KW18

Geisterfahrt ans Ende der Nacht

Tom Kummer

In rasanter Fahrt nimmt uns Tom Kummers «Von schlechten Eltern» mit auf eine Reise durch die Nacht. Was bei Tagesanbruch auf uns wartet, macht Lust auf mehr.

Von Ursina Sommer
27. April 2020

Der Weg von Tom Kummers 2017 erschienener Autofiktion Nina und Tom zu seinem jüngsten, in den Feuilletons bereits begeistert aufgenommenen Roman Von schlechten Eltern verbindet sich mit einem Wechsel von Ort und Kontrastverhältnis. Vom gleissenden Licht Kaliforniens wendet sich Kummer nun der Schweiz bei Nacht zu – ein Raum, der mehr als alle anderen die Grenzen verschwimmen lässt zwischen Realität und Einbildung, Erinnerung und Gegenwart, Leben und Tod. «Die Nacht befreite uns von den Gesetzen der Realität. Alles war möglich», schreibt Kummer über das gemeinsame Leben mit seiner Frau Nina, deren Sterben er in Nina und Tom verarbeitet hat. Um ihren Tod geht es auch im neuen Roman, doch gelingt Kummer in Von schlechten Eltern die Transzendierung des rein Individuellen, indem er nicht nur die Trauer, sondern auch die Schweiz auf einer nächtlichen Bühne in ihrer ganzen Unheimlichkeit erfahr- und befahrbar macht.

Rauschende Prosa

«Erfahrbarkeit»: Das ist hier wörtlich gemeint, denn Ich-Erzähler Tom Kummer (der Autor desselben Namens pflegt Autor und Protagonist in Interviews gern mit einem schlichten «ich» zu verschmelzen), der sich tagsüber in Bern um seinen Sohn kümmert, chauffiert des nachts die nord- und westafrikanische Elite für einen Luxusfahrdienst wortkarg durch die dunkle Schweiz. Der gedämpfte Klang seines ledergepolsterten Mercedes S 560 ist dabei der Sound dieses Textes; er durchdringt die Sätze und offenbart dabei eine eher traditionelle Erzählweise, die wenig Spuren trägt vom marktschreierischen Grellen der Popkultur und seiner literarischen Verfahren, wie man es von früheren Texten Kummers kennt. Kommt in den Dialogszenen ein gewisses Tempo auf – denn Dialoge liegen Kummer, wir erinnern uns an die erfundenen Interviews mit Sharon Stone oder Charles Bronson (das mit den Orchideen!) –, wirkt der stark parataktisch gehaltene Erzählerbericht streckenweise monoton. Immerhin wird das mit den kurzen Sätzen durchgezogen, sodass sich deren Rauschen mit der Zeit zu einer angenehm gespenstischen Atmosphäre verdichtet.

Zum Autor

Tom Kummer, geboren 1961 im Berner Länggassquartier, zog 1985 nach Westberlin und wurde dort von Hans Magnus Enzensberger entdeckt, für dessen Transatlantik-Magazin er erste Kurzgeschichten verfasste. 1987 nahm er eine Journalistenkarriere beim Tempo auf; ab 1993 arbeitete Kummer als fest-freier Autor in Los Angeles für das Magazin der Süddeutschen Zeitung und das Magazin des Zürcher Tagesanzeigers. 1994 wurde er für eine Geschichte über den Schriftsteller Richard Ford für den Joseph-Roth-Preis nominiert. Seine inszenierten Interviews mit Hollywood-Stars lösten 2000 einen Medienskandal aus, der 2009 im Dokumentarfilm Bad Boy Kummer - basierend auf Kummers Autobiografie «Blow Up» - aufgearbeitet wurde. 2017 erschien sein Roman «Nina & Tom», mit dem Kummer seiner 2014 verstorbenen Frau ein Denkmal setzte. 2016 kehrte er - nach knapp 25 Jahren Los Angeles - wieder nach Bern zurück. Für seinen letzten Roman «Von schlechten Eltern» (2019) wurde Kummer für den Ingeborg-Bachmann-Preis (2019) und den Schweizer Buchpreis nominiert (2020).
Foto: © Thilo Larsson

