KW15

In memoriam Shantala Hummler (1987-2024)

Von Philipp Theisohn und Christoph Steier
14. April 2024

Es fällt schwer, diesen Text zu beginnen. Wir hätten ihn niemals schreiben wollen. Es ist noch kein Vierteljahr her, dass wir drei uns an einen Buchjahr-Ausblick wagten. Wie so oft war es Shantalas sanfte Ermahnung, das Soziale, den Austausch nicht schleifen zu lassen, die uns an den Tisch brachte. Wo wir Erwartungen formulierten, Themenpläne fassten, uns austauschten und hochnahmen. Nichts ahnten wir damals davon, dass Shantala die Zukunft, von der wir sprachen, nicht mehr erleben würde.

Spurensuche. Juli 2018: Auf der Dachterrasse des Deutschen Seminars sitzen an einem Holztisch Gianna Molinari und Shantala. Die spätere Buchjahr-Redaktorin und Lehrstuhlmitarbeiterin war damals noch Studentin, war uns im Literaturkritik-Seminar gleich als besonders begabte und interessierte Leserin aufgefallen. Es ist windig, die Hälfte der Fotos ist unbrauchbar, weil Shantalas Haar immer wieder ihr Gesicht verdeckt. Auf einigen wenigen sieht man es aber doch. Kritischer Blick, strenge Notate. Shantala möchte ihrem Gegenüber nicht gefallen, sondern es verstehen. Ernst nehmen. Das schafft, noch vor jeder Übung und Routine, jene Verbundenheit zwischen ihr und ihren Gesprächspartnerinnen und -partnern, die sich über die kommenden Jahre immer und immer wieder neu ergeben wird. Wo immer das Gespräch auf Shantala kommt, werden sich in der Zukunft, die hier ihren literaturbetrieblichen Ausgang nimmt, die Mienen sofort aufhellen. Wo. Immer. Wer den Laden kennt, mag ermessen, was das bedeutet. Nettsein ist billig, wichtiger ist Zuhören, Abgrenzung, Standpunkt. Dann zählt auch das Lob, dann kann man auch Freundin, auch gute Freundin werden. Irgendwann.

Vor allem anderen aber kommt die Theorie. Shantala ist eine Leserin, die nicht Listen ab-, sondern Perspektiven erarbeiten will. Kulturelles Kapital ist ihr lästig, angenehm egal. Sie zwingt uns auf den Punkt. Wir sprechen viel. Nietzsche, Bataille, Spivak, Psychoanalyse; Kathy Acker, Feminismus, Punk. Die 80er faszinieren sie und wir versuchen ihr so lange wie möglich zu suggerieren, wir wären dabei gewesen. Frisbee haben wir immerhin gespielt. Ihre Masterarbeit schreibt Shantala zu Jelineks «bukolit». Von da an bleibt ihr Denken auf die Avantgarden der BRD gerichtet, auf postfaschistische Ästhetik, auf Literatur und Gewalt. Sie erkundet «Pornologien», organisiert und moderiert eine Gesprächsreihe zum Thema; sie entdeckt Verena Stefan nochmals neu für sich und rückt sie auch in den literaturwissenschaftlichen Vordergrund.

Sie liest und denkt und fragt, ihre Augen leuchten dabei. Wenn man mit ihr zusammensitzt, sind sowohl die Rangeleien der Akademie als auch die Spiegelfechtereien des Betriebs weit weg. Zumindest mag es uns so scheinen. Dass Fristen und Benchmarks, Nichtigkeiten und Gepluster je nachdem, wo im Feld man sich gerade befindet, ganz unterschiedlich lange Schatten werfen, drängen wir an den Rand. Der Preis sind unbeschwerte, teils auch schwindelige Stunden. Der Preis ist Verdrängtes. Wir scheinen uns darüber einig, im Klaren zu sein. Spotten unserer Fesseln, aber sind wir auch frei, gleichermassen? Wir werden darüber über die Bücher zu gehen haben und können nur hoffen, dass es für alle von uns ein lohnendes Miteinander gewesen ist.

