KW31

Verleben, verschwinden, versanden

Grünfelder

Alice Grünfelders Romandebüt begibt sich auf einen Roadtrip durch ein Krisengebiet. Bleibt die Frage: Wieviel Wüste verkraftet das Erzählen?

Von Ann-Sophie Bosshard
30. Juli 2018

Es ist nicht allzu schwierig, die Handlung der Wüstengängerin zu überschauen: In den 1990er-Jahren reist die Studentin Roxana auf der Seidenstrasse durch den Nordwesten Chinas, um in der muslimisch geprägten Region nach buddhistischen Höhlenmalereien zu suchen. Unterwegs trifft sie auf den Schweizer Alex und gemeinsam reisen die beiden in dem von Unruhen geprägten Gebiet Xinjiang durch die Wüste, von einer Stadt zur anderen, bis sich ihre Spur verliert. Zwanzig Jahre später reist die Deutsche Linda mit dem Forstbauingenieur Herrmann in die gleiche Gegend, um in deutschem Auftrag Entwicklungshilfe zu leisten und in der trockenen Gegend Brunnen zu bauen. Von Anfang an stösst ihr Projekt auf Widerstand: Bereits in Deutschland wird sie telefonisch schikaniert und in China verhindern die Autoritäten trotz anfänglichen Zusagen jeglichen Fortschritt. In ihrer Unterkunft findet sie jedoch Notizen, die Roxana zurückgelassen hat, liest sie und ist fasziniert. So wandelt sich ihre Reise von einem humanitären Einsatz immer mehr zu einer Suche nach der damals verschollenen Studentin – einer gefahrvollen Suche, denn Linda ist schwer krank und gerät in der angespannten Stimmung in Xinjiang zwischen die Fronten.

Zur Autorin

Alice Grünfelder, geboren 1964, studierte nach einer Lehre als Buchhändlerin und einem längeren Asienaufenthalt Sinologie und Germanistik in Berlin und China. Sie arbeitete jahrelang als Lektorin, betreute unter anderem die Türkische Bibliothek des Unionsverlags und betrieb eine Agentur für Literatur aus Asien. Heute ist sie als freie Lektorin tätig und hat mehrere Erzählbände aus Asien herausgegeben.
Foto: © Mine Dal

Verschwindende Neugierde

Analog zur Histoire erscheint auch die Erzählstruktur des Romans zunächst unkompliziert. Roxanas Perspektive wird im Präteritum vermittelt, Lindas im Präsens, beide sind intern fokalisiert und zwischen den Perspektiven wird immer an der Kapitelgrenze gewechselt. Mit der Zeit beginnen sich die Frauenfiguren jedoch zu überlagern, beginnt ein Kapitel mit Roxana und endet mit Linda – und umgekehrt. Die Handlungen der einen verweisen auf die andere: Roxana etwa schaut in den Spiegel und sieht «eine Frau, die zwanzig Jahre älter war als sie», worauf Linda die Erzählung übernimmt, die zu einem späteren Moment aus dem Fenster in die Wüste blickt und erahnt, «wie sich eine junge Frau da hineinlegt», und sogleich steht Roxana, die sich mit letzter Kraft durch die Hitze müht, wieder im Zentrum. Während die Studentin vor allem die erste Hälfte des Romans prägt, nimmt sie umso weniger Raum ein, je intensiver Linda nach ihr sucht – bis sie schliesslich nur noch in den Gedanken der Entwicklungshelferin auftaucht. Wie Roxana in der Wüste verschwindet, so verschwindet sie auch zwischen den Buchseiten und ihre Spuren werden an beiden Orten gesucht. Da am Romanbeginn durch die Makrostruktur bei den Leser*innen Erwartungen – ein paar Kapitel diese Geschichte, ein paar Kapitel die andere – geschürt wurden, fällt das Entgleiten der einen Figur nun umso mehr auf, obschon ein Schatten ihrer Präsenz in Linda bleibt. Die Neugier der Leser*innen wird hierdurch gleichwohl nicht befriedigt – zu gross sind die unbeantworteten Fragen, zu ungeduldig ist man zu erfahren, ob die getriebenen Frauen einen Ausweg finden.

