KW17

Ohne Orientierung

Lukas Gloors Debütroman «Timbuktu» berichtet von Vorübergehendem, von der Sehnsucht nach und dem Leben in Fremde.

Von Lorenzo Liem
25. April 2024

Timbuktu – das meint im Debütroman Lukas Gloors nicht etwa die Oasenstadt in Mali, sondern eine Wohnsiedlung am Fusse eines Atomkraftwerks im schweizerischen Mittelland. Das Timbuktu der Schweiz ist eine Sammelstelle für alle möglichen Arten von Aussteigern und Verlassenen – von verschupften, von Verfolgungswahn geplagten Künstlern bis hin zu radikal im Kollektiv denkenden Studierenden und anderen Verlorenen.

Gefangen in der Atmosphäre

Neu in die Siedlung gezogen ist Max, für welchen Timbuktu eine günstige Übergangslösung unklarer Dauer darstellt. Seine Miete entrichtet er in Form eines Berichts, dessen scheinbar einzige Bestimmung jedoch darin besteht, ins Kellerarchiv verbracht zu werden – so die Vereinbarung mit Karla, der Verwalterin und Erbin des ehemaligen Fabrikkomplexes. Seine Zeit in Timbuktu verbringt Max zigarettenrauchend, in belanglosen Gesprächen mit den unzugänglichen Siedlungsgenossen und mit dem Erkunden der unwegsamen Gegend. «Der Bericht. – Ja? – Mir fehlt jede Orientierung.»

Während der Mikrokosmos Timbuktu auf den ersten anderthalb Seiten des Romans als literarisch präzise gezeichneter Grundriss dargelegt wird, tritt die düstere und leicht unheimliche Stimmung dieser Welt im Verlauf der Erzählung immer deutlicher hervor. Gloors klare, bildhafte Sprache bringt die Szenerie mit Leichtigkeit vors innere Auge, wird eins mit ihr: «Dem Kühlturm entsteigen Wolken in den Himmel, sie drehen sich in die Höhe, wachsen, reissen aus, vermengen sich mit den übrigen, verblassen, lösen sich auf, ziehen weiter.» So hat der Roman vor allem eines zu bieten: Atmosphäre.

Zum Autor

Lukas Gloor, geboren 1985 bei Baden, lebt heute in Olten. Er studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie in Basel und Berlin und promovierte 2019 mit einer Arbeit zu Robert Walser. Gloor ist Mitherausgeber des Literaturmagazins »Das Narr« und Leiter des Robert Walser-Archivs. 2023 veröffentlichte er sein Romandebüt «Timbuktu».

Die stets wiederkehrenden Umweltschilderungen sorgen jedoch auch für Redundanz, zumal die Handlungsebene stillgestellt ist. Wo Max herkommt und wo er später hinwill, bleibt bis zum Ende des Romans schleierhaft, ebenso wie das, was sich in seinem Kopf abspielt – abgesehen vom einen oder anderen Traum über den im Sterben liegenden Grossvater. Konsequenterweise erlebt der Leser Timbuktu im Schulterblick, über den Zeitraum eines etwas unangenehm langen Sommers bis zur Rückkehr der Hauptmieter.

So lässt sich auch aus Max’ Gesprächen mit den Bewohnern Timbuktus wenig gewinnen. «Nichts ist geschehen. – Hast du dir etwas erhofft? – Vermutlich». Die grösstenteils sehr kargen Wortwechsel bleiben folgenlos und dienen in erster Linie dazu, die Fremde und die Unzugänglichkeit des Habitats zu unterstreichen. An Unterhaltung fehlt es.

Das AKW der Seele

Abgesehen vom kurzzeitigen Ausbleiben des sonst so omnipräsenten Dampfens des Kühlturms, mit dem das rätselhafte Verschwinden eines Grossteils der Bewohner von Timbuktu in Verbindung zu stehen scheint, geschieht nichts, was beim Lesen so etwas wie Spannung erzeugen würde. Obwohl die Traumsequenzen wie auch die teilweise ans Surreale grenzenden Episoden interessante Settings hervorbringen, führen sie – wie die Dampfpause des AKWs – zu nichts. Und da auch auf eine Psychologisierung durchgängig verzichtet wird, treiben das rätselhafte Geschehen und die unheilvolle Stimmung am Ende etwas belanglos davon.

Womöglich lässt sich Timbuktu am ehesten parabolisch lesen: Wie im AKW, in dessen Schatten man hier lebt, laufen im Protagonisten stille Reaktionen ab, die sich dem äusseren Betrachter nur als ein sich langsam im Äther auflösender Dunst offenbaren, sei es nun Kühlturmdampf oder Zigarettenrauch. Das mag man als poetologische Finte würdigen, gleichwohl gelingt es Lukas Gloor in seinem Debüt nicht, die Atmosphäre erzählerisch so zu verdichten, dass sie über die Strecke eines Romans trägt. So steht man am Ende vor einem Bericht, der seinem Verfasser zwar das Wohnrecht unter den Literaten sichert. Aber abgeschlossen ist er noch nicht, oder?

Lukas Gloor: Timbuktu. 188 Seiten. Biel: verlag die brotsuppe 2023. ca. 31 CHF

Zum Verlag