Zumindest in dem, was uns bleibt, sieht es ganz danach aus. Steht doch dem Lesen, Reden, Denken mit unserer gemeinsamen Arbeit am Schweizer Buchjahr eine kontinuierliche Praxis zur Seite. Aus dem Mitschnitt eines Gesprächs, das wir im März 2019 mit Corinna T. Sievers über ihren Roman «Vor der Flut» geführt haben, hören wir jetzt ihre Stimme. Shantala liest den Text anders als seine Verfasserin, bringt diese dadurch aber Stück für Stück zur Relektüre. Man lernt viel beim Zuhören, das Gespräch gerät zur echten Debatte über Ichverlust, Sexualität und Todestrieb. Da finden sich gerade zwei über der Literatur und es verwundert nicht, dass sie auch über diesen Dialog hinaus einander verbunden bleiben und ihn fortsetzen.

Die Bilder verlassen uns nicht. Und sie machen die Runde. Aufgedrängt hat sie sich nie, doch oder genau deshalb wird Shantala schnell zur gefragten Gesprächspartnerin. Moderationen und Interviews werden ein bedeutsamer, ein bleibender Teil ihrer Arbeit. Shantala mit Simon Reynolds in der Photobastei, Shantala mit Yael Inokai in Solothurn, Shantala mit Dorothee Elmiger in Zürich, Shantala mit Sarah Elena Müller, mit Simone Meier, mit Kim de l’Horizon, mit Marlene Streeruwitz, Michael Köhlmeier, Theresia Enzensberger. Auf der Bühne zugewandt, präzise, bisweilen viel distanzierter, als man sie sonst kennt. Wir kennen sie sonst, hoffen wir, doch gut.

Wir arbeiten nicht nur zusammen, wir haben auch viel Spass zusammen. Wir sind unendlich froh und dankbar, Shantala am Lehrstuhl und vor allem auch im Buchjahr-Team zu haben. Denn es ist doch einiges an Textmasse, das durch die Jahre zu wuchten ist, und auch die muss erst einmal eingebracht werden. Viel Zeit in der Kammer, viel Koordination, viel Ungesehenes, Unbedanktes auch hinter der Bühne. Mit wem hätten wir das lieber geschultert als mit ihr? Shantala hat den richtigen Sarkasmus, guten Humor, die nötige Strenge. Und kluge Fragen. Sie kann sich über die richtigen Sachen ärgern und für vieles begeistern. Sie kann über sich lachen und über uns allemal. Wir haben sie furchtbar gern.

Es entgeht uns nicht, dass auch anderes in ihr arbeitet. Dass sie schwere Stunden, Tage durchlebt, in denen sie sich zurückzieht oder in denen sie sich aussprechen will, auch bei uns. Und manchmal gelingt es, sicherlich nicht immer. Sie will keine Rücksicht und fordert sie auch nicht von uns ein. Wir wissen um manches und haben doch von vielem keine Ahnung. Wir setzen Zuversicht in ihre Freundinnen und Freunde, da scheint es, weit über die Überschneidungen mit unserem Berufsalltag hinaus, ein grossartiges Netzwerk zu geben. Sind wir im kleinen Kreis ratlos, bietet die aus den 80ern rübergerettete Grundalbernheit, die wir unter uns dreien pflegen, oft Abhilfe. Aber sie löst natürlich nichts. Auch darüber werden wir nachzudenken haben und können nur hoffen, dass wir, wo schon hilflos, Shantala nicht allzu lose Vögel gewesen sind.

In den letzten fünf Jahren hat Shantala Hummler im Alleingang die Redaktion des Buchjahrs besorgt. Das klingt wie ein Satz aus einem Referenzschreiben, und wir wissen, dass Shantala uns für ihn hassen würde. Er sagt nichts über das, was wir eigentlich mit ihr hier erlebt haben, sagt nichts über die Begegnungen und Begebenheiten dieser Zeit, über Krise und Freude, über unser gemeinsames Denken. Er sagt nichts, überhaupt nichts über das, was sie uns war.

Vor einer Woche hat sich Shantala dazu entschlossen, ihr Leben zu beenden. Wir müssen ihre Entscheidung respektieren, auch wenn sie uns das Herz bricht. Sie fehlt uns. Schrecklich. All ihren Freundinnen und Freunden, ihren Weggefährtinnen und Weggefährten, allen Menschen, die nun ohne Shantala auskommen müssen und sich das genauso wenig vorstellen können und wollen wie wir, wünschen wir, dass sie in ihrer Trauer nicht allein sind. Wir freuen uns, wenn ihr eure Erinnerungen untereinander teilen könnt. Vor allem aber wünschen wir allen Zeit und Ruhe, diesen furchtbaren Verlust als das zu erkennen, was er ist.

Untröstlich,

Philipp Theisohn und Christoph Steier

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