa Wiss ihre Texte mehr sang als las – bei Bowies „Life on Mars“.

Grosse Liebe rechtfertigt alles

Über Tom Kummer wurde in den vergangenen Monaten bereits heftig allerorten diskutiert. Auch seine Einladung zu den Literaturtagen gab unter manchen Besuchern Anlass zur Diskussion. Mancherorts, insbesondere unter Kummers journalistischen Kollegen war mit einer gewissen Regelhaftigkeit die Rede vom „Plagiator“; andere beargwöhnten Kummers Interpretation dessen, was ein Autor so sein kann, so dass man vorab vor allem einen Eindruck gewinnen konnte: Kummer stört. Kummer stört – und abgesehen davon, dass er die Rolle des Störfaktors bestens kennt und entsprechend gut interpretieren kann, konnte seine Präsenz der Gesamtveranstaltung nur gut tun.

Angetreten war Tom Kummer mit „Nina und Tom“, der Bilanz einer Liebe, dem „schonungslosen Bericht auf Kosten“ seiner 2014 verstorbenen Frau, wie es im Abgang des Buches heisst. Dass es sich dabei um einen durchaus komplexen und schon gar nicht unter „more of the same Kummer“ zu verbuchenden Text war schon an dieser und an anderer Stelle nachzulesen; gleichwohl gab es selbstverständlich den Versuch, „Nina und Tom“ erst einmal mit einer Plagiatssoftware zu durchforsten und die Funde dann als spontane Entdeckungen des eigenen Lesegedächtnisses zu inszenieren.

Wie dem auch sei: Kummer las. Zunächst von der ersten Begegnung der Liebenden Anfang der 80er im Club „Otto Zutz“ in Barcelona, dann – nach einem Sprung von 30 Jahren – von den letzten Stunden, der letzten Nacht, dem Morgen, an dem Nina stirbt und von den Bestattungsgehilfen abgeholt wird. Sichtlich berührt durchquert Kummer diese Passagen. Später wird er auf Pablo Hallers Nachfrage, warum er diesen literarischen „Verrat“ begangen habe, antworten, dass „grosse Liebe alles rechtfertige“ und man nimmt ihm ab, dass er es genau so meint, wie er es sagt.

Erneut sieht sich Kummer, wie er im Gespräch einräumt, vor die Aufgabe gestellt, sich von einem alten Leben lösen zu müssen. So, wie er einst als Schulabbrecher sich in der Burgerbibliothek das Rüstzeug besorgte, um Bern hinter sich zu lassen und erst in Berlin, später dann in Los Angeles zu einem Exponenten des Borderline-Journalismus zu werden – so muss Tom Kummer jetzt, ohne Nina, wieder in Bern von Neuem beginnen, sich neu erfinden. Anderes schreiben und wohl auch anders schreiben. Oder vielleicht auch andere Dinge tun. Gerade hat er den Kunstpreis von Holligen zugesprochen bekommen.

Das Dorf. Ein Roman

Dass das Genre „Roman“ seinem jüngsten Buch „Dr Chlaueputzer trinkt nume Orangschina“ mehr oder weniger von aussen aufgenötigt worden sei, räumt Ernst Burren unverhohlen ein. Um Rollenmonologe handle es sich eigentlich, sechs Personen aus drei Generationen, gruppiert um einen Brunnentrog, in dem eine rothaarige Frau liegt und schreiend ihren Vater des Missbrauchs bezichtigt. Ist das ein Roman?

Es gibt Gründe, diese Frage zu bejahen, wenn man darauf reflektiert, wessen Roman es sein könnte. Das Subjekt von Burrens (im vergangenen Jahr mit einem der Schweizer Literaturpreise ausgezeichneten) Text, ja: das Subjekt von Burrens Texten überhaupt, ist das Dorf. Die Stimmen all seiner Figuren tragen immer nur zu einer Rede der Gemeinschaft bei, eine Gemeinschaft, die langsam verdämmert und die in den Viten ihrer Mitglieder – zu denen auch die Tiere zählen, deren Leben und Wirken man auch erinnert – auch immer das eigene Leben und Überleben sich vor Augen stellt. Nie ist das sentimentalisch, nirgends ist das Idylle: Der Rückzug auf das Dorf bleibt stets gebrochen durch das Wissen, dass diese Welt kleiner und kleiner wird. Die Demenz frisst die Erinnerungen, die Stadt (und bereits Solothurn ist hier Gegenpol) die Jugend, die Beizen schliessen eine nach der anderen, die Vereine darben dahin. Man lebt hier kurz vor dem Ende.

