KW32

Sechzig Seiten Offenheit

Charles Lewinsky

Annemarie Schwarzenbach bleibt auch hundert Jahre nach den letzten Goldenen Zwanzigern aktuell. Das beweist die Neuauflage von «Eine Frau zu sehen».

Von Oliver Camenzind
3. August 2020

Die Schweizer Autorin und Journalistin Annemarie Schwarzenbach war erst 34 Jahre alt, als sie 1942 in Sils Maria an den Folgen eines Fahrradunfalls starb. Dennoch hat sie in ihrem kurzen Leben ein Werk geschaffen, das bis heute nichts von seiner Anziehungskraft eingebüsst hat. Ein Konvolut von 5000 Fotografien ist erhalten, dazu unzählige Briefe, Reportagen und Reiseberichte, einige Erzählungen, zwei Romane und schliesslich viele weitere Prosastücke, allesamt in Schwarzenbachs charakteristischem, nachdenklich-schwärmerischem Ton gehalten.

Alle Weltenwinkel lockten die Tochter einer Zürcher Industriellenfamilie gleichermassen – solange sie nur weit von der Enge der Heimat entfernt waren. Fast überall scheint sie gewesen zu sein. Freilich ohne, dass ihre Sehnsüchte je irgendwo befriedigt worden wären. So lesen wir, was sie in der damaligen belgischen Kolonie Kongo, in New York und Afghanistan, aber auch im Engadin, ihrer liebsten Gegend der Schweiz, beobachtet und erlebt hat, was sie umgetrieben und gequält hat, und staunen darüber, wie getrieben diese Frau war, die sich vor jedem Kummer in die Arbeit flüchtete.

Neben ihrem rastlosen Weltschmerz fasziniert an Schwarzenbach aber auch ihre Modernität. Ende der dreissiger Jahre, als Europa kurz vor dem Zweiten Weltkrieg stand, erwarb die Zürcherin einen Ford Roadster und fuhr nach Kabul. Natürlich reiste sie unverschleiert, was bei ihrem Eintreffen in der afghanischen Hauptstadt eine ziemliche Sensation gewesen sein muss. Auf dem Beifahrersitz sass eine Schriftstellerkollegin, Ella Maillard aus Genf, die es in jüngeren Jahren als Seglerin bis an die Olympischen Spiele gebracht hatte.

Zur Autorin

Annemarie Schwarzenbach (1908-1942), geboren in Zürich, absolvierte ein Studium der Geschichte in Zürich und Paris. 1931 promovierte sie zur Geschichte des Oberengadins im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit. Noch im selben Jahr veröffentlichte Schwarzenbach ihren ersten Roman «Freunde um Bernhard». Neben ihrem literarischen Prosawerk war sie als Jouranlistin und Fotoreporterin tätig. Bekanntheit erlangte sie insbesondere für ihre Reisereportagen über die USA, Europa, Asien oder den Belgisch-Kongo. Schwarzenbachs Arbeiten wurden erst Ende der Achtzigerjahre wiederentdeckt, seither gilt sie als queere Ikone und erlangte internationale Anerkennung für ihr progressives Schaffen.

Doch als die zwei Abenteuerinnen aus Europa das Ziel ihrer Reise erreichen, verkrachen sie sich. Maillard fährt daraufhin im Schiff weiter nach Indien, Schwarzenbach kommt über Umwege in die Vereinigten Staaten. Mit Carson McCullers, der Autorin von The Heart is a Lonely Hunter, verbringt sie einige Zeit in New York, danach bereist sie den Süden des Landes.

Hier die unverstandene Melancholikerin, dort die selbstbestimmte Kosmopolitin mit dem französischen Diplomatenpass in der Tasche – beide Gesichter zeigt Annemarie Schwarzenbach auch in Eine Frau zu sehen. Das Prosafragment wurde anlässlich ihres hundertsten Geburtstags 2008 erstmals aus dem Nachlass veröffentlicht, nun als kompaktes Taschenbuch neu aufgelegt und um 10 Frauenporträts erweitert. Auf nur etwas mehr als 60 Seiten verdichtet es viele Aspekte von Schwarzenbachs Schaffen: homosexuelle Neigungen ebenso wie die damit verbundene Angst, nicht in die sogenannte gute Gesellschaft zu passen, das Bedürfnis nach Liebe ebenso wie der Wunsch, unabhängig zu leben.

In Eine Frau zu sehen berichtet die junge Ich-Erzählerin, wie sie sich im mondänen Kurort M. Hals über Kopf in eine Frau namens Ena Bernstein verliebt. Die Begierde ist dabei mindestens so gross wie die Furcht, dass die offenbar deutlich ältere Bernstein die heftigen Gefühle der nicht einmal Zwanzigjährigen unerwidert lassen könnte. So ist die Erzählerin innerlich zwischen bedingungsloser Liebe und lähmender Unsicherheit hin- und hergerissen. Nach aussen hin darf von diesem Leiden allerdings niemand wissen: Ein öffentliches Techtelmechtel zwischen zwei Frauen würde sich schnell in der ganzen High Society herumsprechen und für unerträglichen Klatsch sorgen.

Der Text selbst ist allerdings frei von jeder Geheimniskrämerei: Im Unterschied etwa zu Freunde um Bernhard oder der Lyrischen Novelle werden homoerotische Szenen unverschlüsselt und unverkrampft dargestellt, die Erzählung kommt dadurch nicht nur moderner, sondern auch authentischer daher als manch andere von Schwarzenbachs Schriften, die zwangsläufig voller Andeutungen und versteckter Hinweise sind. Hier aber braucht die Hauptfigur sich nicht wie sonst als Mann auszugeben, sie kann sich offen zu ihrer Weiblichkeit bekennen.

So besehen, ist «Eine Frau zu sehen» also nicht nur die Geschichte einer Liebschaft, sondern auch der Bericht einer jungen Frau, die sich ihrer Neigungen zum ersten Mal bewusst wird und die erkennt, dass sie sich dafür weder zu schämen noch zu verstecken braucht. An einer Schlüsselstelle im Text steht die Erzählerin vor dem Spiegel und berichtet: «Dann tritt mir mein Bild entgegen, das Bild eines jungen, eines ganz jungen Menschen, ich stütze die Hände gegen das Glas und betrachte es, mir ist, als gewänne ich dieses blasse und von heimlichem Fieber bebende Gesicht lieb, als hätte ich es vordem nicht so gut gekannt […]»

Aus dieser Selbsterkenntnis schöpft die Protagonistin Mut, und schon im Winter darauf liegen die beiden Frauen sich in den Armen. Eine Frau zu sehen ist aber auch das erstaunliche Zeugnis der 21-jährigen Autorin Annemarie Schwarzenbach, die nach zwei Auslandssemestern in Paris wieder an die Uni Zürich zurückkehrt und sich über sich selbst klarer wird. Dass Alexis Schwarzenbach, Annemaries Grossneffe, das Manuskript dieses Textes 2007 im Nachlass der Schriftstellerin entdeckt und die Mühe einer Edition auf sich genommen hat, ist also in jeder Hinsicht ein Glücksfall. Denn «Eine Frau zu sehen» bietet nicht nur gute Gelegenheit, die Autorin neu zu entdecken. Es ist auch einer der Gründe, warum Annemarie Schwarzenbach uns so schnell noch nicht loslassen wird.

Annemarie Schwarzenbach: Eine Frau zu sehen. 80 Seiten. Zürich: Kein & Aber 2020, ca. 14 Franken.