Eine Prädatorin

Martina Clavadetschers „Knochenlieder“ zählen zweifellos zu den faszinierendsten Texten dieses Frühjahrs. Weniger Roman (wie der Paratext behauptet) als vielmehr eben „Lieder“, Gesänge: ein Zukunftsepos, das sich in Wortkaskaden durch ein immer seltsamer werdendes 21. Jahrhundert schlängelt. Betörend die Sprache, apokalyptisch die Szenarien, Totalitarismus, digitale Rebellion – so etwas hat zumindest die Deutschschweizer Literatur noch nicht gesehen. In ihrer Naturverbundenheit erinnern die „Knochenlieder“ bisweilen an Dietmar Daths „Abschaffung der Arten“, in ihrem rauschhaften Spiel mit Vers und Form ist Reinhard Jirgls „Nichts von Euch auf Erden“ nicht allzu weit weg; auch Michael Fehr dürfte zur entfernteren Verwandtschaft gehören. Rätsel über Rätsel, es gäbe viel zu fragen.

Leider wird Martina Clavadetscher an diesem Sonntagnachmittag nicht viel gefragt. Noch bleibt sie ein Geheimnis – was nichts Schlechtes ist. Andererseits: Diese Autorin weiss etwas, was wir nicht wissen. Diese Prädatorin, die ihre Dichtung auf Knochenflöten zeugt, aus ihrer Höhle zu locken – das sollte man doch zumindest versuchen. Das Publikum im Stadttheater wartete leider vergeblich darauf. So wird es in allernächster Zukunft dem „Buchjahr“ überlassen bleiben, Clavadetscher in ihrer Heimat Brunnen aufzusuchen und mit ihr gründlich über dieses ungeheure Buch zu sprechen.

Uns schenkte sie immerhin einen der schönsten Bögen, den ein Blog haben kann: Am Freitagmorgen hatten wir mit Urs Faes und David Bowie begonnen; am Sonntag endeten wir – nach einer hypnotisch-schönen Performance, in der Clavadetscher, musikalisch begleitet von der nicht minder grossartigen Isa Wiss ihre Texte mehr sang als las – bei Bowies „Life on Mars“.