Und so ist Ernst Burrens Prosa dann auch immer eine Suche nach Refugien für eine bedrohte Lebensform. Ein solches Refugium ist vor allem anderen die Sprache. Die Mundart besitzt hier – und das in bester Gotthelfscher Tradition – tatsächlich einen poetologischen Wert. Weder verdankt sie sich der Anbiederung an ein spezifisches Lesepublikum noch der Begeisterung für Sprachspiel und Verrätselung. Optiert wird für sie aus einer Notlage heraus; der Solothurner Dialekt ist der Ast, an dem sich der Ertrinkende über Wasser hält, mag er noch so brüchig sein – man hat keine Wahl. Wie Burren im Gespräch mit Franco Supino ausführt, ist er 1969, nach einer Lyriklesung im Stadttheater Bern und vor allem inspiriert durch Kurt Martis „Rosa Loui“ (1967) zum Schreiben in Mundart gekommen; zu einer Zeit also, in der eine solche Entscheidung noch widerständig war, in der sie dem Autor aber bereits zwingend erschien. Der Dialekt ist Teil von Burrens Verlustgeschichte, er ist noch übrig und bleibt – aber es ist ein letzter Widerstand.

Was kommt danach? Es gibt in „Dr Chlaueputzer trinkt nume Orangschina“ eine bemerkenswerte Konfrontation der Dorfbewohner mit dem Schicksal der Fliehenden. Man steht da just auf der Grenze, auf der sich der Populismus Bahn bricht: Die autochthonen Originale in ihren ererbten Häusern und Höfen gegen die namenlosen Dutzendmenschen in ihren Zeltstädten. Und die Klugheit von Burrens Text zeigt sich genau hier: Nicht naiv menschelnd, sondern analytisch erkennen seine Insassen, dass sie denjenigen, deren Welt zerbrochen wurde, doch sehr ähneln. Eine ehrliche, keine altruistische Empathie zeigt sich da: Die Fremden sind uns unheimlich, weil sie schon wissen, was wir sind. Die Dörfer stehen noch, sie brennen nicht, aber Wurzeln haben auch sie keine mehr. Noch halten sie sich an den Geschichten fest, an einem Trauma im Brunnentrog, am Staunen über Zirkustiere und Weltreisen, an den Spuren, die ihre vom Abdecker abgeholten Rösser hinterlassen. Und wenn all das vorbei ist, dann bleiben noch Ernst Burrens Bücher.

 

It’s not over …

… until it’s over. Das Pressebüro schliesst seine Pforten für dieses Jahr. Es waren drei intensive, aufregende Tage mit kontroversen Veranstaltungen, erhellenden Gesprächen am Rande und einem Wetter, bei dem man sich normalerweise ganztägig in die Aare begeben müsste. (Was niemand tut, da der gesamte Literaturbetrieb als Punktjury auf den Quaimauern sitzt.)

Wir vom Buchjahr hatten viel Vergnügen und viel Arbeit und freuen uns schon auf das nächste Jahr.

Aber, wie oben geschrieben: It’s not over until it’s over. In den nächsten Stunden folgen noch unsere letzten Berichte – und morgen gibt es dann das grosse, gewaltige, allumfassende Solothurn-Special auf www.buchjahr.ch.

See you there!

Das Buchjahr-Team

Es tagt…

… ein letztes Mal bei den Solothurner Literaturtagen. Und während auf dem Südufer die Migros und das Slowup-Event bereits die Kontrolle übernommen haben, geht das Buchjahr heute zu Terézia Mora, Schweiz schreiben, Ernst Burren, Tom Kummer, Martina Clavadetscher etc. etc.

Sechs Figuren suchen eine Autorin

In der Westschweiz schon lange kein Geheimtipp mehr, im Osten hingegen noch fast ungesehen, hatte die „Association de jeunes auteur-e-s romandes et romands“ – kurz: L’AJAR – gestern abend ihren ersten eindrücklichen Auftritt in Solothurn.

Im Zentrum der Performance stand die fiktive Autorin Esther Montandon, eine der „meistgelesenen Autorinnen des 20. Jahrhunderts“, die auch das von L’Ajar herausgegebene „Vivre près des tilleuls“ verfasst hat und der die sechs Akteure gestern im Kino Uferbau ihre Stimmen liehen. Es war eine ganz eigene Art der Autorfiktion, die sich da abzeichnete: Nach und nach reicherte L’Ajar die knappe Lebensbeschreibung der Montandon mit Parenthesen an, bis da auf einmal eine ganze Erzählung vor den Zuschauern stand. Aus der Überzeugung des kollektiven Schreibens erwuchs so reziprok wieder Autorschaft – nur um dann in einer zweiten Performance wieder zu zerfallen. Die literarische Arbeit in der Community wurde auf einmal als ein Zersetzungsprozess im Wordprozess sichtbar, immer wieder wurde der an die Wand projizierte Text umgeschrieben, bis er auf jene vier Zeilen heruntergekürzt war, die das vierundvierzigste Kapitel von „Vivre près des tilleuls“ bilden:

Personne ne m’avait expliqué le vide au creux des entrailles, le vrombissement dans le cerveau, le tremblement des mains. Qu’on me rende ma fille quelques années, quelques jours. Elle me manque.