Versandende Hermeneutik

Gleichwohl, und darin liegt die Pointe, vollziehen die Leser*innen damit genau die Anstrengungen und Überlegungen, von denen die Figuren dieses Romans bestimmt werden. Roxana, die durch ihre Wünsche und Ängste in der Wüste gleichsam gefangen ist, begibt sich auf die Suche nach Kulturzeichen einer vergangenen Zeit. Sie verfügt über das Wissen, diese Zeichen zu interpretieren und zu verstehen, doch findet sie kaum Material, mit dem sie sich produktiv auseinandersetzen könnte. Linda ihrerseits besitzt von Roxana nur einige Notizen, die sie zwar verstehen, aber nicht hinlänglich deuten und mit ihrer Hilfe die Studentin aufspüren kann. Gleichermassen bleiben die Figuren, deren Sprache für die Leser*innen verständlich ist, immer fremd – nicht nur in ihren Handlungen, sondern auch letzten Endes in ihrer Gedankenwelt. So ist man schliesslich nicht in der Lage, Antworten auf die ungeklärten Fragen zu imaginieren und das Schicksal der Frauen bleibt offen. Wie Roxana und Linda auf Menschen treffen, von deren Geschichten und Erlebnissen erfahren und auf scheinbar entscheidende Hinweise auf ihrer Suche stossen, so meint man auch beim Lesen zu erkennen, wann eine Nebenfigur oder ein Handlungsfaden wirklich wichtig ist und es vielleicht sogar vermag, die Spannung aufzulösen. Grünfelder baut eine bedrohliche Atmosphäre auf, die sich immer weiter verdichtet, so dass man eine Entladung herbeisehnt. Stattdessen flacht die Spannung aber stets wieder ab und bleibt latent, bis sie sich erneut aufbaut. Die Entspannung kommt nie.

Verlebte Welten

Es ist eine unangenehme Welt, die der politischen Situation in Xinjiang mimetisch nachempfunden ist. Seit Jahrzehnten ist die Region, die amtlich als Uigurisches Autonomes Gebiet Xinjiang bezeichnet wird, von Zusammenstössen zwischen den indigenen Uigur*innen und der chinesischen Zentralmacht geprägt. Immer wieder kommt es zu Anschlägen und zu Repressionen – eine von fünf Verhaftungen in ganz China geschieht in der Region Xinjiang –, so dass die von Kritikern vorgeschlagene Bezeichnung «Polizeistaat» nicht unangebracht erscheint. Trotz vieler Turbulenzen scheint sich in Xinjiang wenig zu bewegen und diese stickige Stimmung vermag Grünfelder meisterhaft festzuhalten. Die Schwere und Hoffnungslosigkeit im Nordwesten Chinas wird spürbar – nicht nur in der Handlung, den Geschichten der Einheimischen und den Gedanken der zwei Frauen, sondern auch in der Sprache selbst. Sie ist knapp, meist schmucklos und vermittelt zynisch, wie die verlebten Gestalten im Roman ihre kräftezehrenden, aussichtslosen Kämpfe austragen und dabei letztendlich unnahbar und in ihrer Plastizität fern bleiben. Weder gelingt es ihnen, sich einander zu öffnen – längere Dialoge fehlen fast vollständig –, noch können ihnen die Leser*innen wirklich nahe kommen. Grünfelder treibt dies so weit, dass die verschiedenen Figuren in ihrer Sprache austauschbar werden. Einzig Roxanas Notizen heben sich ab, denn der Stil dieser Überlegungen unterscheidet sich im Duktus vom Rest des Romans erheblich. Damit wird auf eine Welt ausserhalb der Enge verwiesen, in der die Figuren gefangen sind. Es ist bezeichnend, dass diese Welt nur in vergilbten und vergessenen Entwürfen besteht, aber nicht als Lebenswelt realisiert wird.

Die Eintönigkeit des Romans stört bisweilen, doch sie ist es auch, die die mimetisch-schwere Atmosphäre erst herbeiführt, ohne welche die erzählte Welt gar nicht denkbar wäre und die sowohl auf die Figuren wie auf die Leser*innen übergreift. Die Wüste, das Land selbst schiebt sich in all seiner Schwere in den Fokus. Die Wüstengängerin befriedigt nicht – aber sie stellt eine vielen noch unbekannte Region in den Mittelpunkt, macht ihre Spannungen erfahrbar und lässt die Leser*innen nach langem Versteck- und Verschwindspiel mit vielen Fragen zurück.

Alice Grünfelder: Die Wüstengängerin. Zürich: edition 8 2018, 240 S., 26 CHF.

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