Rache einer schönen Leiche

Dass die gleichförmigen Sätze nicht effektlos an uns vorbeirauschen, ist dabei der grandios geschilderten nächtlichen Szenerie geschuldet. Sie entfaltet eine Unheimlichkeit, der wir uns schonungslos ausgeliefert sehen, denn dieser Text, so wird bald klar, ist eine Heimsuchung. Nebst den Passagieren fährt nämlich auch Toms verstorbene Frau Nina mit, die als fluoreszierendes Fantasma aus dem Reich der Toten zurückkehrt. Nicht als überbelichtetes Himmelswesen erscheint sie hier, sondern in schauerlicher topischer Umkehrung der schönen Toten als Rachsüchtige, die den Schuldgeplagten mal als Würgeengel ersticken, mal als Riesenkalmar in die Tiefe ziehen will. Damit rächt sie sich nicht zuletzt auch an uns als voyeuristischen Zeugen ihres Sterbens in Nina und Tom, einem Text, der die Verstorbene zur Folie einer lustbesetzten Verschränkung von Tod und Ästhetik erwählt hatte. Die Horrorvisionen des Chauffeurs weisen der Toten in den mitunter stärksten Bildern des Romans ein imaginatives Potenzial zu, das die glatte Erzähloberfläche zu zerrütten vermag. Die Nina dieses Textes verfügt somit über eine eindringliche erzählerische Präsenz, die ihrer literarischen Vorgängerin versagt blieb.

Von der dunklen Seite der Schweiz

Von schlechten Eltern ist nicht nur Trauerbuch, sondern auch ein Buch über die Schweiz. Als Rückkehrer, der das Land lange Zeit nur bei Nacht ertrug, kontrastiert Kummer das Klischee vom «Erfolgsmodell Schweiz» mit einer an den Magischen Realismus gemahnenden Gegenlandschaft, überführt die eindeutig lokalisierbare Topografie in eine halluzinatorisch-düstere Version ihrer selbst: Die Dörfer und grossen Städte sind verlassen, Hochhäuser stehen «wie Grabstelen», die Strassen sind von blutigen Tierkadavern gesäumt und am Himmel kreisen Drohnen und Kampfjets der Schweizer Luftwaffe. Im Blick durch die Scheibe der Limousine wird die nächtliche Landschaft zum zeichenhaften Raum, der im Roman von einem nigerianischen Passagier ausgedeutet wird. Er enthüllt dabei eine «von Optimierungswahn und Weltuntergangs-Paranoia» zerstörte Gesellschaft, welche sich, da sie nun alles hat, was es zu erreichen und erstehen gibt, in masochistischen Untergangsszenarien ergeht: «Junge Eltern in Zürich wollen heute keine Kinder mehr. Weil sie denken, unsere Welt wird es nicht mehr lange geben. Stellen sie sich das vor. Sie haben alles, aber sie wollen keine Kinder mehr. Weil sie schon jetzt an den Weltuntergang denken.» Somit verpasst Heimkehrer Kummer den noiresken Schweizbildern, die in den vergangenen Jahren an Beliebtheit gewonnen haben – zu denken wäre beispielsweise an Michael Fehrs Simeliberg oder Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und Schatten  – einen aussagekräftigen Dreh: Dystopie nicht als Diagnose, sondern Symptom einer wohlstandsmüden Gesellschaft.

Morgenröte

Was braucht es nun, damit der verfluchte Fährmann, «Mr Driver», der permanenten Dunkelheit entfliehen kann? Ähnlich wie Schnitzlers Traumnovelle, an deren Ende der neue Tag von einem «hellen Kinderlachen» eingeläutet wird, sind es hier die beiden Söhne, die Tom am Ende des Romans ins Tageslicht zurückziehen. Im morgendlichen Vogelgezwitscher ist die Stimme der Zurückgelassenen nunmehr «leise, fern, fast nicht hörbar». Jetzt bloss nicht umdrehen! Diese im süsslichen Licht der Morgenröte getünchten Textstellen sind es wohl, die Kummer beim Bachmann-Preis die Kritik des übermässigen «Pathos» einbrachten. Mit Sicht auf die Gesamtlage und den autobiographischen Hintergrund des Romans wirkt die etwas zu einfach geratene Wende jedoch nachvollziehbarer und irgendwie auch befriedigender – etwas, das sich wohl auch Kummers Verlag gedacht haben dürfte. Was also die Figur Tom Kummer erfährt, wünscht man auch ihrem Schöpfer: Aus der eigenartigen Zwischenwelt auszutreten, um sich in neuem Licht zu präsentieren. Wenn es auch zuweilen etwas unheimlich anmutet, wie Kummer die Grenze zu seinem fiktiven Doppelgänger verwischt, so ist ihm das mit Von schlechten Eltern gelungen. In einer Bildervielfalt, die mit wenigen Worten auskommt, gestaltet er eine Ausleuchtung der Dunkelheit, wie sie nur einem Autor von grossem Feingefühl gelingen kann.

Der gefallene Engel «Bad Boy Kummer» auf dem Weg in den Literaturhimmel? Hell yeah! Bleibt lediglich zu hoffen, dass ihm dabei das Raue, Ungeschliffene nicht abhanden kommt. Es würde der Schweizer Literaturszene gut tun.

Tom Kummer: Von schlechten Eltern. 245 Seiten. Stuttgart: Tropen 2020, ca. 34 Franken.

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