Der Vortrag des programmatischen Schlusstextes blieb dann leider etwas hinter den vorigen Darbietungen zurück, allein das Timing der gesprochenen Einzelsequenzen war bewundernswert. Und so blieb dann am Ende dasjenige über, was Esther Montandon uns zu verstehen aufgetragen hat: „la fiction n’est absolument pas le contraire du réel.“

P.S.: Wer L’Ajar gestern verpasst hat, kann das Versäumnis am Sonntag um 14 Uhr – erneut im Kino Unterbau – nachholen. Dann allerdings gibt es „Lecture“.

Von wegen Frohsinnsmanko

Ein erstes Highlight: Das Gespräch zwischen Ulrich Blumenbach und Thomas Schlachter – zwei der versiertesten Übersetzer unserer Tage – im (leider nur spärlich gefüllten) Stadttheater. In den Blick rückten insbesondere die Schwierigkeiten bei der Übersetzung von Komik: Thomas Schlachter präzisierte am Beispiel der Prosa P.G. Wodehouse‘, wie weit eine Übersetzung bisweilen gehen muss, um einen sich aus der Umständlichkeit erhebenden Komikstil adäquat nachahmen zu können. Das Original muss so lange beobachtet werden, so Schlachter, bis sich in der deutschen Übertragung die Wörter aneinander zu reiben beginnen. Die Tendenz zur Kompositbildung weist das Deutsche dabei als eine für diese Form der Komik in besonderem Masse geeignete Sprache aus. Nicht zuletzt Max Goldts Prosa fusst auf Legionen von oxymoralen und zuvor nie gesehenen Komposita und auch Schlachter, der sich ganz offen in die stilistische Seelenverwandtschaft Goldts und Gernhardts einreiht, verwandelt mal eben Wodehouse‘ „that I was definitely short on chirpiness“ in „dass ich an einem Frohsinnsmanko litt“.

Die Freiheit, die sich ein Übersetzer leisten kann und muss, zeigt sich dann auch konkret im Licht jener Komik, die ein Text über seine Figuren hinwegspielt, wenn er diese etwa Zitate, die der literarisch halbwegs Interessierte sofort zuordnen kann, nicht als solche zu erkennen vermag. Der Horizont, der in die andere Sprache mit hinüber genommen werden muss, ist der des Lesepublikums – und der Horizont eines englischen Lesepublikums ist zweifellos ein anderer als der eines deutschen. Der Bildungsspeicher, der im Falle der Bibel oder Shakespeares noch international genutzt werden kann, versagt bereits bei einem Gedicht Alfred Lord Tennysons – und hier muss dann ein Äquivalent gefunden werden, das sowohl bildlich als auch von der kulturellen Relevanz dem im Original zitierten Text entspricht. Und voilà: Schlachter entscheidet sich für Uhlands „Maientau“.

Zur Übertragbarkeit von Lyrik einiges zu sagen hatte dann auch Ulrich Blumenbach, der – nachdem er bislang nahezu ausschliesslich als Prosa-Übersetzer (u.a. von David Foster Wallace‘ „Infinite Jest“) in Erscheinung getreten war, just zu den Literaturtagen einen Band mit aus dem amerikanischen Englisch übersetzten Gedichten Dorothy Parkers vorgelegt hat. Der Abstand zwischen der Formsprache zeitgenössischer Lyrik und der noch am Reim orientierten Dichtung Dorothy Parkers sorgt dabei für einen arbeitsintensiven Anachronismus: Parkers Gedichte lesen sich bei Blumenbach, wie Schlachter erfreut feststellt, wie die Lyrik der „Neuen Sachlichkeit“. Und auch hierin liegt eine komische Substruktur: Nicht nur einmal sorgt die Formstrenge für einen Clash zwischen metrischer Seriosität und inhaltlicher Banalität – man deklamiere die Zeile „Sie nährte mich ballaststoffreich“. Wie Wodehouse, so zeichnet auch Parkers Dichtung sich vor allem durch Stilregisterbrüche und sich hinterrücks, von Zeile zu Zeile anschleichende Pointen aus. (Dort, wo sie sich vom Scherzgedicht abwendet, wird gleichwohl sofort ihre Verhaftung im Sentimentalitätsgedicht des 19. Jahrhunderts sichtbar.)

Ein kluger, unterhaltsamer, reflexionsreicher Dialog war das – und gerne hätte man den beiden noch länger zugehört. Jeder für sich wird aber noch in Solothurn seine Bühne bekommen: Ulrich Blumenbach heute um 17.00 Uhr, Thomas Schlachter morgen um 14.00 – jeweils im Landhaus. Hingehen.